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       # taz.de -- Gemeinsamkeit aushalten: Wo man singt, da lass dich nieder
       
       > Was die einen dürfen, dürfen die anderen noch lange nicht. Gemeinsamkeit
       > ist nicht einfach. Gerade auch da, wo viele zusammen sind: in der Schule.
       
   IMG Bild: Vorsicht: In der Schule sitzen oft ganz unterschiedliche Regeln im gleichen Klassenzimmer
       
       Johanna darf das Lied nicht hören, aber es wurde trotzdem nicht ausgemacht.
       So weit die spontane Rückmeldung vom morgendlichen Sportfest in der
       Grundschule. Den Rest galt es beim Mittagessen eher mühsam aus der
       Kindernase zu ziehen: Irgendein Sportverband hatte der Schule eine
       Veranstaltung ausgerichtet, mit Spielen und Bewegung und eben auch Musik –
       die scheiße war, wie mein Sohn sagt. Und ich glaube, er hat recht.
       
       Tatsächlich hatte ich vormittags schon zu Hause – ein paar Straßen weiter –
       die Fenster geschlossen, weil der durch die Siedlung wummernde Bass vom
       Schulhof nichts Gutes verhieß. Deshalb hatte ich den konkreten Song dann
       auch verpasst und musste ihn mir erst mal nacherzählen lassen. Er heißt
       „Dorfkinder“ und ist von einem Finnel oder so, der wohl auf Tiktok lebt und
       auch vom Dorf kommt. Mein Kind kannte das Lied vorher nicht, der Rest der
       Klasse aber offenbar schon. Wohl auch Johanna, deren Mutter es ihr immerhin
       ausdrücklich verboten hatte.
       
       Solche Probleme gibt es öfter in der Schule, nicht nur auf dem Dorf. Manche
       dürfen kein Fleisch in der Mensa essen und andere nicht beim Klassenzelten
       übernachten. Ich erinnere mich noch an eine Krise meines älteren Kindes,
       das mal dachte, seine kostbare Bildschirmzeit wäre dahin, weil der
       Vertretungslehrer ihnen morgens einen Kinderfilm angemacht hat, den er
       überhaupt gar nicht gucken wollte.
       
       Es ist halt schwierig, wenn die häuslichen Regeln nicht mit denen der
       Gesellschaft übereinstimmen. Demokratien müssen das aushalten. Und ich
       auch.
       
       In diesem Fall allerdings bin ich voll bei Johannas Mutter, der ich für
       ihren erzieherischen Move nur gratulieren kann. Denn „Dorfkinder“ ist
       tatsächlich auf eine Weise grässlich, die nicht nur schwer zu ertragen ist,
       sondern eben diese Mühe auch nicht lohnt. „Wir sind alle Dorfkinder, Do,
       Do, Dorfkinder“ und dann was mit Schnaps und Moped und Schützenfest. Berlin
       ist scheiße und so weiter.
       
       Das mit dem Alkohol im Lied ist mir egal. Und weil ich Johannas Mutter
       nicht kenne, weiß ich auch nicht, ob darin ihr Problem liegt. Mich
       persönlich stört eher diese pseudorohe Haltung und die aggressive Dummheit
       hinter der Provokation. Und damit ist dieses Tiktok-Gewächs im hiesigen
       Kulturangebot auch nicht allein. Als ich dasselbe Kind neulich bei der
       „Zeugnisdisco“ abgegeben habe, tropfte nicht nur – ganz wirklich – Schweiß
       von der Decke der Pausenhalle, sondern uns schepperte auch direkt der
       Ballermann-Hit von diesem Zug entgegen, der keine Bremse hat …
       
       Nebenbei: Die Feier war auch sonst total irre. Schon die Türsituation
       stellt jeden Hauptstadt-Club locker in den Schatten. Nicht wegen
       Gesichtskontrollen, sondern weil jedes Kind am Einlass erst auf einer
       Erlaubnisliste gefunden werden muss (siehe oben), um dann unterschiedliche
       Armbänder zu bekommen. Je nachdem, ob es zum Zapfenstreich alleine nach
       Hause gehen darf oder aber abgeholt wird.
       
       Na ja, und während wir so mit wachsender Beklemmung in dieser Schlange
       warten, kreischen sich unten auf dem Dancefloor schon ein paar Dutzend
       Kinder zu „Bauch! Beine! Po!“ die Seele aus dem Leib.
       
       Wie dem auch sei: Ich bin nicht wegen der Kultur aufs Dorf gezogen und will
       mich eigentlich auch nicht beschweren. Stattdessen genieße ich demütig die
       letzten paar Jahre, in denen meine Kinder zu Hause noch nicht gegen
       Post-Punk und Death Metal rebellieren, sondern wenigstens hier noch brav
       mitziehen. Man muss nehmen, was man kriegt.
       
       Und trotzdem überlege ich, Johannas Mutter im Klassen-Chat ein „Daumen
       hoch“ zu schicken. Oder mir endlich dieses ultrabrutale
       [1][Cannibal-Corpse-Shirt] zu bestellen, von dem ich schon seit dem
       allerersten Elternabend träume.
       
       3 Oct 2025
       
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