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       # taz.de -- Kolumbiens Verschwundene: Medellíns Schuttberg
       
       > In Kolumbien suchen Frauen seit mehr als zwanzig Jahren nach ihren
       > Kindern, die während der Paramilitärherrschaft verschwanden.
       
   IMG Bild: Margarita Restrepo denkt jeden Tag an ihre verschwundene Tochter Carol Vanessa
       
       Medellín taz | An jenem Julitag, als sie das Mädchen in der Erde fanden,
       brach Margarita Restrepo zusammen. Ihre Gesichtszüge entglitten, der Kopf
       pochte vor Schmerz. „Ich weinte und weinte und weinte.“ Normalerweise ist
       Margarita Restrepo gut darin, stark zu sein. Wenn die anderen Frauen nicht
       mehr können, ist die kleine Frau da, reicht ihnen Kräutertee, umarmt sie in
       ihrer Trauer, in ihrer Verzweiflung.
       
       An jenem Tag aber steht sie [1][am Rand der Ausgrabungsstätte] und
       betrachtete die Fundstücke aus dem Loch, eingetütet. Eine Bluse, die aussah
       wie eine, die ihre Tochter getragen hatte. Der BH, halb gepolstert, wie
       Carol Vanessa einen hatte. Eine blaue Perle, wie von der Kette, die sie so
       gerne trug. Und dann die Zähne im Schädel, einfach perfekt. „Sie hatte kein
       Karies, nicht eine einzige Füllung.“ Auch das Alter passt, zwischen 16 und
       18 Jahren wohl.
       
       Haben sie an diesem staubigen Ort, nach all den Jahren, endlich ihre
       Tochter gefunden? Margarita Restrepo hofft es. Und hat zugleich Angst.
       
       [2][Medellín, die zweitgrößte Stadt Kolumbiens], liegt längs in einem Tal.
       Rechts und links davon ist die Stadt die Berge hochgewachsen. In einem
       dieser Berge befindet sich das größte Massengrab des Landes: La Escombrera,
       auf deutsch etwa: Schuttabladeplatz. Seit Jahrzehnten wird hier der
       Bauschutt der Millionenstadt tonnenweise abgeladen. Auch auf die Körper von
       ermordeten Menschen.
       
       Das ist seit mehr als 20 Jahren ein offenes Geheimnis in Medellín. Wo heute
       der Eingang zum Steinbruch ist, befand sich mindestens zwischen Juni 2002
       bis 2003 eine Basis von Paramilitärs. Nur etwa 200 Meter entfernt von
       Wohnhäusern.
       
       „Es gab dieses Gerücht, dass sie in der Escombrera Menschen ermordeten und
       dort vergruben. Die Leute sagten das. Aber niemand sah es, denn sie ließen
       niemanden hinein“, sagt Gustavo Salazar. Er ist Richter des Sondergerichts
       für Frieden und leitet seit 2018 Ermittlungen.
       
       [3][Ehemalige Paramilitärs], allen voran Juan Carlos Villa Saldarriaga
       alias Móvil 8, berichteten, wie Bauarbeiter in die Verbrechen hineingezogen
       wurden: Auf Befehl mussten sie mit dem Bagger Gruben ausheben, in die die
       Täter die Leichen warfen und die sie zuschütten ließen – manchmal erst nach
       der Ermordung vor Ort.
       
       Dass heute, nach mehr als 20 Jahren nach den Opfern gegraben wird, hat mit
       dem Friedensabkommen zwischen Farc-Guerilla und dem kolumbianischem Staat
       von 2016 zu tun. Es sah erstmals eine Sucheinheit für Verschwundene (UBPD)
       vor – was Opferorganisationen seit Jahrzehnten gefordert hatten – und das
       Sondergericht für den Frieden (JEP).
       
       Es soll die strafrechtliche Verantwortung für schwere Verbrechen klären,
       die während mehr als 50 Jahren bewaffneten Konflikts in Kolumbien begangen
       wurden. In der Escombrera werden dabei Taten untersucht, an denen
       staatliche Sicherheitskräfte gemeinsam mit Paramilitärs oder zivilen
       Helfern beteiligt waren.
       
       Doch noch bis 2020 wurde [4][in der Escombrera] Schutt abgeladen. Über
       Jahrzehnte hinweg erteilte die Stadtverwaltung Medellín, trotz der
       Beschwerden von Opfergruppen der Ombudsstelle und
       Menschenrechtsorganisationen, den Eigentümern immer wieder die Genehmigung
       dazu.
       
       ## Seit 2024 laufen die Grabungen in La Escombrera
       
       Seit Juli 2024 graben sie an diesem Berg, das Team des Sondergerichts für
       den Frieden, anfangs noch mit der [5][Sucheinheit für Verschwundene].
       Anthropolog:innen, Topograf:innen, Arbeiter:innen. Um zur Wahrheit zu
       kommen, müssen sie wortwörtlich einen Berg versetzen. 43.000 Kubikmeter,
       2.800 Lastwagen voller Schutt, Geröll, Erde und Müll haben sie bislang
       abgetragen.
       
       An der höchsten Stelle waren es etwa 25 Meter, die sie in die Tiefe graben
       mussten. Gegen mögliche Erdrutsche leiten sie Wasser ab, verlegen
       Drainagen. Mit schweren Maschinen haben sie sich in etwa sechs Monaten bis
       zur Schicht des Jahres 2004 vorgearbeitet. Das Ziel ist jetzt, vorsichtiger
       weitere drei Meter abzutragen, bis zum Jahr 2002. Denn in diese Zeit fallen
       die meisten gewaltsam Verschwundenen aus der Comuna 13, die Margarita
       Restrepo und andere Mütter hier suchen.
       
       Kolumbien-Reisende kennen nur einen kleinen Ausschnitt [6][der riesigen
       Comuna 13] – zwischen der Metrostation und den elektrischen Rolltreppen.
       Hier erzählt die Stadt die Geschichte, die der rechte Bürgermeister
       Federico Gutiérrez so gern mag: Wie aus der einst gefährlichsten Stadt der
       Welt, Heimat des gleichnamigen Drogenkartells, die saubere, grüne,
       graffitiverschönte Top-Destination der Digitalnomad:innen wurde.
       
       In den 1980ern galt die Comuna 13 als der Ort, aus dem Pablo Escobar unter
       den armen Jugendlichen seine Auftragsmörder rekrutierte. In den 90ern
       ließen sich dort die urbanen Milizen der Guerillas nieder, Farc, ELN und
       CAP. Danach kamen die Paramilitärs, um sie zu bekämpfen und sich den
       Drogenkorridor in den Bergen zu sichern.
       
       Zwischen 2001 und 2004 führten [7][die staatlichen Sicherheitskräfte 34
       Militäroperationen] in der Comuna 13 durch, mit dem Ziel, die Guerilla zu
       besiegen und die Stadt wieder sicher zu machen. Die bekannteste war die
       Operation Orion von Oktober 2002 bis September 2003. Mit 1.000 Soldaten,
       Geheimdienstmitarbeitern, der Staatsanwaltschaft und Vermummten.
       Paramilitärs hatten die Operation vorbereitet, arbeiteten mit Armee und
       Polizei zusammen, die Menschen willkürlich festnahmen, die dann
       verschwanden.
       
       Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat den
       kolumbianischen Staat deshalb verurteilt. Kampfhubschrauber schossen aus
       der Luft, Panzer drangen ins Viertel ein, in dem die Bewohner:innen
       eingekesselt waren. Am Ende war die Guerilla in der Comuna 13 vernichtet –
       aber die Herrschaft der Paramilitärs vom Bloque Cacique Nutibara begann.
       
       Für die Bewohner:innen bedeutete das: [8][noch mehr Terror]. Oder, in
       den Worten eines Gerichtsurteils von Medellín, das vor zehn Jahren im Zuge
       des Demobilisierungsgesetzes für Paramilitärs urteilte: „Die Mitglieder der
       Bloque Cacique Nutibara holten ihre Opfer aus ihren Häusern, fesselten sie,
       folterten und/oder erstickten sie mechanisch und zerstückelten, zerteilten
       und/oder enthaupteten sie. Anschließend begruben sie sie an Orten, die
       üblicherweise für diesen Zweck genutzt wurden, wie La Escombrera.“
       
       Laut Berichten der Sucheinheit nach Verschwundenen sind in der Comuna 13 in
       den 40 Jahren vor dem Friedensabkommen rund 500 Menschen gewaltsam
       verschwunden – allein im Jahr 2002 rund 20 Prozent, mit Abstand die
       meisten. Laut Aussagen verschiedener Paramilitärs sollen rund 70 in der
       Escombrera begraben sein.
       
       ## Seit über 20 Jahren nicht geschwiegen
       
       Margarita Restrepo hat sich die Lippen rot geschminkt und ein buntes
       Oberteil mit Glitzer übergeworfen beim Hausbesuch im Stadtteil, der
       ungenannt bleiben soll. Mehrfach musste sie wegen Drohungen umziehen. Seit
       über 20 Jahren will [9][sie dennoch nicht schweigen]. Sie engagiert sich in
       der Gruppe Mujeres Caminando por la Verdad – Frauen marschieren für die
       Wahrheit.
       
       In der haben sich Angehörige aus der Comuna 13 vereinigt, um die Wahrheit
       über die Verbrechen ans Licht zu bringen – von Vergewaltigungen bis
       Verschwindenlassen. Sie sind Mütter, Ehefrauen, Schwestern, Töchter von
       Verschwundenen – und mittlerweile sogar Enkel. Die Jüngste ist 13 Jahre
       alt.
       
       Ihr immer noch mächtigster Gegner: [10][Ex-Präsident Álvaro Uribe], der
       kurz vor der Operation Orion ins Amt kam, sie anordnete und sich auf die
       Fahnen schrieb, mit seiner „demokratischen Sicherheit“ die Ordnung im Land
       wieder herzustellen. Zu einem hohen Preis: Unter seiner Regierung
       ermordeten staatliche Sicherheitskräfte unter anderem Unschuldige und
       verkleideten sie als Guerilleros, um Erfolge vorzutäuschen, so genannte
       falsos positivos.
       
       Margarita Restrepo ist mehrfaches Gewaltopfer. Ihr Mann wurde verschleppt
       und ermordet. Er hatte gesehen, wie Polizisten einen Jungen mitnahmen, der
       nie wieder auftauchte. Restrepo fand ihn auf einem Friedhof in Medellín.
       „Zumindest glaube ich das.“ Dann haben Kriminelle ihren Sohn Steven
       erschossen, mitten in der Stadt. Da war er 17.
       
       Und schließlich Carol Vanessa. Am 25. Oktober 2002 war sie mit zwei
       Freunden für einen Besuch in die Comuna 13 gegangen, aus der die Familie
       zuvor geflohen war, und kam nie wieder. Margarita Restrepo suchte die
       Leichenhallen ab, reiste durchs Land. Bis Bewohner:innen der Comuna 13
       ihr erzählten, sie hätten Carol Vanessa und ihre beiden Freunde hoch zur
       Escombrera gebracht. [11][Von ihren sechs Kindern sind der 62-Jährigen vier
       geblieben] – und ein Enkel, den sie wie ihr siebtes aufzog.
       
       Die Fläche in der Escombrera, wo sie die Menschen zu finden hoffen, ist
       mittlerweile 7.000 Quadratmeter groß. Schräg oberhalb von ihr ist die
       Plattform der Angehörigen. Ein paar Container, ein offenes Zelt und ein
       Aussichtspunkt, von dem aus sie die Ausgrabung verfolgen können. Es sind
       fast ausschließlich Frauen. Jeden Tag fahren Autos mit Sondergenehmigung im
       Wechsel etwa zehn Frauen durch das Gelände der Baufirma hier hoch.
       
       Dort oben sitzen sie jetzt unterm Zeltdach und hantieren mit Heilkräutern.
       Eine Psychologin der Stadt Medellín und eine Psychologin der Corporación
       Jurídica Libertad begleiten sie. Auch ein Sanitäter ist immer dabei und
       misst vor der Abfahrt allen den Blutdruck. Das Warten, das Trauern, das
       Bangen geht an die Substanz.
       
       „Für die Frauen ist das emotional und körperlich sehr anstrengend. Es ist
       für sie eine große Freude, die menschlichen Überreste zu finden – aber
       gleichzeitig sind es schockierende, sehr intensive Momente“, sagt Adriana
       Arboleda. Als in der Escombrera [12][die ersten menschlichen Überreste]
       gefunden wurden, überlebte eine alte Dame die Aufregung nicht. Sie war
       starb zwei Tage später.
       
       Nach 146 Tagen Graben wurden sie fündig. Am 18. Dezember 2024 stießen sie
       auf den ersten Beweis für das, was die Mütter immer gesagt hatten: die
       Überreste zweier Menschen. Eine junge Frau, die auf dem Weg zum Treffen
       einer Jugendsportgruppe war und dort von Paramilitärs verschleppt wurde.
       Und ein 28-jähriger Mann, der geistig und körperlich behindert war.
       
       Beide stammten aus armen Vierteln. „Keines der beiden Opfer hatte
       Vorstrafen, war Gegenstand von Ermittlungen oder Verurteilungen oder in
       Geheimdienstakten erfasst“, heißt es in der Pressemitteilung des
       Sondergerichts.
       
       Das war Richter Gustavo Salazar wichtig: „Die extreme Rechte hat immer
       gesagt: Wenn sie dort begraben sind, dann aus einem bestimmten Grund. Das
       heißt, sie waren [13][Kriminelle, Guerillakämpfer, Milizionäre] oder
       Drogenabhängige. Aber wenn jemand körperlich und geistig behindert war,
       konnte er nicht am Krieg teilnehmen. So einfach ist das.“
       
       Seither haben sie mindestens vier weitere Verschwundene hier gefunden. Im
       Januar 2025 zwei junge Männer, einfache Arbeiter. Und Mitte Juli noch
       einmal zwei Personen, den Körper der jungen Frau, die Carol Vanessa sein
       könnte, und einen Mann. Mindestens – denn beim jüngsten Fund ist noch nicht
       klar, zu wie vielen Menschen die Knochen gehören. Vier Opfer konnten bisher
       identifiziert werden. Drei von ihnen hat das Sondergericht bereits
       feierlich den Angehörigen übergeben.
       
       Die bisherigen Funde und das Datum des Verschwindens belegen: „Seit Juli
       2002 wurde hier gefoltert, gemordet und begraben“, sagt Richter Gustavo
       Salazar. Über die ersten vier identifizierten Menschen weiß man, dass sie
       an Schussverletzungen starben. „In mindestens einem Fall gibt es
       ausreichende Beweise dafür, dass [14][das Opfer in einen Zustand völliger
       Wehrlosigkeit gebracht und misshandelt] wurde, wobei auch Folter nicht
       ausgeschlossen werden kann.“ Mindestens zwei wurden an Ort und Stelle
       hingerichtet.
       
       Der erste Fund in der Escombrera schlug in Kolumbien ein wie eine Bombe.
       Ein Spruch war plötzlich überall: „Las cuchas tienen razón“ – die alten
       Frauen haben Recht: Mütter wie Margarita Restrepo. An der Hauptstraße von
       Norden nach Süden malten Künstler:innen und Aktivist:innen den
       Spruch in Riesenbuchstaben auf eine Betonwand. Dazu Margarita Restrepo mit
       erhobener Faust und einem Bild ihrer Tochter – und ein Porträt von
       Kolumbiens Ex-Präsident Álvaro Uribe über Totenschädeln.
       
       „Dieses Wandbild bekräftigte, dass wir nicht verrückt waren, nicht gelogen
       haben, dass es wirklich dort Tote gab“, sagt Margarita Restrepo. All das
       hatten sich die Mütter über Jahrzehnte anhören müssen von denen, die nicht
       wollten, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Bürgermeister Federico
       Gutiérrez, ein parteinaher Verbündeter des Ex-Präsidenten Uribe, ließ das
       Wandbild übermalen.
       
       Die Empörung darüber war riesig, zumindest bei einem Teil der Gesellschaft.
       „Die Mutter ist eine Respektsperson. Niemand legt sich mit der Mutter an“,
       so Richter Salazar. Nun wurde der Spruch erneut gemalt. Diesmal nicht nur
       in Medellín, sondern auch in anderen kolumbianischen Städten, im Ausland,
       ja sogar [15][in Berlin.]
       
       „[16][Das gewaltsame Verschwindenlassen] war nie ein bedeutendes Verbrechen
       in Kolumbien, anders als die Entführungen“, erklärt Adriana Arboleda.
       Entführungen wurden traditionell von der Guerilla begangen, Menschen
       verschwinden lassen war die Handschrift der Paramilitärs. Und die
       arbeiteten im bewaffneten Konflikt mit den Reichen und Mächtigen und dem
       Staat zusammen.
       
       „Warum hat die Staatsanwaltschaft nicht nach den Verschwundenen der Comuna
       13 gesucht?“, fragt Arboleda. „Weil sie nicht wollte. Weil dahinter
       mächtige Personen steckten, weil wir hier Militäroperationen angeprangert
       haben, die vom Präsidenten Álvaro Uribe angeordnet worden waren; weil Mario
       Montoya Uribe, der sie befehligte, später Generalbefehlshaber der Armee
       wurde.“
       
       Die Menschen sollten sterben – und sie mussten verschwinden, damit die Mär
       von der neuen demokratischen Sicherheit und vor allem [17][der verbesserten
       Mordstatistik in Medellín] keinen Knacks bekam. So sagte ein Gericht in
       Medellin schon 2015, dass es Beweise dafür gebe, dass „das
       Verschwindenlassen von Personen ein Mittel war, um die Mordrate in der
       Stadt nicht weiter ansteigen zu lassen … da die Verschwundenen nicht
       gezählt wurden, die Leichen hingegen schon.“
       
       ## Die Knochen der Leichen werden untersucht
       
       Auf der mittlerweile bloßgelegten Fläche steht der Kleinbagger und zieht
       seine Schaufel in einem der abgemessenen Rechtecke zu sich. Daneben,
       unberührt vom irren Panorama der Stadt im Tal, steht ein Anthropologe und
       schaut in das Rechteck, bis auf die Augen vermummt gegen die brennende
       Tropensonne.
       
       Am blauen Himmel kreist ein Geier so nah, dass die weißen Flügelspitzen zu
       erkennen sind. Die Zacken des Baggers sind abgedeckt, die Kante gerade. Das
       Team ist auf einem Niveau, wo Vorsicht angebracht ist. Jedes Stück Plastik
       kann ein Hinweis sein – etwa Verpackungen mit Haltbarkeitsdatum, alte
       Telefon- oder Kreditkarten oder Süßigkeiten, die es nur in einer bestimmten
       Zeit gab.
       
       Unter den Augen der Angehörigen arbeitet Carlos Bacigalupo, 59 Jahre alt,
       kurz rasierte Haare unter der Schiebemütze, tiefer Bass. Der Peruaner ist
       seit mehr als 25 Jahren in der forensischen Anthropologie tätig, zum
       Beispiel bei der Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs
       für das ehemalige Jugoslawien.
       
       Seit 2014, als die Friedensgespräche mit der Farc-Guerilla begannen, ist er
       in Kolumbien. Auf dem Balkan verliebte er sich in [18][eine kolumbianische
       forensische Anthropologin]. In der Escombrera übernimmt er Aufgaben der
       Kriminalpolizei als der Fachmann der Forensischen Technischen
       Unterstützungsgruppe (Gatef) der Ermittlungs- und Anklageeinheit des
       Sondergerichts.
       
       Bacigalupo klickt sich durch Folien auf seinem Laptop. Fotos, Diagramme mit
       einem Gewirr aus farbigen Linien, Querschnitte. Aus topografischer
       Dokumentation, Satellitenbildern, Positionsbestimmung mit einem globalen
       Navigationssatellitensystem – aus all dem haben die Fachleute
       rekonstruiert, wie es hier aussah, als hier Menschen begraben wurden. Sie
       waren mit ehemaligen Paramilitärs vor Ort.
       
       Eiskalt seien die gewesen, sagt Bacigalupo, hätten ohne Emotionen
       gesprochen. Er klickt durch Satellitenbilder. „Hier ist das Grün auf einmal
       heller, was auf weniger Vegetation hindeutet. Das ist uns direkt
       aufgefallen.“ Da hat sich also der Boden verändert. Es könnte ein Hinweis
       sein, dass hier jemand vergraben wurde. Wann immer der Bagger auf etwas
       stößt, das ein Mensch gewesen sein könnte, steht alles sofort still.
       
       Die forensischen Anthropolog:innen legen die gefundenen Knochen
       zusammen und bestimmen: [19][Wie viele Menschen waren das einmal?] Sie
       interpretieren, was sie an der Fundstelle sehen. In der Rechtsmedizin
       suchen sie mittels Autopsie nach der möglichen Todesursache, nach Spuren an
       den Knochen, was den Menschen angetan wurde.
       
       Parallel dazu werden die Zähne studiert und das Erbgut mit den gesammelten
       DNS-Proben der Angehörigen verglichen. Am wertvollsten sind die der Mütter.
       „Die Mütter erinnern sich an absolut alles. Es ist beeindruckend. Ihm
       fehlte da unten ein Zahn. Oder: Er hatte ein wunderschönes Lächeln“, sagt
       Richter Gustavo Salazar.
       
       Wenn sie etwas finden, müssen sie die menschlichen Überreste am selben Tag
       bergen und in die Rechtsmedizin bringen und wenn es bis spät in die Nacht
       dauert. „Wir haben große Angst, dass jemand die Beweise stiehlt“, sagt
       Margarita Restrepo. Der Baufirma Condor, der heute das Terrain gehört,
       misstrauen die Frauen. „Das war eine der Firmen, die ihre Tore öffnete und
       erlaubte, dass hier Körper hingebracht wurden. Condor hat uns Schaden
       zugefügt.“
       
       Bacigalupo sagt, dass neben der Bürokratie und der Feinarbeit bei der
       Ausgrabung an sich die emotionale Seite schwierig sei. „Wir arbeiten
       permanent mit den Opfern. [20][Die Frauen passen immer auf, was wir tun],
       was wir nicht tun.“ Jeden Tag bringt er sie auf den neuesten Stand,
       erklärt. Die Frauen hören zu, fragen nach. Und notieren fürs tägliche
       Protokoll. Beobachten später genau, wo die Arbeiter langgehen.
       
       „Man muss ihre Angst verstehen“, sagt Bacigalupo. „Und für uns ist es auch
       schwierig, weil wir auch diese Beklemmung spüren, dass wir bloß alles
       richtig machen – und gleichzeitig finden müssen, was wir suchen.“ Seit dem
       jüngsten Fund kann er wieder nicht schlafen. Es ist die Sorge, nichts zu
       finden, sagt er.
       
       Margarita Restrepo kommt unbegleitet zur Escombrera. Ihre Kinder würden am
       liebsten alles vergessen. „Es tut ihnen weh. Sie sagen, dass sie es nicht
       aushalten, mich weinen zu sehen. Und sie haben Angst um mich“.
       
       ## Zwischen Angst und Hoffnung
       
       Wenn sie nicht mehr kann, legt sie sich auf das Sofa in dem fensterlosen
       Zimmer, das sie zu einem Schrein aus Erinnerungen ihrer Suche, ihres
       Kampfes gemacht hat, mit Fotos und Urkunden und einer riesigen
       selbstbestickten Decke an der Wand, die all die Grausamkeiten in der Comuna
       13 zeigt, den Hubschrauber der Armee, die Toten, die Menschen, [21][die mit
       Lastwagen ihre Habe wegschaffen, die Paramilitärs], ihre Tochter. Dann
       weint sie, bis der Schlaf sie überwältigt.
       
       Sie hat für ihre Tochter Gedichte geschrieben. Eins lautet: „Ich weiß, dass
       du dort bist und ich kann dich nicht sehen. Aber die Erinnerung daran lebt
       noch, wie die Trümmer dein Bild auslöschen könnten hinter den Tränen, die
       meine Augen bedecken.“
       
       Margarita Restrepo weiß noch nicht, was passieren wird, wenn die Überreste
       der Leiche wirklich zu Carol Vanessa gehören. Sie hat Angst. Und
       gleichzeitig hofft sie fieberhaft, dass sie es ist. Und dass Gott ihr die
       Kraft und Gesundheit gibt, das auszuhalten. „Das Verschwindenlassen
       verändert dich als Menschen. Ich [22][suche heute nicht nur nach Carol,
       sondern nach allen Verschwundenen].“
       
       11 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
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