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       # taz.de -- Linke vor NRW-Kommunalwahlen: Eine Partei zwischen Euphorie und Enttäuschung
       
       > Die Linkspartei ist auch in Nordrhein-Westfalen im Aufwind. Bochum soll
       > eine Hochburg werden. Bisher folgten aber auf Höhenflüge regelmäßig
       > Abstürze.
       
   IMG Bild: Wahlkampf der Linke in Nordrhein-Westfalen: „Vielen Leuten geht es einfach scheiße.“
       
       Bochum taz | Als die Union zusammen mit der AfD Ende Januar im Bundestag
       für ein Anti-Migrationsgesetz die Hand hob, radelte Batıkağan Pulat durch
       Bochum. Der Studienrat hörte auf seinem Kopfhörer [1][einen Song des
       Rappers Apsilon]. „Deutschland, ja, Du kannst uns abschieben / Deine
       Rentner sammeln trotzdem Pfandflaschen aus den Tonnen“.
       
       Pulats Großvater war als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen und hatte
       als Bergmann gearbeitet, sein Vater auch. Batıkağan ist der erste
       Akademiker in der Familie. Am 29. Januar, als Merz die Brandmauer zur AfD
       ramponierte, fasste Pulat einen Entschluss. Er trat aus der SPD aus und in
       die Linkspartei ein.
       
       Am Sonntagmittag steht er auf der Schmechtingswiese in der Bochumer Mitte,
       einem weiträumigen Park neben dem Bergbaumuseum. Auf seiner rosa
       Baseballcap steht: „Eat the rich.“ Im Hintergrund ragt der grüne Förderturm
       des Bergbaumuseums 60 Meter in den blauen Himmel. Der ist nicht echt, sagt
       er. Der Turm stand einst in einer Zeche in Dortmund. Bergbau ist im
       Ruhrgebiet schon lange museal.
       
       Die Bochumer Linkspartei macht auf der Schmechtingswiese ein Sommerfest:
       mit Hüpfburg, einem freundlichen Singer-Songwriter, einer Kugel Eis gratis
       für Kinder. Die Stimmung ist locker, die Ansprachen erfreulich kurz.
       Parteichef Jan van Aken hat sein „Tax the rich“-T-Shirt vergessen und wirbt
       um so entschlossener für die Enteignung von Wohnungskonzernen.
       
       ## Die Kommunalwahl in NRW ist ein Test
       
       [2][Es reist gerade viel Berliner Parteiprominenz nach Westen]. Der Star
       der Linken, Heidi Reichinnek, füllt Marktplätze zwischen Ostwestfalen-Lippe
       und Düsseldorf. Die Kommunalwahl in NRW ist für die Linkspartei ein Test,
       ob ihr Erfolg bei der Bundestagswahl mehr als ein One-Hit-Wonder war.
       
       Sie ist auch ein Test, ob die Integration der neuen GenossInnen gelingt.
       Vor neun Monaten hatte die Partei in NRW 8.000 Mitglieder, jetzt sind es
       fast dreimal so viele, 22.000. Viele Jüngere, viele Frauen.
       
       So wie Aleyna Karakurt. Die Soziologin, Mitte 20, ist seit gut einem Jahr
       in der Partei. In Bochum gibt es, sagt sie, rund um die Uni „eine aktive
       Antifa und freie Kulturszene“. Und die habe jetzt bei der Linkspartei
       angedockt, viele mit migrantischem Background.
       
       Maria T., Mitte 30, Künstlerin, kümmert sich um den Haustürwahlkampf.
       Mieten plus Haustüren – bei der Bundestagswahl war das ein Zaubermittel.
       Bei der Kommunalwahl macht man es in Bochum genau so. Beim Haustürwahlkampf
       gehe man „raus aus der Bubble“, so Maria T. Nur so könne man die
       „Social-Media-Polarisierung durchbrechen“. Viele seien überrascht, dass
       „wir Linke gar nicht so schlimm sind“. Vor allem erfahre man an den
       Haustüren: „Vielen Leuten geht es einfach scheiße.“
       
       ## Ansturm auf das einst sinkende Schiff
       
       In Wattenscheid, im verarmten Norden, verteilt die Partei mit einem
       Foodtruck kostenlos Mittagessen. Auch an MigrantInnen, die nicht wählen
       dürfen. Aleyna Karakurt glaubt, dass die Partei beides machen muss:
       Feelgood-Sommerfeste in der netten rot-grünen Innenstadt und im abgehängten
       Norden präsent sein. Eine Genossin findet gendern wichtig, eine andere
       Klassenpolitik in Wattenscheid. In der Linkspartei zog „Klasse versus
       Wokeness“ früher einen kilometertiefen ideologischen Graben. Dort auf dem
       sonnigen Sommerfest scheint beides friedlich zu koexistieren.
       
       [3][Cansin Köktürk, linke Bundestagsabgeordnete aus Bochum,] ist auch
       gekommen. Sie trägt eine Melonen-Klammer im Haar, Zeichen der Solidarität
       mit Gaza. „Bochum ist die schönste Stadt der Welt“, sagt sie fröhlich. Und
       Bochum könne „eine linke Hochburg werden“. Kühne Sätze – es gibt gerade
       viel Energie und Euphorie bei der Linkspartei in NRW.
       
       Warum, das versteht man, wenn man Bernhard Koolen trifft. Koolen ist
       Rentner, einer der wenigen alten weißen Männer. Er war früher Rektor eines
       Gymnasiums in Dortmund und redet viel, schnell, energisch. Im letzten Jahr
       kamen zum linken Sommerfest 30 Leute. Es fand in der Praxis eines
       Physiotherapeuten statt, sagt er. Die Bochumer Linke war nach der
       Abspaltung des BSW geschrumpft. Die Fraktion im Stadtrat hatte sich
       faktisch aufgelöst. „Die alte Linkspartei ist untergegangen“, sagt Koolen.
       Umso verblüffter war er, [4][als nach der verlorenen Europawahl im Sommer
       2024 junge Leute kamen.] „Wer geht denn auf ein sinkendes Schiff?“ Jetzt
       gibt es in Bochum fast 1.000 GenossInnen.
       
       ## Trainingscamp NRW
       
       Die Kommunalwahlen in NRW sind für die Neu-GenossInnen auch ein
       Trainingscamp in Sachen Politik. Rund 3.000 kandidieren zwischen Aachen und
       Paderborn für Stadträte und Bezirksvertretungen, Kreistage und
       Gemeindevertretungen. Die Partei bietet Schulungen in Kommunalpolitik an:
       Wie gründet man eine Fraktion? Wie liest man einen Haushaltsplan?
       
       Kathrin Vogler (61) ist seit 2022 Co-Chefin der Linkspartei in NRW. Sie
       warnt: „Der Erfolg wird kein Selbstläufer“, sagt sie. Weil es bei
       Kommunalwahlen keine Fünf-Prozent-Hürde gibt, werden manche, die im Bund
       Linke wählten, am 14. September bei lokalen Wählergruppen, Volt oder „Die
       Partei“ ihr Kreuz machen. „Ein Erfolg wäre, wenn wir überall, wo wir
       antreten, reinkommen. Auch in den Dörfern“, so Vogler zur taz. „Wir dürfen
       nicht größenwahnsinnig werden.“ Bloß nicht zu viel erwarten, dann ist der
       Frust umso größer.
       
       ## Die Gretchenfrage
       
       Der Realitätscheck in Bochum kommt nach der Wahl. Wenn die Linkspartei wie
       bei der Bundestagswahl in der Ruhrgebietsstadt zwölf Prozent bekommt, hat
       Rot-Grün im Stadtrat wohl keine Mehrheit mehr. Und dann? Mit Rot-Grün
       regieren?
       
       Die linke OB-Kandidatin Wiebke Köllner (29) sagt: „Wir sind lieber
       Opposition.“ Aber, so die Altenpflegerin, es sei alles offen. Die Linke
       will, dass die Gewinne der Bochumer Wohnungsbaugesellschaft nicht mehr in
       den städtischen Haushalt fließen, sondern genutzt werden, um Häuser zu
       dämmen und Wohnungen zu renovieren. Wohnen, Bildung, Bürgerbeteiligung –
       das sind die Kernforderungen. Sie klingen eher nach Sozialdemokratie als
       nach Weltrevolution.
       
       Andererseits hat Bochum, wenn man die städtischen Beteiligungen
       dazurechnet, 4,5 Milliarden Euro Schulden. Der gemeinsame OB-Kandidat von
       SPD und Grünen, Jörg Lukat, war bis vor Kurzem Polizeipräsident in Bochum.
       Mit einem Polizeipräsidenten einen Sparkurs zu verwalten, ist für junge
       energiegeladene Neu-Linke keine ad hoc faszinierende Aussicht.
       
       Also Opposition? Die Linkspartei war in NRW oft dogmatisch ausgehärtet.
       Allerdings nicht überall. In Bielefeld regiert seit fünf Jahren solide eine
       rot-grün-rote Mehrheit die Stadt. Anruf bei Onur Ocak (37), dem OB-Kandidat
       der Bielefelder Linken. Ocak sagt: „Unsere Bilanz ist gut“. Allerdings ist
       der Verdi-Funktionär skeptisch, ob Mitte-Links weiter regieren kann. Die
       Grünen, so Ocak, wollen 2.000 Stellen in der Verwaltung einsparen. Man sei
       zwar offen, aber das sei für die Linke nicht akzeptabel.
       
       Bemerkenswert ist, dass die Linkspartei die Frage „regieren oder
       opponieren“ nicht mehr als Glaubensfrage verhandelt, sondern pragmatisch.
       Vor allem die Parteilinke hatte in NRW eine ungute Neigung zu ufer- und
       fruchtlosen Debatten über die Gefahren des bürgerlichen Parlamentarismus im
       Allgemeinen und des Regierens im Besonderen. Parteichefin Vogler sieht da
       Veränderungen. Bei den Jüngeren, so ihre Bobachtung, finde man Sympathien
       für außerparlamentarischen Aktivismus und parlamentarische Bündnisse „oft
       in ein und derselben Person“.
       
       Gelobt wird in der Linken auch der neue, verständige Ton. „Wir gehen
       achtsam miteinander um“, sagt Ex-Rektor Koonen. „Polemische Ausfälle werden
       nicht mehr geduldet“. Da spricht der Schulleiter in ihm. Parteichefin
       Vogler glaubt, dass der für Linke eher untypische freundliche Umgangston
       Gründe hat. „Viele der Neuen kommen aus Sozial-, Erziehungs- und
       Pflegeberufen. Da lernt man ein offeneres Kommunikationsverhalten.“
       
       Ein Genosse, der schon länger dabei ist, sieht es ganz praktisch. Es sei ja
       schon erfreulich, dass man auf Parteiversammlungen nicht mehr von Sevim
       Dağdelen angebrüllt wird. Dağdelen war 15 Jahre lang die linke
       Bundestagsabgeordnete aus Bochum, dann ging sie zum BSW.
       
       ## Die ewige Tragik der NRW-Linken
       
       Für die Linkspartei geht es bei der NRW-Kommunalwahl um viel. Zwischen
       Rhein und Ruhr stimmen mehr WählerInnen ab als in ganz Ostdeutschland. Und
       NRW war für die Linkspartei irgendwas zwischen proletarischem Sehnsuchtsort
       und ewiger Sackgasse. Bei Bundestagswahlen schnitt sie oft gut ab, dann
       versank sie regelmäßig in Bedeutungslosigkeit, Dogmatismus und
       Sektierertum. [5][Bei der Landtagswahl 2022 bekam sie nur zwei Prozent.]
       Und jetzt? Wird diese manisch-depressive Abfolge von Euphorie und Absturz
       gestoppt?
       
       Parteichefin Vogler glaubt an Besserung. „Wir haben bei Bundestagswahlen
       oft um zehn Prozent bekommen, hatten aber vor Ort zu wenig Mitglieder.“
       
       Und auch noch die falschen. Ein Genosse blinzelt auf der Schmechtingswiese
       in die Sonne und sagt: Früher habe die Partei aus Gewerkschaftern und
       Ex-Revolutionären aus kommunistischen Splittergruppen bestanden. Das sei
       vorbei. Die Jüngeren seien undogmatischer, und nicht so verhärtet. Vor ein
       paar Jahren wären manche der Jung-GenossInnen bei Fridays for Future oder
       der grünen Jugend gelandet. Allerdings ist Fridays for Future auch ein
       Beispiel, dass hippe Bewegungen schnell wieder verschwinden können.
       
       Der wortgewandte Neu-Genosse Batıkağan Pulat ist jedenfalls optimistisch.
       Er kandidiert im Wahlbezirk 12 Bochum Innenstadt-Nord/Schmechtingswiese.
       Bei der Bundestagswahl war die Linkspartei mit 26 Prozent die stärkste
       Partei. Pulat glaubt, dass er das Direktmandat für den Stadtrat holen wird.
       „Das ist ein linker Kiez“, sagt er. Es wäre ein Zeichen.
       
       4 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Haut-wie-Pelz-von-Rapper-Apsilon/!6042347
   DIR [2] /Kommunalwahlen-in-NRW/!6107759
   DIR [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Cans%C4%B1n_K%C3%B6kt%C3%BCrk
   DIR [4] https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/linke-waehler-innen-potenzial/
   DIR [5] /Die-Linke-nach-Debakel-in-NRW/!5852490
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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