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       # taz.de -- Verbindung zwischen Film und Roman: Der zerbrochene Spiegel
       
       > Auf große Resonanz stoßen die aktuellen Werke von Filmemacherin
       > Schilinski und Autor Biedermann. Die beiden verbindet Empathie und
       > Grausamkeit.
       
   IMG Bild: So viele Facetten wie ein kaputter Spiegel Scherben
       
       Kunst kann ein Spiegel der Gegenwart sein in ihren Widersprüchen, in ihren
       Möglichkeiten, in Schönheit und Schrecken. Kunst kann auch ein zerbrochener
       Spiegel sein, und in den Scherben erkennt man Gegenwart und Geschichte,
       ohne genau zu wissen, welcher Splitter zu welcher Zeit gehört. Mir hat
       dieses Spiel mit der Kunst immer Spaß gemacht. Es war das, was ich als
       Kritiker, ob im Theater, in der Literatur, im Kino oder im Museum, gesucht
       habe: mehr Hinweise als Haltungen, mehr Ahnungen als Antworten.
       
       In der gegenwärtigen Situation aber bekommt dieses Spiel, das es einmal
       war, wie so vieles andere auch eine eindeutig existenziellere Dimension. Es
       ist so schwer zu sagen, was kommt, es ist so schwer zu verstehen, wie
       dieser ganze dräuende Faschismus wieder verschwinden soll. Die einen reden
       von Exil und überlegen, wo sie hingehen, wenn 2029 oder früher die AfD das
       Land regieren wird. Die anderen reden dagegen an, weil dieses Maß an
       Selbstaufgabe doch nur den Faschismus befördere, wie sie sagen.
       
       Und die handelnde Politik hängt schlaff dazwischen. Alles driftet. Am
       Horizont sind die Wolken, schwere, graue, dunkle Wolken, und es wird Regen
       geben, das scheint sicher, schweren, schwarzen Regen, der vieles von dem
       wegwaschen wird, was ist. Aber was kommt danach? Was ist, wenn die Wolken
       verschwinden? Sind wir dann immer noch die gleichen? Ziemlich sicher nicht.
       Aber wissen wir überhaupt, wer wir sind, heute, da wir diesen Sturm auf uns
       zukommen sehen?
       
       Wie gesagt, Kunst kann alles Mögliche sein und muss gar nichts; aber mir
       hat es geholfen und auch Spaß gemacht, in zwei Werken, die gerade neu sind
       und gefeiert werden und in vielem verbunden sind, die Verschiebungen in der
       Vergangenheit und in der Gegenwart zu sehen – und ein bisschen besser zu
       verstehen, was im Schleudergang der Weltgeschichte mit Menschen passiert.
       Denn davon erzählen sowohl der Film „[1][In die Sonne schauen]“ von Mascha
       Schilinski als auch der Roman „Lázár“ von [2][Nelio Biedermann].
       
       ## Wie verlorene Kinder durch die Zerstörungen
       
       Was beide Werke verbindet, ist die Mischung aus Empathie und Grausamkeit.
       Die Figuren irren wie verlorene Kinder durch die Zerstörungen, die Kriege
       anrichten, und die Zerstörungen, die in Familien passieren. Über
       Generationen geht das, denn beide Werke reichen über das 20. Jahrhundert
       hinaus, um den Grund, aus dem diese Gegenwart entstanden ist, im 19.
       Jahrhundert zu suchen.
       
       Schon hier ist es eine gewisse Todessehnsucht, die die Figuren antreibt,
       ein Untergangstrieb, der manchmal in den Menschen selbst ist und manchmal
       in der Welt um sie herum; und oft ist nicht ganz leicht zu sagen, wie
       beides zusammenhängt.
       
       Diese Verbindung zu ergründen, ist in gewisser Weise das Wesen der Kunst,
       jedenfalls so, wie es Mascha Schilinski angeht, die Anfang 40 ist; und
       Alter spielt hier eine Rolle, weil es den Blick auf die Gegenwart prägt.
       Schilinski rückt sie einerseits so weit weg von sich und von uns und
       entdeckt im 19. Jahrhundert im Osten Deutschlands eine archaische, fremde,
       vormoderne Welt, die sie mit großer Genauigkeit und dunkler Lust ergründet,
       weil sie uns immer noch begleitet. Sexualität ist hier ein Trieb neben
       anderen; tödlich sind diese Triebe oft.
       
       Vom Kaiserreich über die DDR bis zur spätkapitalistischen Landnahme im
       Berliner Umland spannen sich die Geschichten, die sich nicht zu einer
       großen Erzählung fügen und schon gar nicht zu einer Erklärung für das, was
       passiert ist. Wie „Lázár“ auch ist dieser Film eher tragisch als
       historisch, verbindet Menschen und Momente, schildert mehr das Innenleben
       als das Erleben, zeigt Stillstand, Stasis, Monaden im wilden Rausch der
       wogenden Weltgeschichte.
       
       ## Eine „Verarbeitung“ der NS-Zeit ist Illusion
       
       Die [3][Zeit des Nationalsozialismus] lässt Schilinski fast ostentativ aus,
       sie wird wie ein Echo behandelt, wie das riesige Loch, das mitten im
       vergangenen Jahrhundert klafft und auch mitten in unserer Gegenwart. Zu
       groß vielleicht, um es zu beschreiben – anders als in der Mischung aus
       Klaustrophobie und Oberfläche, wie es „Lázár“ tut, wo die Judenvernichtung
       eine Ruptur im Erzählfluss ist, stockend geschrieben, von vorgeführter
       Ratlosigkeit, einerseits störend im Narrativ und andererseits konstitutiv.
       
       Wir sind nichts, ohne diese Zeit, ohne diese Verbrechen, ohne diese Schuld,
       sagen beide Werke; aber was sind wir dann wirklich? Wie schaffen wir so
       etwas wie Identität aus dem, was in Menschen weiterwirkt, die Grausamkeit
       gesehen oder begangen haben? [4][Die Geschichte von BRD und DDR] ist auf
       der Illusion gebaut, dass diese Vergangenheit „verarbeitet“ werden kann,
       wie es auf Deutsch heißt.
       
       Nelio Biedermann ist Schweizer, aber die ungarische Familiengeschichte, die
       er erzählt, wickelt sich genauso eng um die Figuren seines Romans, die er
       wie kostbare, leicht zerbrechliche Puppen behandelt. [5][Biedermann], der
       überraschende 22 Jahre jung ist, führt mit großem Selbstvertrauen durch ein
       Jahrhundert der Umbrüche, das den ungarischen Adel zwischen Ennui und
       Kommunismus verloren gehen lässt, wenn sie nicht im Wald verschwinden oder
       – das ist ein prägendes Thema auch von Schilinski – sich dem Selbstmord
       hingeben.
       
       „Lázár“ ist dabei auf exquisite Weise unpolitisch, eher pointillistisch als
       analytisch, die Scherben sind nicht so scharfkantig wie bei Schilinski,
       aber Scherben sind es, Teile, Bruchstücke. Zusammen bilden diese Werke kein
       Ganzes, aber eine Aura: Wir leben in einer Anomalie, die Normalität heißt,
       und wir waren schon immer umgeben, durchdrungen, begleitet von all dem
       anderen, was geschehen ist und geschehen wird. Beide Werke sind nicht
       fatalistisch, auch wenn der Todestrieb vieles umflort.
       
       Geschichte ist nicht linear, genauso wenig wie die Zeit, das machen beide
       Werke klar; und dennoch droht uns immer und immer wieder dieses
       kataklystische Nadelöhr, das wir Zukunft nennen.
       
       24 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=IeecDPkGDLg
   DIR [2] https://www.perlentaucher.de/buch/nelio-biedermann/lazar.html
   DIR [3] /Schwerpunkt-Nationalsozialismus/!t5007882
   DIR [4] /Demokratie-in-Ostdeutschland/!6111685
   DIR [5] https://www.srf.ch/audio/literaturclub-zwei-mit-buch/der-junge-schweizer-nelio-biedermann-und-sein-roman-lazar?id=AUDI20250902_NR_0002
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Georg Diez
       
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