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       # taz.de -- Demokratie in Ostdeutschland: Sie können auch anders
       
       > Sind die Ostdeutschen wirklich so demokratieresistent, wie gern behauptet
       > wird? Oder hören Westdeutsche ihnen einfach nicht richtig zu? Ein
       > Erklärungsversuch.
       
   IMG Bild: Blauer Himmel in Dresden
       
       Es wirkt rätselhaft: Nach vierzig Jahren SED-Herrschaft mit einer recht
       kläglichen Simulation von Demokratie sind die Ostdeutschen seit 1990 Bürger
       der Bundesrepublik, ihre politischen Präferenzen fließen selbstverständlich
       in die Wahlergebnisse ein – von der lokalen bis zur bundespolitischen
       Ebene. Woher kommen dann [1][Unmut und das Gefühl des Übergangenwerdens],
       ja einer neuen Unterdrückung?
       
       Zur Erklärung werden meist psychologische Faktoren herangezogen. Unter
       anderem eine Art Veränderungsüberforderung, als es aus der
       DDR-Gemütlichkeit hinausging in rauere Wirklichkeiten. Ebenso spielt die
       Kränkung eine Rolle, dass [2][Ostdeutsche in den ostdeutschen Bundesländern
       bis heute – von DAX-Vorständen bis zu Professuren – deutlich
       unterrepräsentiert] sind.
       
       Kaum je rückt der Gedanke in den Blick, dass der ostdeutschen Empfindung
       des Missachtetwerdens eine tiefere – und sehr reale – Erfahrung zugrunde
       liegen könnte: die Erfahrung, dass man, Wahlen hin oder her, mit zentralen
       Anliegen nicht gehört wird. Zwei Beispiele.
       
       Ein Schlüsselerlebnis war der [3][Umgang mit Migration]. Die wurde in
       weiten Teilen Ostdeutschlands anders wahrgenommen als im Westen: Es gab
       mehr Bedenken, mehr Zweifel an der Integrationsfähigkeit, mehr Sorgen,
       wohin ein starker Zustrom führen könnte. Inzwischen sind diese Fragen Teil
       des gesamtdeutschen politischen Diskurses geworden.
       
       ## Abgekanzelt von Westdeutschen
       
       Bei den Ostdeutschen blieb aber vor allem hängen, dass sie über Jahre von
       routinierten, sich progressiv gerierenden Westdeutschen abgekanzelt wurden.
       Kaum ein Kommentar zu diesem Thema ohne den herablassenden Zusatz, die
       (ostdeutsche) Skepsis komme ausgerechnet aus Regionen mit dem geringsten
       Migrantenanteil. Subtext: Die Leute dort sind irgendwie dumm, das ist
       „Dunkeldeutschland“, politisch unzurechnungsfähig.
       
       Das sitzt. Dass manche Ostdeutsche vielleicht etwas gesehen oder
       antizipiert haben könnten, das vielen Westdeutschen erst später aufging,
       wird bis heute nicht anerkannt. Geblieben ist die Erfahrung, mit einem
       relevanten Gesichtspunkt verkannt und massiv abgewertet zu werden.
       
       Zweites Beispiel: Ukrainekonflikt. Auch in Ostdeutschland wissen die
       meisten, dass dies ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg von Seiten
       Putin-Russlands ist. [4][Nur sehen hier viele noch andere Aspekte.]
       Darunter jene, dass die westliche Erzählung vom ständig weiter
       vordringenden Russland nicht so recht plausibel erscheint, wenn die
       Nato-Grenze bis 1990 nicht weit von Hamburg verlief, heute aber nicht weit
       von St. Petersburg. Aus guten Gründen natürlich, wenn man die Sorgen und
       das Selbstbestimmungsrecht insbesondere der baltischen Staaten ernst nimmt.
       
       ## Ostdeutsche sind nicht sämtlich „Putinversteher“
       
       Nur dass der „Westen“ andererseits, wo es ihm weniger gelegen kommt,
       Selbstbestimmungs- und Völkerrecht bricht: Vietnamkrieg, Einmarsch in den
       Irak, israelische Siedlungspolitik, die ohne die Rückendeckung insbesondere
       der USA unmöglich wäre. Viele Ostdeutsche sehen diese Inkonsequenzen, die
       blinden Flecken der dominierenden politischen Lesart. Dadurch werden sie
       aber nicht gleich zu „Putinverstehern“, wenngleich sie so abgefertigt
       werden.
       
       Jenseits aller Details bei diesen Debatten, über die man trefflich streiten
       kann, bleibt als Kernbefund: Die ostdeutsche Optik könnte etwas Relevantes
       zur politischen Urteilsbildung beitragen. Aber das kommt den selbstgewissen
       Westdeutschen kaum je in den Sinn. Es ist, als hätten Menschen mit
       DDR-Hintergrund von Hause aus nur Erfahrungen zweiter Klasse zu bieten.
       Maßstab bleibt also das alte bundesdeutsche Koordinatensystem, in das sich
       die Ostdeutschen bitteschön doch endlich mal hineinfinden sollten.
       
       Bezeichnend dafür ist eine Aussage von Friedrich Merz im Wahlkampf 2024:
       „Man muss im Osten mehr erklären als im Westen, das ist wahr, aber ich tue
       es gern.“ Da ist es wieder, das herablassende Framing: Ihr seid ganz okay,
       ihr braucht nur etwas länger. Das ist eine Beleidigung.
       
       Selbstverständlich – muss man es betonen? – gibt es auch jede Menge
       ostdeutscher Inkonsequenzen. Man kann sich nur wundern über Leute, die mit
       vierzig Jahren DDR-Politikversagen kein übermäßiges Problem hatten, aber
       jetzt jeden etwas mühsameren demokratischen Aushandlungsprozess als
       „Affentheater“ bezeichnen. Oder der Zulauf zu Parteien im Osten, die die
       unterbelichteten Aspekte in der Migrations- oder Ukrainefrage aufgreifen –
       es ist deprimierend, wie groß die Bereitschaft ist, sich damit in ein
       aggressives und nationalistisches Fahrwasser zu begeben, statt die Dinge
       auf kühle und freiheitliche Weise zu thematisieren.
       
       Die große Frage ist nun: Wie kommt man aus dieser Verschanzung heraus?
       Sicher nicht durch hastige Demokratieförderprogramme, denen der Geschmack
       von Nachhilfe anhängt. Auch nicht, indem man fieberhaft nach Wegen sucht,
       um auf den von der AfD erfolgreich bewirtschafteten politischen
       Brachflächen doch noch einen Fuß auf den Boden zu bekommen. Solche Manöver
       durchschauen inzwischen alle.
       
       Es gibt nur eine Option: Jene Themen, die bislang nur selektiv und
       lediglich mit westlicher Optik beleuchtet wurden, müssen Teil einer
       umfassenden und ernsthaften Diskussion werden. Oder anders gesagt: Es geht
       um einen Diskurs, der diesen Namen auch verdient und nicht einem Versuch
       einer medial gestützten Volksbelehrung gleichkommt.
       
       Es wäre die Chance für ein öffentliches Gespräch, eines, in dem die
       bisherigen Ost-West-Konturen auf wundersame Weise in den Hintergrund treten
       könnten. Und eines, in dem die gewohnte westdeutsche Diskurshoheit an ihr
       Ende käme. Kein Grund zum Weinen. Wenn west- und ostdeutsche Perspektiven
       gar nicht mehr recht identifizierbar wären, dann wäre das ein stiller
       Erfolg. Es wäre ein Anflug dessen, was mit der vielbeschworenen inneren
       Einheit des Landes gemeint sein könnte.
       
       23 Sep 2025
       
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