# taz.de -- Ian Waelder-Ausstellung in Hannover: Nasen der Erinnerung
> Nasenförmige Meisenknödel und zerfallene Vaterporträts: In Hannover
> verbindet Ian Waelder Innen und Außen der Kestner-Gesellschaft zu einer
> Erzählung.
IMG Bild: Vorbild war das Organ des Vaters: Die Nase an der Fassade besteht unter anderem aus Vogelfutter und wird allmählich abgeknabbert
Was hängt da derzeit bloß an der Glasfassade [1][der Hannoverschen
Kestner-Gesellschaft]? Zu ihrem Außenauftritt gehört seit jeher eine
Fassadenarbeit, die weit über den Goseriedeplatz ausstrahlt. Früher ein
simples Werbebanner, wurden daraus unter der Direktion von Adam Budak, von
Ende 2020 bis 2024, zyklisch erneuerte Neon-Schriftzüge wechselnder
Künstler:innen. Die lasen sich mitunter wie Kommentare zur inneren
Verfasstheit des Hauses.
Die neue Intervention entpuppt sich beim Nähertreten als asymmetrisch
gesetzte Gruppe aus acht überlebensgroßen Nasen, aus einer beigegrauen
Masse geformt. Sie stammen von [2][Ian Waelder], 1993 in Madrid geboren und
seit seinem 2023 absolvierten Kunststudium an der Frankfurter Städel-Schule
dort sowie auf Mallorca und in Basel lebend.
Diesem jungen Künstler richtet die Kestner-Gesellschaft derzeit eine
Einzelpräsentation aus, die besagte Fassade, den Lichtgraben zwischen Erd-
und Obergeschoss und den zentralen Raum im Parterre umspannt. Waelder
operiert mit ungewöhnlichen Materialien und jeder Menge thematischer
Bezüge, auch ins Familiäre. Der Titel „thereafter“ – danach – will das
Weiterwirken von Überresten, Gesten und Spuren ansprechen. Es geht Waelder
um ein offenes Erinnern an Personen, Geschehnisse oder Institutionen,
dargestellt durch provozierte Alterungsprozesse und organische
Veränderungen.
Die acht Nasen auf der Fassade sind der Physiognomie seines Vaters
nachgebildet. Er stand Modell für eine gut 30 Zentimeter große Gussform aus
Ton. Mit ihr wurden anschließend Nasen aus Papiermaché geformt, die mit
einer Paste aus Fett, Futterkörnern und einem pflanzlichen Geliermittel
überzogen wurden. Es sind also in ihrer Form etwas außergewöhnliche
Meisenknödel, die nun im Außenraum darauf warten, von Vögeln oder der
Witterung langsam bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst zu werden.
## Gedämpfte Stimmung
Referenz ist der aus Hannover gebürtige Schweizer [3][Künstler Dieter Roth]
(1930–1998), der mit Lebensmitteln und ihren Verrottungs- oder
Verschimmelungsprozessen arbeitete. Er kreierte 1969 das „Multiple
P.O.TH.A.A.VFB“ („Portrait of the Artist als Vogelfutterbüste“), ein
Selbstporträt aus Schokolade und allerlei Körnern. In einem Exemplar
demonstrativ der Zersetzung im Außenraum überlassen, haben die restlichen,
gut konserviert, in Museumsinventaren überdauert. Roth persiflierte damit
das Selbsterhöhungspathos und den Ewigkeitsanspruch klassischer Büsten aus
Marmor oder Bronze.
Ian Waelder liegt solch Selbstironie eher fern. Die sogenannte
Claussenhalle im Erdgeschoss hat er bis auf einen kleinen Einschlupf auf
der Rückseite verschlossen. Tritt man ein, stößt man frontal auf eine lange
Wand – aus dünner, brauner Pappe. Auch der Boden ist mit dem Material
ausgelegt, die Füße treten in etwas Weiches, Schützendes, hinterlassen kaum
merkbare Eindrücke.
Die Stimmung ist spürbar gedämpft, in dieser zudem spärlich ausgeleuchteten
Raumschicht ertönen vereinzelte Geräusche: ein Tropfen, ein Knacken, und
immer wieder Fetzen einer Klaviermelodie. Folgt man der braunen Wand in
ihrer mäandernder Abwicklung, begegnen einem rätselhafte Objekte:
Schuhleisten oder die massiven Vorderteile von Schuhspannern, mit
Schnürsenkeln versehen, ragen aus der braunen Kartonage heraus. Sie sind
„Bystander“, Stellvertreter, für etwas abwesend Anwesendes, in diesem Falle
wieder Waelder senior, der einst in einem Schuhgeschäft arbeitete.
## Palmen, Kakteen und Wasser
In dem Objekt „Sprain (38)“ zu Deutsch: „Verstauchung (38)“, entwächst dem
Leisten dann eine (väterliche) Nase aus Porzellan. Die Klaviertöne
repräsentieren übrigens den Großvater und eine leere Stützkonstruktion soll
an den Juden Justus Bier erinnern: bis 1936 von der Kestner-Gesellschaft im
Amt gehaltener und anschließend auf seinem Weg ins Exil unterstützter
Direktor ihrer Institution.
Im Herzen des Papplabyrinths erhellt eine Lichtdecke den Raum. Auf ihr
liegen Zeitungsblätter, die mit Tee- und Fettflecken oder Haferflocken zu
Organismen wurden, Membranen zwischen unterschiedlichen Sphären des
Öffentlichen. Die Presseauswahl zeigt Artikel zu Kindern, „Elterngeld“ ist
etwa zu lesen. Dazwischen liegen verblasste Blätter, die einen rennenden
Jungen zeigen. Ihn sieht man in mehreren Bewegungsetappen auf einem fast
sechs Meter langen gedruckten Triptychon im Lichtgraben wieder. Allerdings
ist die motivische Erkennbarkeit durch weitere Bearbeitungen auf eine sehr
zarte, verblasste Erinnerung reduziert.
Als vitalen Kontrast lässt Trevor Yeung aus China in den zwei
Obergeschossräumen [4][eine exotische Welt aus Palmen, Kakteen und einem
künstlichen Wasserkreislauf] entstehen.
Im Erdgeschoss fragt die [5][Thailänderin Som Supaparinya] in ihren Videos,
ob eine nationale Regierung das Recht hat, Flüsse und ihr Wasser
auszubeuten und so Umweltzerstörungen großen Umfangs heraufzubeschwören.
Und die Präsentation der Institutionsgeschichte wird fortgesetzt, nun in
einem Ambiente von Assaf Kimmel.
12 Oct 2025
## LINKS
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DIR [4] https://kestnergesellschaft.de/de/ausstellung/104
DIR [5] https://kestnergesellschaft.de/de/ausstellung/102
## AUTOREN
DIR Bettina Maria Brosowsky
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