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       # taz.de -- Älteste Dragqueen Polens: „Ich verberge nichts“
       
       > Lulla la Polaca prägte die queere Szene Warschaus. Mit über 70 trat sie
       > erstmals als Dragqueen auf. Eine Begegnung in der Hauptstadt.
       
   IMG Bild: Queere Ikone: Lulla la Polaca 2024 in Warschau
       
       Warschau taz | Polens älteste [1][Dragqueen] heißt Lulla la Polaca und ist
       87. Mitte August feierte sie ihren Geburtstag mit einer glamourösen
       Drag-Show und Party in einer Warschauer Bar. Wir treffen sie im [2][„Queer
       Muzeum“] im Zentrum Warschaus.
       
       Von draußen scheint das Nachmittagslicht in den Raum im ersten Stock,
       regelmäßig fährt eine Tram auf der vielbefahrenen Ulica Marszałkowska
       vorbei. Drinnen stapeln sich beschriftete Kartons aus der Sammlung des
       Lambda Archivs. Im Dezember 2024 wurde hier das erste queere Museum
       Osteuropas eröffnet.
       
       Lulla benutzt für sich selbst sowohl den Namen Lulla als auch den
       Geburtsnamen Andrzej Szwan – und wechselt zwischen er- und sie-Pronomen.
       
       „Manchmal werde ich gefragt, ob ich noch Energie für all meine Projekte
       habe. Die Antwort ist: Solange ich sprechen, mich einbringen und Teil der
       [3][queeren Community] sein kann, ist es mir eine Ehre. Ich habe zu viel
       überlebt, um jetzt einfach zu Hause zu sitzen, an die Decke zu starren und
       die Fliegen an der Lampe zu zählen“, sagt sie der taz.
       
       Andrzej wurde 1938 in Warschau geboren, bis auf einige Arbeitsaufenthalte
       im Ausland verbrachte er sein ganzes Leben hier. Der öffentliche Erfolg kam
       spät in seinem Leben, bei ihrer ersten Drag-Show war Lulla über 70. Aktiv
       in der queeren Community Warschaus war Andrzej schon viel früher.
       
       ## Schmale Riemen mit Pailletten
       
       Ein Stockwerk tiefer im Erdgeschoss des „Queer Muzeum“ ist Lullas Leben
       jetzt Teil der Dauerausstellung zu Queerness in Polen von den 1960er Jahren
       bis in die 90er. Neben Fotos und einem kurzen Text zum historischen Kontext
       stehen Lullas schwarze Highheels – ein dünner Stiletto-Absatz, am Schaft
       schmale Riemen mit Pailetten und Nieten. Sie erzählt, dass sie die Schuhe
       letztlich nie für eine Show tragen konnte – zu hoch, zu schwierig darin zu
       laufen.
       
       Heute ist Andrzej nicht in Drag, er trägt eine graue Stoffhose und ein
       T-Shirt mit floralem Muster. Das kurze Haar ist nach hinten gekämmt.
       Andrzej zeigt auf seine Füße in roten Slippers und berichtet von
       Knieproblemen.
       
       Kürzlich habe ein Arzt ihm geraten, er solle Heels vergessen, diese Zeiten
       seien vorbei. Die bequemsten Highheels aus ihrem Repertoire aus 40 Paar
       Schuhen trägt Lulla trotzdem noch regelmäßig bei Auftritten und
       Fotoshootings. Bereits vier ihrer Bühnenoutfits hat Lulla an das „Queer
       Muzeum“ gespendet. „Ich weiß, sie werden irgendwo aufbewahrt, aber wo
       sollen sie ausgestellt werden? Gibt es noch Platz an einer Lampe oder einem
       Kronleuchter?“, fragt Lulla scherzend. Der Platz im Museum und Archiv ist
       begrenzt.
       
       Die Verbundenheit zum „Queer Muzeum“ schwingt in vielen Momenten des
       Gesprächs durch. „Ich bin stolz, in einer Stadt mit einem solchen Museum zu
       leben. Es ist das fünfte queere Museum der Welt. Die letzte
       Kostümausstellung kam direkt aus den Staaten nach Warschau – hier kann ich
       Dinge sehen, für die ich sonst nach Berlin oder Paris fahren müsste.“
       
       Von unten hört man über die offene Wendeltreppe, wenn Besucher*innen im
       Ausstellungsraum Tonspuren zu Kapiteln queerer Geschichte abspielen. Lulla
       versucht an allen Treffen von Lambda Senior teilzunehmen, die Krzysztof
       Kliszczyński – Leiter des Museums und Gründer des Lambda Archivs –
       organisiert, um älteren Queers einen Raum zum Austausch zu bieten.
       
       Wenn Andrzej über sein Leben in der Polnischen Volksrepublik vor 1989
       nachdenkt, spricht er einerseits von Trostlosigkeit und davon, dass
       öffentliche Orte wie queere Clubs gefehlt haben. Doch er erzählt auch, wo
       sich die schwule Szene in Warschau traf, in welcher Reihenfolge er
       verschiedene Cafés auf der Suche nach einem Flirt oder bekannten Gesichtern
       abklapperte, welche öffentlichen Toiletten die beliebtesten Cruisingorte
       waren.
       
       ## „Man sprach nicht offen über solche Dinge“
       
       Andrzej berichtet von rauschenden Partys in den Wohnungen seiner schwulen
       Freunde. Sie nutzten weibliche Pseudonyme und kleideten sich für diese
       Anlässe in Damenroben.
       
       Besonders eindrücklich erinnert er sich daran, wie er für eine
       Silvesterparty 1987 seinen ersten Paillettenrock kaufte. Mit dabei war ein
       Freund, den Andrzej beim Namen Maryla nennt. Er hebt hervor, dass die Leute
       im Kaufhaus ganz unterschiedlich darauf reagierten, dass sich hier zwei
       Männer mit Frauennamen ansprachen und einer einen Rock anprobierte. „Einige
       lachten, andere waren überrascht, manche dachten wahrscheinlich, wir seien
       krank. So war die Zeit, in der wir lebten. Man sprach nicht offen über
       solche Dinge, aber unsere Gemeinschaft war lebendig!“
       
       Dennoch habe er der Verkäuferin auf ihr Nachfragen hin erklärt, der Rock
       sei für seine Schwester. „Ich war damals jünger als heute. Jetzt würde ich
       mich nicht so verhalten. Ich würde sagen: ‚Der Rock ist für mich, weil ich
       auf die Bühne gehe.‘ Ich habe nichts zu verbergen“, sagt Andrzej.
       
       Lulla unterscheidet zwischen den Outfits, dem Verkleiden auf privaten
       Partys damals und dem, was sie heute unter Drag und als Kunstform versteht.
       „Drag kam erst 2008 in mein Leben, durch die Begegnung mit der Drag Queen
       Kim Lee“, erzählt Lulla. Damals war sie fast 70.
       
       Lulla lernte Kim Lee nach einer ihrer Shows im Club Galeria in Warschau
       kennen. Den Club gibt es heute nicht mehr. Die Freundschaft, die sich
       ausgehend von dieser Begegnung entwickelte, veränderte Lullas Leben. Lulla
       erinnert sich daran, wie sie zum ersten Mal Kim Lees Ankleidezimmer betrat
       – auf kleinstem Raum waren Hüte, Fächer, Ketten und Handschuhe fein
       säuberlich sortiert, die Kleider hingen an Kleiderbügeln, alles hatte
       seinen Platz.
       
       Der erste gemeinsame Auftritt fand am 29. November 2012 zum Andrzejki
       statt. Der Vorabend von Andrzejs Namenstag wird in Polen traditionell mit
       Ritualen der Zukunftsdeutung gefeiert. 50 Menschen waren im Publikum in der
       Privatwohnung eines Freundes. Kim Lee schminkte Lulla, alles war
       vorbereitet.
       
       „Kurz vor dem Auftritt bekam ich Zweifel und sagte zu Kim: ‚Ich glaube, es
       macht keinen Sinn für mich, auf die Bühne zu gehen.‘ Kim war schon
       angezogen, die Perücke saß und sie sagte: ‚Tante, gib dir einen Tritt in
       den Hintern und geh auf die Bühne.‘ Und das war’s, sie ist jetzt nicht mehr
       da, aber ich wirbele immer noch über die Bühnen.“
       
       ## „Boylesque“
       
       Ende 2020 starb Kim Lee, die zu dem Zeitpunkt vermutlich bekannteste Drag
       Queen Polens, mit 48 Jahren infolge einer Covid-Infektion. In Lullas
       Erzählungen über Kim schwingen Zärtlichkeit und Wertschätzung durch. Immer
       wieder betont Lulla, wie wichtig es sei, Kim Lee zu gedenken und an das
       Erbe zu erinnern, das sie der queeren Community Polens durch ihre Kunst
       hinterließ. Zum fünften Todestag im Dezember 2025 will Lulla ein Drag-Event
       zu ihrem Gedenken organisieren.
       
       Im Mai 2022 gewann „Boylesque“, ein Dokumentarfilm über Lullas Leben, bei
       einem Filmfestival in Kanada eine Auszeichnung. „Ich habe zu Hause wie
       verrückt applaudiert“, erzählt Lulla. Sie sah den fertigen Film erst einen
       Monat später bei der Premiere in Krakau. Fünf Jahre lang hatte die
       Regisseurin Bogna Kowalczyk Lulla begleitet – in Lullas Wohnung, in der
       Auseinandersetzung mit dem eigenen Altern und dem Thema Tod, bei einem
       Ausflug mit Freunden zum CSD nach Berlin, bei Auftritten in Warschau.
       
       2024 veröffentlichte Lulla gemeinsam mit dem Journalisten Wiktor Krajewski
       ein Interviewbuch über ihr Leben. Seitdem der Film und das Buch raus sind,
       wird Andrzej beim Einkaufen oder in der Metro erkannt, junge Menschen
       fragen ihn nach Autogrammen und Fotos. Nach einem Fernsehinterview
       erreichte ihn ein Anruf einer Grundschulfreundin, die seine Nummer im
       Telefonbuch ausfindig gemacht hat. Sie hatten sich seit den 40er Jahren
       nicht gesehen.
       
       In manchen Momenten spricht Lulla bei all den Ereignissen der letzten Jahre
       von Zufall, in anderen von Schicksal. Dann gibt es auch die Momente, in
       denen Stolz durchschimmert.
       
       „Es macht mich glücklich, zu merken, dass Menschen interessiert sind. Ich
       weiß nicht, wie lange ich noch leben werde, aber es gibt Dinge, die
       bleiben: der Film, das Buch, alle Interviews, das Stück ‚Orlando.
       Biografie‘ im Powszechny Theater Archiv, das wir seit drei Jahren spielen.
       Ich wünschte nur, meine Eltern hätten all das noch miterlebt. Ich glaube,
       sie wären stolz.“
       
       ## Alle Queers sollten sich outen
       
       Andrzej erzählt, dass seine Eltern ihn und sein Schwulsein immer
       akzeptierten haben: „Ich erinnere mich daran, wie mein Vater mich und
       meinen Geliebten auf jeweils ein Knie setzte, uns umarmte und sagte, er sei
       glücklich darüber, zwei Söhne zu haben.“ Dass er immer offen schwul war,
       zieht sich durch alle seine Geschichten.
       
       Er ist erschüttert von den Erfahrungen von Freunden aus seiner Generation,
       die von zu Hause rausgeworfen wurden. Einige seiner Freunde wollten auch
       beim Dreh von „Boylesque“ nicht gefilmt werden, da sie nicht öffentlich als
       queer erkannt werden wollen.
       
       Lulla findet, alle Queers sollten sich outen. „Sich zu verstecken ist eine
       schreckliche Sache, sie lastet auf einem. Es ist unsere gemeinsame
       Verantwortung, mutig zu sein. Je mehr von uns sichtbar sind, desto mehr
       wird die Gesellschaft uns akzeptieren. Die Gesellschaft ist heute schon
       toleranter als noch vor 20 Jahren“.
       
       An ältere Queers gerichtet sagt Andrzej: „Ich liebe es, die Regenbogenfahne
       zu schwenken und mit ihr die Straße runterzulaufen. Wenn es da draußen
       Menschen gibt, die noch älter als ich und nicht out sind: Come out! Ich
       gebe euch gerne die Hand und höre zu, wie ihr die Welt seht. Vielleicht ist
       es eure letzte Chance, euch euren Familien, Nachbar*innen, lokalen queeren
       Communitys und gegenüber euch selbst zu zeigen.“
       
       Gleichzeitig verweist Andrzej auf die steigende Suizidrate unter queeren
       Jugendlichen in Polen. Er fühlt mit denen, die auch heute noch von zu Hause
       rausgeworfen werden, und ärgert sich: „Was für eine Art von Elternsein ist
       das? Respektiere die Tatsache, dass du ein Kind hast, das das Recht hat,
       sein Leben zu leben.“
       
       Andrzej erzählt nebenbei von einer unangenehmen Situation aus den letzten
       Wochen. Ein PiS-Politiker ließ sich in einem Instagram-Post darüber aus,
       dass es in Polen an Geld im Gesundheitswesen mangele, aber Ressourcen für
       TV-Interviews mit Lulla da seien. „Was für ein Idiot, wie kann mein ein
       Interview mit einem Defizit von 3,5 Milliarden Zloty im Gesundheitswesen
       vergleichen? Ich habe keinen Pfennig für das Interview bekommen. Leuten wie
       ihm würde ich auf der Straße nicht die Hand schütteln“.
       
       Nach fast zwei Stunden hat Lulla es plötzlich eilig. Sie ist noch
       verabredet mit jenem Freund, Maryla, mit dem sie 1987 zusammen den ersten
       Paillettenrock kaufte.
       
       Die Autor*innen danken Aga Molińska-Moliński für die Unterstützung bei
       der Übersetzung. Der Artikel entstand mit Unterstützung von n-ost und der
       Bildungsagenda NS-Unrecht von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und
       Zukunft und dem Bundesministerium der Finanzen gefördert
       
       26 Sep 2025
       
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