# taz.de -- Chinesen in Thailand: Auf der Suche nach dem guten Leben
> Im thailändischen Chiang Mai treffen sich Chines*innen auf der Suche
> nach Freiheit. Manche verlassen China danach für immer.
IMG Bild: Ein Bild von Leichtigkeit: Tourist*innen fotografieren Tauben in Chiang Mai
Es ist Stand-up-Comedy-Abend in Chiang Mai. Rund 50 Zuschauer*innen
drängen sich um die kleine Bühne. An den Wänden in einem der zahlreichen
Co-Working-Spaces der Stadt, wo die Comedy stattfindet, hängen Aufrufe für
Verschlüsselungstechniken und Krypto-Währungen. Doch digitale Utopien
beschäftigen die Vortragenden ebenso wenig wie die [1][Regierungskrise, die
Thailand in diesen Tagen schüttelt]. Stattdessen geht es um die
ausbeuterische Arbeitskultur in China. Um die Schrecken der Wohnungssuche
in Shanghai. Und um neue Anfänge.
Chinesischsprachige Stand-up-Comedy ist nur ein kleiner Ausschnitt eines
rasant gewachsenen Mikrokosmos. Jedes Jahr reisen rund 300.000 Menschen aus
China nach Chiang Mai. In der von Bergen umringten Stadt im Norden
Thailands gesellen sie sich zu Scharen digitaler Nomaden und
internationalen Rucksacktourist*innen. Die meisten der etwa 7.000 hier
lebenden Chines*innen wohnen eher unauffällig in schicken Hochhaustürmen
und Neubausiedlungen am Stadtrand. Ins Auge fallen vor allem die
chinesischen Beschriftungen an sämtlichen Touristenattraktionen.
Seit der Pandemie kommen verstärkt jüngere Chines*innen nach Chiang Mai,
die nicht nur das Vergnügen, sondern auch die Freiheit suchen. Für sie hat
die Internetsprache den Begriff rùn geprägt. Die Aussprache des
Schriftzeichens spielt auf das englische Wort „run“ an. Für einige bedeutet
rùn ein vorübergehendes Abstandgewinnen, andere verlassen China dauerhaft.
Chiang Mai ist für viele von ihnen die erste Anlaufstelle – günstiger,
näher und nicht zuletzt wärmer als Berlin oder New York, mit all den
Annehmlichkeiten einer modernen Großstadt.
Eine von ihnen ist Ying. Sie verfolgt das Stand-up-Spektakel an diesem
Abend Ende August von weit hinten im Saal. Ying lacht viel und gerne, sie
mag schwarzen Humor. Die 25-Jährige studiert in Guangzhou, der
Handelsmetropole an der Südküste Chinas. Sie ist während der Semesterferien
nach Chiang Mai gereist. In diesem Text wird sie zu ihrer Sicherheit
anonymisiert.
Ying hat an einer der besten Unis Chinas Journalismus studiert. Doch die
junge Frau sieht keine Zukunft für sich in dem Beruf, zu streng sei die
Zensur, zu schlecht die Finanzierung der Medienlandschaft. Nun versucht sie
es mit Sozialer Arbeit. Aber ob und wie es für sie in China nach dem
Studium weitergehen soll, weiß sie nicht.
Für Ying bieten die Wochen in Chiang Mai zunächst eine dringend benötigte
Auszeit: „Die Stadt bringt ein Gefühl der Entspannung, das man in China
einfach nicht erleben kann.“ Den ganzen Tag lang in einem der unzähligen
Cafés zu sitzen oder gemächlich über die Nachtmärkte zu spazieren, all das
erscheint im hektischen chinesischen Großstadtleben schier undenkbar.
Die jungen Chines*innen in Chiang Mai finden und organisieren sich über
soziale Medien wie Xiaohongshu und WeChat. Ying hat dort darüber gelesen,
wie es ist, als Frau alleine zu reisen: Eine chinesische Auswandererin, die
in Frankreich lebt, berichtet von ihren Erfahrungen.
Viele der Teilnehmenden sind zum ersten Mal außerhalb Chinas unterwegs,
manche gegen die Vorbehalte ihrer Familien. Für viele ist das Reisen auch
ein Ausbruch aus sozialen Konventionen. Mehr als zwei Stunden lang tauscht
die Gruppe angeregt Tipps aus. Aus dem Treffen entwickelt sich ein
spontanes Unterstützungsnetzwerk – ein Gruppenchat auf WeChat, dem in China
allgegenwärtigen Messenger-Dienst.
Dass gerade solche Treffen auf große Resonanz stoßen, ist kein Zufall. Die
meisten jungen chinesischen Reisenden in Chiang Mai sind Frauen, der
Überdruss vor patriarchalischen Verhältnissen schwingt oft im Hintergrund
mit, nicht wenige haben auch deshalb den Schritt ins Ausland gemacht. Ying
zitiert ein geflügeltes Wort aus chinesischen Online-Diskussionen: „Für
Männer in China ist die Heimat ein ewiger Sehnsuchtsort, für Frauen ist das
Entkommen eine lebenslange Odyssee.“
Die Grundhaltungen zwischen den Geschlechtern scheinen in der jungen
Generation in China immer weiter auseinanderzudriften. Viele Männer sehnen
sich nach der traditionellen Familie, junge Frauen verteidigen ihre
persönlichen Freiheiten mit stillem Widerstand, sie wenden sich ab von
jeglicher Familienplanung.
Ying hat die wachsende Kluft zwischen den Geschlechtern in den letzten
Jahren zur Genüge verfolgt. Während des Bachelorstudiums wurde sie in einer
Organisation für sexuelle Bildung aktiv. Eines der Anliegen: Den Zugang zu
Periode-Hygieneartikeln fest an Unis und anderen öffentlichen Einrichtungen
zu etablieren. Ein bedürfnisorientierter Ansatz, der dennoch auf gehörigen
Widerstand stieß.
Bei Anrufen in Krankenhäusern reagierten Ärztinnen zumeist verständnisvoll.
Ärzte hingegen wurden teils regelrecht wütend, erzählt Ying. „Sie fragen
dann zum Beispiel, ob wir denn keine wichtigeren Probleme hätten.“ Für
öffentliche Ausstellungen zu Sexualbildung bekam die Organisation oft keine
Genehmigung von lokalen Behörden.
In Fragen rund um Geschlecht und Sexualität erlebt China in den vergangenen
Jahren eine konservative Wende. Hintergrund ist die dramatisch gesunkene
Geburtenrate, die mit 1,0 Kindern pro Frau mittlerweile niedriger als in
Japan ist. Nach Jahrzehnten der gewaltsam durchgesetzten Einkindpolitik
fährt die kommunistische Staatsführung eine Kampagne für traditionelle
Familienwerte. In einigen Städten berichten Frauen von Anrufen ihrer
Nachbarschaftskomitees, die sie zum Kinderkriegen zu animieren versuchen.
Ähnliche Appelle von Eltern und älteren Verwandten gehören ohnehin zum
Alltag.
Angesichts einer Reihe frauenfeindlicher Gewaltverbrechen in den
vergangenen Jahren fühlen sich dagegen viele alleingelassen. Ying erzählt
vom Fall einer Frau, die in einer ländlichen Region im Osten des Landes
über Jahrzehnte von ihrem Mann gefangengehalten wurde und in dieser Zeit
acht Kinder gebar. Nach Entdeckung der angeketteten Frau versuchten lokale
Behörden zunächst, das Verbrechen zu verharmlosen. Erst auf Druck der
Öffentlichkeit begannen ernsthafte Untersuchungen. „Der Staat könnte seine
Ressourcen stärker in den Schutz von Frauen investieren. Doch ich
befürchte, es geht ihm vor allem um die Geburtenraten“, sagt Ying.
In Chiang Mai sprechen viele junge chinesische Reisende zum ersten Mal mit
etwas Distanz über Geschlecht, Sexualität und andere kontroverse Themen.
Und es ist nicht allzu lange her, da bot die Stadt auch einen expliziten
Raum für die chinesische Community, um offen über solche Streitthemen zu
diskutieren.
2023 öffnete in Chiang Mai der chinesische Buchladen „Nowhere“. Das
Projekt, mit weiteren Ablegern in Taipeh und Den Haag, geht auf die
Initiative der bekannten chinesischen Journalistin Zhang Jieping zurück.
Neben dem Verkauf von Büchern, die in China nicht frei zugänglich sind,
schaffte der Laden mit Filmvorführungen, Buchclubs und weiteren
Veranstaltungen eine Plattform für gesellschaftliche Debatten.
Doch der Buchladen in Chiang Mai hat seit mehreren Monaten geschlossen,
seine Zukunft ist ungewiss. Auch ein Filmfestival mit Regisseuren aus
Hongkong und Taiwan, das Angehörige der chinesischen Community in Chiang
Mai ausrichten wollten, wurde im vergangenen Jahr kurzfristig abgesagt.
Über die genauen Gründe will in beiden Fällen niemand der befragten
Beteiligten offen reden.
Deutlich wird, die chinesische Community in Chiang Mai ist vorsichtig
damit, offen politisch in Erscheinung zu treten. Diejenigen, die Chinas
politischem System ausdrücklich kritisch gegenüberstehen, leben in einem
ständigen Widerspruch. Denn der Blick von Thailand aus schafft gedankliche
Freiheiten, doch die Nähe zu China ist weiter spürbar. Und in einigen
Fällen intervenierten chinesische staatliche Akteure gezielt gegen
kritische Initiativen.
So geschah es vor wenigen Wochen einem Künstler aus Myanmar. Er hatte in
einer Ausstellung in Bangkok unter anderem Kunstwerke tibetischer und
Hongkonger Künstler ausgestellt. [2][Die BBC berichtete], das chinesische
Außenministerium habe über die Botschaft in Bangkok offenbar Druck auf die
Galerie ausgeübt, regierungskritische Werke zu zensieren, und die
thailändische Polizei angehalten, den Künstler aufzuspüren. Der Künstler
floh anschließend nach Großbritannien.
Was im Fall des Buchladens auch die genauen Hintergründe sein mögen: Chiang
Mai hat einen Ort für gesellschaftliche Debatten in der chinesischen
Community verloren. Als Ying ihre Zeit in der Stadt verbringt, ist der
Laden bereits verschwunden, die meisten Durchreisenden wissen nicht einmal,
dass es ihn je gab.
Ying selbst hat ihren Aktivismus fürs Erste schon in China aufgegeben. Zu
müde war sie ob des steten Ankämpfens gegen bornierte Behörden und das
allgemeine Unverständnis. Für sie ist die Zeit in Chiang Mai vor allem ein
Ausbruch aus der allgemeinen Tristesse der Verhältnisse.
Ein Wort taucht immer wieder auf, wenn junge Reisende über ihr Leben in
China sprechen: yayi, übersetzt etwa Beklemmung oder Unterdrückung. Das
Gefühl ist neben gefühlten Freiheitsverlusten auch verwoben mit den
pessimistischen ökonomischen Aussichten im Land.
Vor allem für die junge Generation verspricht das Leben in China trotz
harter Arbeit immer weniger Aufstiegsaussichten. Die wirtschaftlichen
Boom-Zeiten scheinen spätestens seit der Pandemie Geschichte. Es überwiegen
Stagnation und Abstiegsängste – Grundstimmungen, die auch aus deutscher
Sicht unangenehm bekannt vorkommen dürften.
Nach ihrem Bachelorstudium arbeitete Ying für zwei Jahre in einer Bank in
ihrer Heimatregion Guangxi im Süden Chinas. Dort erlebte sie die
existenziellen Verwerfungen in Chinas Wirtschaft hautnah. Infolge der
Immobilienkrise stranden seit 2021 massenweise Bauprojekte, Millionen von
Wohnungen verwaisen als Bauruinen.
Im Auftrag der Bank arbeitete Ying mit verzweifelten Kunden, die ihre
Wohnungskredite nicht zurückzahlen konnten und zugleich ohne Wohnung
dastanden. Eine undankbare Arbeit. Ihr Lohn für den Vollzeitjob lag am Ende
umgerechnet bei nur rund 150 Euro im Monat. Immer wieder wurde das Gehalt
der Bankangestellten gekürzt.
Guangxi ist einer der ärmsten Landesteile Chinas. Auch hier ging es in den
vergangenen Jahrzehnten ökonomisch insgesamt zwar bergauf, doch das
Pro-Kopf-Einkommen liegt weiter bei nur rund 7.500 Euro im Jahr, etwa ein
Viertel dessen von Peking oder Shanghai. Ying kommt aus einfachen
Verhältnissen, ihr Vater ist Taxifahrer, ihre Mutter Reinigungskraft. Es
liegt Wehmut in ihrer Stimme, wenn sie vom Leben in Guangxi spricht. „Ich
würde meiner Heimat gerne helfen, doch ich habe das Gefühl, das Beste, was
ich tun kann, ist zu gehen.“
Amin scheint vom täglichen Überlebenskampf der jungen Generation ein Stück
entfernt. Der Mittvierziger lebt seit zwei Jahren mit seiner Familie in
Chiang Mai. Er ist zu Besuch in der Qingmai kezhan, einer Herberge und
einem wichtigen Treffpunkt der chinesischen Community in der Stadt.
Mit sanfter Stimme erzählt Amin von seinem Leben in China und seinem
Neubeginn. In China arbeitete er 20 Jahre in Shenzhen, Chinas
High-Tech-Hub, in der Nähe von Guangzhou. Er fing an als Ingenieur, später
gründete er sein eigenes Unternehmen. „Auf den ersten Blick hatte ich ein
gutes Leben: Frau und Kind, Haus und Auto.“
Doch innerlich fühlte er sich immer kaputter. Er war überarbeitet,
vernachlässigte seine Familie, ging fremd: „Die Grundhaltung war, dass
Frauen dazu da sind, mir Befriedigung zu verschaffen.“ Seine damalige Frau
erfuhr von seinen Affären, es folgte die Scheidung. Es war ein Weckruf und
Anstoß für eine Emanzipation vom eigenen männlichen Überlegenheitsdenken.
„Ich wollte nicht, dass meine Tochter mit solch einem Vater aufwächst.“
Amins biografischer Wendepunkt fiel in die Zeit der Pandemie, mit ihrem in
China besonders invasiven staatlichen Kontrollregime. Kurz nach Ende der
Null-Covid-Politik zog Amin mit seiner neuen Partnerin und den zwei Kindern
aus erster und zweiter Ehe nach Chiang Mai.
In den staatlich gelenkten Diskursen in China [3][taucht die Pandemie
praktisch nicht mehr auf], als hätte es die Lockdowns, die wochenlangen
Zwangsquarantänen und endlosen Coronatests und schließlich die abrupte
Aufhebung aller Maßnahmen im Winter 2022 nie gegeben. Doch die
gesellschaftliche Stimmung, so scheint es, hat sich nie ganz vom Alpdruck
der Coronazeit gelöst.
Auch in Gesprächen mit vielen der chinesischen Auswanderer*innen und
Reisenden in Chiang Mai merkt man, dass die Erinnerung an die Pandemie
fortwirkt. Sie gilt als Moment des biografischen Bruchs und der
Ernüchterung. Im rastlosen China bot sie auch eine seltene Gelegenheit des
Innehaltens. Viele fragten sich, was eigentlich ein gutes Leben ausmacht.
Für den Moment hat Amin eine Antwort gefunden. Chiang Mai bietet für ihn
und seine Familie einen günstigeren und langsameren Alltag, ein
internationales Umfeld und gute Bildungsperspektiven für die nächste
Generation. Rund 2.000 chinesische Familien schicken ihre Kinder in Chiang
Mai auf eine der zahlreichen internationalen Schulen. Amins Tochter ging in
China auf eine Waldorfschule, die, wie viele freie Schulen, nicht von der
Regierung anerkannt wurde. Ihre Schule in Chiang Mai hat eine buddhistische
Orientierung. Amin schwärmt von der spirituellen Atmosphäre der Stadt, mit
ihren vielen Tempeln und in den Bergen versteckten Klöstern.
Amin will mit seiner Familie wenigstens einige Jahre bleiben. Mit einem
Freund aus Singapur baut er ein Rehabilitationszentrum für psychische
Notfälle in der chinesischen Community auf. Seine Wohnung in Shenzhen hat
er verkauft. Doch vollständig gebrochen hat er nicht mit China. Er spricht
mit Stolz über die großen wirtschaftlichen Fortschritte des Landes in den
vergangenen Jahrzehnten. Sein vierjähriger Sohn soll in der Schule einmal
richtig Chinesisch lernen, sagt er, und vielleicht geht es dann irgendwann
auch wieder zurück in die Heimat für die Familie.
## Fernziel: Europa
Für die meisten jungen Reisenden ist Chiang Mai dagegen nur eine
Durchgangsstation. Wer längerfristig auswandern will, sucht meist einen Weg
nach Europa, Nordamerika, Australien oder Neuseeland. In Chiang Mai bleibt
kaum jemand länger als einen Monat. Darin liegt eine große Unmittelbarkeit
und zugleich surreale Flüchtigkeit.
Doch für viele der Reisenden ist Chiang Mai die erste Station außerhalb
Chinas. Hier eröffnet sich oft erstmals ein ganz neuer Blick auf das eigene
Leben. Für einige bedeuten die Tage und Wochen in der Stadt nichts weniger
als private Revolutionen.
Der Begriff wurde geprägt durch die in China geborene britische Autorin
Yuan Yang. In ihrem gleichnamigen Buch zeichnet die Labour-Abgeordnete und
frühere China-Korrespondentin die persönlichen Umbrüche von vier
chinesischen Frauen nach, die in jungen Jahren ungeheure Transformationen
durchlebt haben: in einem China, dessen Wirtschaftsleistung sich seit der
Jahrtausendwende mehr als verzehnfacht hat.
Auch Ying und andere junge Reisende in Chiang Mai blicken auf gewaltige
Veränderungen zurück, die ihr Land erlebt hat. Ihre privaten Revolutionen
zehren nun zusätzlich vom Erleben einer Distanz zu China, dem riesigen
Land, das sie von klein auf schier allumfassend umgibt. Der Abstand schafft
neue Perspektiven und Möglichkeiten.
Die Verschiebungen, von denen die Reisenden berichten, vollziehen sich oft
im Kleinen: beim Surfen im freien Internet, durch Selbsterfahrungen beim
Thai-Boxen und in der Stand-up-Comedy, bei langen Wanderungen in den
Bergen, mit der Bildung neuer Solidargemeinschaften. Und auch in der
kurzzeitigen Befreiung vom gesellschaftlichen Erwartungsdruck, in der
wiedergewonnenen Kontrolle über das eigene Leben und den eigenen Körper.
Ying ist wieder in Guangzhou, das Semester hat angefangen. Nach der
Leichtigkeit Chiang Mais fällt ihr die Rückkehr in das raue chinesische
Großstadtleben umso schwerer. In lebhafter Erinnerung aus den ersten Tagen
zurück in Guangzhou ist ihr ein junger Mann, der sich in der U-Bahn
breitbeinig in eine schon volle Reihe zwischen Frauen zwängte. So etwas sei
sie nach den Wochen in Thailand nicht mehr gewohnt gewesen. „Was aus der
Zeit in Chiang Mai bleibt, ist die Erkenntnis, dass ein gutes Leben
außerhalb Chinas möglich ist“, sagt sie. Nun sei sie noch stärker
überzeugt, dass sie auswandern wolle.
Die Frage ist, wohin. Der Freiheitsdrang von Menschen wie Ying fällt in
eine Zeit, in der sich nationalistische Stimmungen vertiefen und
Migrationspolitik weltweit verschärft wird. Die zahlreichen Chines*innen
in den USA haben unter Trump mit immer neuen Anfeindungen zu kämpfen. Die
Zahl der chinesischen Studierenden ist dort zuletzt um rund ein Drittel
zurückgegangen, Androhungen von Visa-Entzügen schüren Unsicherheit.
Auch die Zahl chinesischer Besucher in Thailand ist in den vergangenen
Jahren zurückgegangen. Chinesische Staatsmedien bauschen Berichte über
Gewaltvorfälle und Betrug gegenüber chinesischen Besuchern dramatisch auf.
Der Grundton ist wie so oft, dass die Welt außerhalb von Chinas Grenzen
nirgends sicher ist. Es scheint, als wolle China seine Bürger*innen
lieber im Land behalten.
Ying ist von all dem wenig beeindruckt. Sie lässt sich nicht so leicht
abhalten von ihrer Suche nach dem guten Leben. In die USA will sie reisen,
auch nach Frankreich. Aber zuerst geht es nach Vietnam. Sie plant schon für
den nächsten Trip.
25 Sep 2025
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