# taz.de -- Gaza-Tagebuch: „Wir warteten den ganzen Tag auf ein Auto“
> Unsere Autorin muss vor der Offensive auf Gaza-Stadt wieder einmal
> flüchten. Sie kämpft mit der Logistik – und mit einer unmöglichen
> Entscheidung.
IMG Bild: Hauptsache weg: Palästinenser fliehen aus Nordgaza entlang der Küstenstraße Richtung Süden
Ich zähle, wie oft ich in diesem Krieg bereits gestorben bin. Oder besser
gesagt: Wie oft ich getötet wurde. Es fühlte sich so an jedes Mal, wenn ich
gezwungen war, von einem Ort zum anderen zu fliehen. Jedes Mal, wenn ich
meinen Kopf auf das Kissen eines Fremden legte. Jedes Mal, wenn der Weg
„nach Hause“ in die Wohnung eines anderen führte.
Das erste Mal wurde ich am 10. Oktober 2023 getötet: Damals verließ ich
mein Zuhause in Beit Lahia – das zur „roten Zone“ im Nordosten Gazas
erklärt wurde – und zog ins Haus meiner Schwester [1][nach Jabalia]. Dann
in das Haus meiner Großmutter. Am 20. November 2023 – meinem Geburtstag –
beschlossen wir, zu Fuß Richtung Süden zu ziehen, über den
Netsarim-Checkpoint. Wir liefen fast einen halben Tag lang. Wir machten
Halt im Haus meiner Tante in Khan Yunis, – nicht weil wir das geplant
hatten, sondern weil wir einfach keine Ahnung hatten, wohin wir eigentlich
gehen sollten. Zwölf Tage später kam erneut der Befehl, dass wir nach Rafah
aufbrechen mussten. Meine Hand war damals verletzt; ich konnte nicht einmal
meine eigene Tasche tragen.
Wir kamen damals nach Mitternacht in Rafah an, ließen unsere Taschen auf
den Bürgersteig fallen und brachen neben ihnen zusammen. Ich schlief auf
dem nackten Boden und bedeckte mich mit dem Schal meiner Mutter. Die Kälte
des Winters im Gazastreifen ist gnadenlos. Ich konnte die Zähne aller um
mich herum die ganze Nacht lang klappern hören.
Der Morgen kam, aber es gab keine Unterkunft für uns. Ein Freund bot uns
einen Lagerraum unter einer Treppe an, nicht größer als vier Quadratmeter,
in einer überfüllten Schule für Vertriebene. Dreizehn von uns schliefen in
dieser Nacht dort, zusammengepfercht wie Sardinen in einer Dose. Am
nächsten Tag bauten meine Brüdern ein Zelt auf dem Schulhof aufzubauen, und
dort blieben wir.
## Zurück in mein verkohltes Zimmer
Die Monate vergingen, bis im Mai 2024 neue Evakuierungsbefehle den Osten
von Rafah erreichten. Wir flohen nach Westen in das Lager Zuarab. Doch bald
wurde die Räumung von ganz Rafah angeordnet, sodass wir erneut vertrieben
wurden. Wir zogen nach al-Mawasi, einem Küstenstreifen nahe der Stadt Khan
Younis. Dort ertrugen wir in einem Zelt die Hitze des Sommers, die Stürme
des Winters und den Staub des Herbstes. [2][Das Meer wurde zu meinem
Zufluchtsort vor einer Realität], die ich kaum mehr etragen konnte.
Und dann endlich kam der Moment, auf den wir so lange gewartet hatten: Nach
der Verkündung des Waffenstillstands Mitte Januar 2025 durften die Menschen
nach Norden zurückkehren. Auch ich kehrte zurück – in mein teils
ausgebranntes Haus, mein verkohltes Zimmer. Wir begann mit den
Renovierungsarbeiten. Ich hoffte, zumindest die Tür zu meinem Zimmer
reparieren zu können, um ein [3][Stückchen der Privatsphäre
zurückzugewinnen, die mir anderthalb Jahre lang genommen worden war]. Aber
bevor ich dazu kam, kehrte der Krieg zurück.
Am 17. Mai flohen wir erneut, diesmal in einen verbrannten, zerfallenden
Lagerraum in Gaza-Stadt. Dann, am 1. August, folgte eine weitere
Evakuierung. Zu diesem Zeitpunkt war jeder Winkel der Stadt völlig
überfüllt. Gaza-Stadt konnte seine eigene Bevölkerung nicht mehr aufnehmen.
Überall waren Zeltlager. Wir zogen also in den Norden nach al-Saftawi – das
bereits damals von einer Vertreibungsanordnung bedroht war. Wir hatten
keine Wahl, wie viele andere. Jeder Umzug kostet uns Geld für den
Transport, jede neue Unterkunft kostet uns Miete, die wir kaum aufbringen
konnten.
[4][Wir blieben bis zum 26. August 2025 in al-Saftawi]. An diesem Morgen
ging das gewohnte Summen der Drohnen in Schüsse über. Aus Lautsprechern
drangen Rufe: [5][„Sofort evakuieren“]. Drei Leichen sag ich auf der Straße
liegen – darunter eine Mutter und ihr Kind. Nachbarn schrien Warnungen,
Panik breitete sich aus. Wir warteten den ganzen Tag auf ein Auto, das uns
wegbringen sollte – von zehn Uhr morgens bis sieben Uhr abends. Und
erreichten schließlich um zehn Uhr abends das Viertel al-Nasr. Ein weiterer
Tag im Exil, ein weiterer Mord an meiner Seele.
## Gehen oder bleiben?
Jetzt schwanken wir zwischen zwei unmöglichen Entscheidungen: Im
Gouvernement Gaza bleiben, und die Konsequenzen tragen. Oder nach Süden
ziehen, wie es die Besatzungsmacht verlangt – und das Exil bitteren Tropfen
für Tropfen trinken.
Ich habe mir nun in meinem Kopf einen Zufluchtsort geschaffen: Ich sitze in
unserem mittlerweile defekten Auto und stelle mir vor, wie ich eine breite,
freie, sichere Straße entlangfahre. Eine Straße, die in Licht und Ruhe
endet.
Allein diese Vorstellung hält mich am Leben. Sie ist der einzige
Zufluchtsort für meine Seele, ein Schutzschild, das meinen Verstand vor dem
Zusammenbruch bewahrt. Ohne sie würde ich den Rest meiner Tage nur damit
verbringen, zu zählen, wie oft wir getötet worden sind.
Sawsan Al-Ajouri hat an der Islamischen Universität Gaza Englische
Literatur studiert, ihr Lieblingsautor ist T.S. Eliot. Sie schreibt seit
acht Jahren Gedichte; noch ist ihr Erstlingswerk unveröffentlicht.
Internationale Journalist*innen können seit dem Beginn des Krieges
nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“
holen wir Stimmen von vor Ort ein.
7 Sep 2025
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