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       # taz.de -- Israels Bodenoffensive in Gaza-Stadt: Wo sollen sie hin?
       
       > Die israelische Armee will Gaza-Stadt einnehmen, um die Hamas zu
       > zerstören – und fordert die verzweifelte Bevölkerung zur erneuten Flucht
       > auf.
       
   IMG Bild: Nach einem Angriff auf Gaza-Stadt am 16. September
       
       Deir al-Balah/Tel Aviv taz | Sie will nicht gehen. Auch wenn die
       Explosionen dem Haus von Jumana Salmi im Zentrum von Gaza-Stadt immer näher
       kommen. „Letzte Nacht war lang, die Fenster wackelten, und die Kinder haben
       sich an mir festgehalten“, sagt Salmi am Telefon. Mit Flugblättern und an
       Drohnen montierten Lautsprechern fordert Israels Militär die Menschen auf,
       die Stadt zu verlassen.
       
       „Ich glaube nicht mehr, dass uns die Flucht retten wird“, sagt Salmi. Der
       Weg heraus aus dem früher wohlhabenden Viertel al-Rimal sei gefährlich, und
       auch die sogenannten humanitären Zonen im Süden würden bombardiert. „Wir
       haben keinen Ort, an den wir gehen können.“
       
       Salmi weiß, was sie sagt. Zwei Jahre israelischer Angriffe im Gazastreifen
       haben gezeigt: Wo die Armee wie nun [1][für Gaza-Stadt eine
       Evakuierungszone] ausgerufen hat, geht sie anschließend mit äußerster
       Brutalität vor. Wer bleibt, läuft Gefahr, pauschal als Kombattant behandelt
       und getötet zu werden.
       
       „Wir schlafen kaum“, sagt Salmi. Aus dem Fenster ihres Hauses beobachte sie
       mit ihren fünf Kindern nachts, wie Explosionen den Himmel rot erleuchteten.
       Am Wummern unterscheide sie Luftangriffe von „Roboterbomben“. Damit sind
       ausrangierte Truppentransporter gemeint, die israelische Soldaten mit
       Sprengstoff beladen und per Fernzündung in Wohnvierteln zur Explosion
       bringen. „Letzte Nacht explodierte eine im Nachbarviertel Scheich Radwan.“
       
       Ihr eigenes, ursprüngliches Haus in Tel al-Hawa im Süden der Stadt wurde
       bereits zu Kriegsbeginn zerstört. Im Stadtzentrum aber stehen teils noch
       ganze Straßenzüge. Dazwischen reihten sich zuletzt Zeltlager bis an den
       Strand. Auch die meisten Nachbarn würden sich weigern, zu gehen, sagt
       Salmi: „Meine größte Angst ist, alles zu verlieren, was uns geblieben ist.“
       
       Israelische Soldaten drangen kurz nach dem Hamas-Überfall auf Israel am 7.
       Oktober 2023 bis nach Gaza-Stadt vor, zogen sich aber schnell wieder
       zurück. Nun hat Israels Regierung die vollständige Einnahme der Stadt
       angekündigt. In den vergangenen zwei Wochen wurden zahlreiche bewohnte
       Hochhäuser aus der Luft zerstört. Die Einschläge ließen auch Salmis Haus
       beben. [2][Seit Dienstag rücken Panzer ins Stadtzentrum vor.]
       
       „Gaza brennt“, schrieb Israels Verteidigungsminister Israel Katz auf X und
       versprach: Wenn die Hamas nicht aufgebe, werde Gaza-Stadt zerstört, wie
       zuvor bereits Rafah und Beit Hanun. Am selben Morgen veröffentlichte eine
       UN-Untersuchungskommission einen Bericht, in dem sie Israel wegen seines
       Vorgehens in Gaza Völkermord vorwirft.
       
       Vier von fünf Tatbeständen aus der UN-Völkermordkonvention seien erfüllt.
       Die entscheidende Absicht dazu werde neben Aussagen der israelischen
       Führung auch durch das Vorgehen der Armee untermauert. Israel wies den
       Bericht zurück und nannte die Kommissionsmitglieder „Stellvertreter der
       Hamas“.
       
       Der Regierung Benjamin Netanjahus zufolge gilt der Großangriff auf die
       Stadt der Zerstörung der Hamas und der Befreiung der etwa 20 noch lebenden
       israelischen Geiseln. Kaum jemand außerhalb seiner Regierung hält dieses
       Ziel für erreichbar. Nicht einmal der von ihm selbst eingesetzte Armeechef
       Ejal Zamir.
       
       Binnen zwei Jahren wurde kaum eine Geisel militärisch befreit. Michael
       Milshtein, früherer Leiter der Palästinenserabteilung des israelischen
       Militärgeheimdienstes, sagt: „Selbst in Israel verstehen viele nicht mehr,
       was das Ziel ist.“ Die Hamas sei heute eine Guerillatruppe und durch die
       Offensive auf Gaza-Stadt nicht zu besiegen.
       
       Die Mehrheit der Israelis ist Umfragen zufolge gegen den Krieg. Eine Welle
       an Wehrdienstverweigerung bliebe aber aus, weil viele im Reservedienst noch
       immer eine Verantwortung für ihr Land sähen, sagt Milshtein. Damit das so
       bleibt, setzt die Armeeführung in Gaza vor allem [3][junge
       Wehrdienstleistende] ein.
       
       Der israelische Kurs führt indes immer weiter in die Isolation. Jüngst
       forderte die EU weitreichende wirtschaftliche Sanktionen. Der wachsende
       internationale Druck drohe, die Bevölkerung zunehmend auch im Alltag zu
       treffen, sagt Milshtein.
       
       Dennoch akzeptieren Premier Netanjahu und seine rechtsextremen Minister
       auch im Falle einer Freilassung der übrigen Geiseln nichts weniger als eine
       bedingungslose Kapitulation der Hamas. Die Mehrzahl der Beobachter hält das
       für unrealistisch. „Der Einzige, der Netanjahus Meinung ändern könnte, wäre
       US-Präsident Trump“, sagt Milsthein.
       
       Der aber lässt Israels Premier bisher freie Hand. Ein von der Hamas bereits
       Mitte August angenommenes Abkommen über eine Waffenruhe und die Freilassung
       von zehn noch lebenden Geiseln hat Israel vergangene Woche [4][mit einem
       Luftangriff auf deren Auslandsführung in Katar vom Tisch gefegt.]
       
       Trotz der israelischen Drohungen wollen viele Bewohner Gaza-Stadt nicht
       verlassen. Israels Armee spricht von mehr als 350.000 aus Gaza-Stadt
       Geflohenen, die UN von 250.000. In jedem Fall aber befinden sich noch mehr
       als eine halbe Million Palästinenser im Norden des Küstenstreifens. [5][Die
       Hilfsinitiative IPC hatte im August für diese Region eine Hungersnot
       ausgerufen].
       
       Die von Israel ausgewiesenen Gebiete im Süden sind bereits jetzt überfüllt.
       Das geht aus übereinstimmenden Berichten von Hilfsorganisationen und aus
       Satellitenbildern hervor, die die New York Times analysiert hat.
       
       Auf dem sandigen Küstenstreifen al-Mawasi ziehen sich Zeltstädte vom
       Mittelmeerstrand bis etwa drei Kilometer ins Landesinnere. Selbst im
       israelischen Verteidigungsministerium hält man die „humanitäre Zone“ für zu
       klein und rechnet mit chaotischen Zuständen. Das berichtet Haaretz.
       
       Israelische Behörden teilen immer wieder mit, im Süden Gazas humanitäre
       Hilfe zur Verfügung zu stellen. Tatsächlich weist die Armee an [6][den
       Grenzübergängen] jedoch Essen, Medikamente und Zelte ab. Transporte in den
       Norden Gazas wurden nach einer Lockerung im August wieder stark
       eingeschränkt.
       
       Dem UN-Nothilfebüro Ocha zufolge bräuchte es Zeltmaterial für rund 1,4
       Millionen Menschen. In den vergangenen zwei Wochen gelangten israelischen
       Angaben zufolge nur 14.000 Zelte in den Küstenstreifen, Ocha zufolge gar
       nur 1.400.
       
       Wie Jumana Salmi und ihren Kindern im Zentrum von Gaza-Stadt fehlen vielen
       Familien die Mittel zur Flucht: Ein Zelt kostet derzeit umgerechnet etwa
       1.000 Euro, der Transport in den Süden mehrere hundert Euro. „Wir haben
       kein Auto, kein Einkommen und kein Zelt“, sagt Salmi. Die Kinder hätten
       bereits jetzt Albträume und würden oft das wenige verfügbare Essen
       verweigern. Bleiben will sie dennoch: „Wenn wir gehen, wird es vielleicht
       bald nichts mehr geben, zu dem wir noch zurückkehren können.“
       
       ## Von Luftangriff getroffen
       
       Seit dem israelischen Bruch der Waffenruhe im Frühjahr geht die Armee
       deutlich zerstörerischer vor. Satellitenbildern zufolge wurden zahlreiche
       Stadtviertel tief innerhalb des Gazastreifens systematisch zerstört. Das
       Verteidigungsministerium setzt dabei massiv auf private Bauunternehmer, wie
       eine Recherche von Haaretz zeigt. Umgerechnet mehr als 1.200 Euro pro Tag
       werden für den Betrieb eines schweren Baufahrzeugs gezahlt.
       
       Die Arbeiten, an denen [7][häufig radikaler israelische Siedler aus dem
       Westjordanland] beteiligt seien, sollen Israels Führung zufolge
       Hamas-Tunnel und -Infrastruktur beseitigen. Tatsächlich sind binnen weniger
       Monate ganze Städte in Trümmerfelder verwandelt worden.
       
       Die humanitäre Versorgung ist mittlerweile zudem auf wenige Verteilstellen
       [8][der von Israel gestützten Gaza Humanitarian Foundation (GHF) im Süden]
       eingeschränkt. All dies deutet darauf hin, dass die rund 2 Millionen
       Palästinenser im Süden konzentriert werden sollen.
       
       Auch wenn Jumana Salmi und zahlreiche andere bleiben wollen, dürften sich
       in den kommenden Tagen dennoch viele Menschen auf den Weg in den Süden
       machen. Aus Angst vor den nahenden israelischen Soldaten.
       
       Die 52-jährige Um Mohammed ist schon gen Süden gezogen. Die Mutter von
       sechs Kindern ist seit Kriegsbeginn schon 14-mal geflohen. Ihr krebskranker
       Sohn sitzt im Rollstuhl. Der 14-Jährige erlitt bei einem Luftangriff
       zusätzlich Verbrennungen. „Wir haben die ersten Evakuierungsaufforderungen
       ignoriert und auf eine Verhandlungslösung gehofft“, sagt sie. Dann sei eine
       ehemalige Schule wenige Meter von ihrer Unterkunft von einer Bombe
       getroffen worden. „Der Boden bebte unter unseren Füßen, wir schrien vor
       Angst.“
       
       Die Familie musste sich trennen, die Mutter fuhr mit ihrem Sohn die rund 20
       Kilometer in den Süden vor. Die umgerechnet 300 Euro für den Transport
       musste sie sich leihen. Ihre Töchter sollen Anfang der kommenden Woche
       nachkommen. Um Mohammeds Mann aber hat bisher keinen Platz auf einem
       Transporter gefunden. Fotos und Videos zeigen lange Kolonnen von mit
       Habseligkeiten und Menschen beladenen Lastwagen und Eselskarren auf dem Weg
       gen Süden.
       
       ## Stoffreste statt Windeln
       
       Um Mohammed sitzt vor einem Zelt südlich von Deir al-Balah. Neben der Tür
       versinken die Räder des Rollstuhls ihres Sohns im sandigen Boden. Drinnen
       liegen Matratzen und weiter hinten ein Stapel Plastiktüten. Für den
       Ventilator gegen die drückende Sommerhitze fehlt der Strom. Sie weint, als
       sie von ihrer letzten Flucht 2024 erzählt. „Wir mussten schon damals in
       Zelten leben, in denen ich meinen Sohn nicht pflegen kann.“ Er sei auf
       Windeln angewiesen.
       
       Weil sie keine habe, sammle sie nun Stoffreste. Weit und breit gebe es kein
       Badezimmer oder fließendes Wasser. „Inzwischen wiederholt er ständig, uns
       solle endlich eine Rakete treffen, damit wir in Frieden sein können.“ Bei
       ihrer letzten Flucht habe die Familie kaum etwas mitnehmen können. Sie
       hätten im Winter vor Kälte gefroren, während sie von Chan Junis nach Rafah
       und wieder zurück zogen. Diesmal habe sie zumindest einige Decken gerettet,
       sagt Um Mohammed.
       
       Sie trauert um ihre Heimat. Auf ihrem Telefon zeigt sie ein Video, das ihre
       Tochter auf den Straßen von Gaza-Stadt aufgenommen hat. „Ich erwarte nicht,
       dass wir dorthin zurückkehren werden“, sagt Um Mohammed. „Sie werden mit
       Gaza-Stadt das Gleiche machen, was sie mit Rafah getan haben.“ Rafah, die
       südlichste Stadt im Küstenstreifen, wurde bis auf wenige Gebäude vollkommen
       zerstört.
       
       Die Geflohenen hier könnten zudem bald erneut vertrieben werden. Netanjahu
       hatte bereits im August angekündigt, auch die bewohnten Gebiete in
       Zentralgaza erobern zu wollen. Ein Sprecher der israelischen Armee deutete
       bereits an: Gaza-Stadt sei die „wichtigste Hochburg der Hamas, aber nicht
       die letzte.“
       
       19 Sep 2025
       
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