# taz.de -- Kafka-Abend am Berliner Ensemble: Das Unentrinnbare verdichtet sich
> Barrie Koskys „K. Ein talmudisches Tingeltangel rund um Kafkas ‚Prozess‘“
> verknüpft eindrucksvoll Schumann, jiddisches Liedgut und Kafkas Texte.
IMG Bild: Übersprudelndes Vaudeville in „K“ mit Kathrin Wehlisch in der Mitte
„Jemand musste mich verleumdet haben, denn ohne dass ich etwas Böses getan
hätte, wurde ich eines Morgens verhaftet“, sagt die Schauspielerin
[1][Kathrin Wehlisch], die, bekleidet nur mit einer Garnitur altmodischer
Herrenunterwäsche, soeben die Bühne betreten hat – falls „betreten“ es
überhaupt trifft, so verloren wirkt ihre Gestalt, beziehungsweise seine
Gestalt. Denn Wehlisch ist K., wie in „Josef K.“, und wie in „Franz Kafka“,
beide werden an diesem Abend eins.
„Ein talmudisches Tingeltangel rund um Kafkas ‚Prozess‘“ nennt
[2][Regisseur Barrie Kosky] die Produktion, für die er unter anderem mit
guten alten Bekannten aus der Komischen Oper zusammengearbeitet hat: Adam
Benzwi zeichnet für den musikalischen Rahmen verantwortlich, und die
Sopranistin Alma Sadé, Expertin auf dem Gebiet des jiddischen Kunstlieds,
schlüpft in die Rolle von Kafkas Geliebter Dora Diamant.
Franz Kafka war im echten Leben fasziniert von der jiddischen Sprache und
Kultur, zu der er, in dessen Familie das Deutsche als Maß aller kulturellen
Dinge galt, aber erst näheren Zugang bekam, als eine jiddischsprachige
Theatertruppe für längere Zeit in Prag gastierte. Auch Dora Diamant,
Gefährtin in Kafkas letztem Lebensjahr, war ein Mädel aus dem Schtetl und
damit wie selbstverständlich in der für den assimilierten Städter
exotisch-reizvollen Welt ostjüdischer Frömmigkeit verwurzelt.
## Die Allianz scheinbar disparater Elemente
In Koskys „talmudischem Tingeltangel“ gehen viele scheinbar disparate
Elemente eine dramaturgische Allianz ein. Welch komplexes Unterfangen das
ist, zeigt sich auch darin, dass der Abend eine Weile braucht, um zu großer
Form zu finden. Der undurchschaubare „Prozess“ gegen Josef K. wird
einigermaßen ausführlich aufgerollt, und diese thematische Exposition hat
hier und da Längen, obwohl (vielleicht auch weil) zwischendurch regelmäßig
Figuren aus ihrer Rolle treten und anfangen zu singen, meistens auf
Jiddisch. Das Ensemble beweist dabei durchweg musikalisch große Klasse und
viel komisches Talent.
Die meisten Frauenrollen werden von der hochhackig einherschreitenden
[3][Constanze Becker] gegeben, die von turmhoch oben auf K. herabblickt und
in deren komisch-stoischer Miene sich unnachahmlich feine Abstufungen von
Sadismus spiegeln. Ein wiederkehrender Running Gag ist Beckers Auftritt als
K.s Vermieterin Frau Grubach, die mit Ungeziefervernichtungsmittel um sich
spritzt, dabei auf dem Rücken einen giftig gelben Kanister mit
Käferaufdruck tragend.
Während Josef K. von allen (nicht nur weiblichen) Wesen drangsaliert wird,
wird der andere, reale K. von Alma Sadés Dora mit Liebesliedern verwöhnt.
Originär jiddisches Liedgut kommt dabei im ersten Teil des Abends zum
Einsatz, zum Ende hin sind es einzelne Herzschmerz-Nummern aus Robert
Schumanns Zyklus „Dichterliebe“, deren Texte (im Original von Heinrich
Heine) hier auf Jiddisch ganz so klingen, als könnte es gar nicht anders
sein. Im Übrigen ist die Bandbreite der musikalischen Stilistiken des
Abends enorm; und auch wenn Adam Benzwis Arrangements sich ganz organisch
zwischen übersprudelndem jiddischem Vaudeville und barockem
Hintergrundgeklinge bewegen, so kann man doch, rein inhaltlich betrachtet,
geteilter Ansicht darüber sein, ob der musikalische Kosmos eines Johann
Sebastian Bach und die Vorstellungswelten eines Franz Kafka wirklich
genügend valide Berührungspunkte haben, um ersteres sinnvoll als
Bühnenmusik zur Dramatisierung des letzteren einsetzen zu können.
## Die durchgeschnittene Kehle des fiktiven Josef K.
Im zweiten Teil des Abends verdichtet sich die Atmosphäre unbestimmter
Bedrohung, die den „Prozess“ durchwabert, zu atemberaubender
Unentrinnbarkeit. Das abstrakte Prinzip des „Gesetzes“ nimmt übergroße,
bühnenfüllende Form an, wird visuell verdeutlicht zu einem talmudischen
Über-Ich. Kathrin Wehlisch verliest die „Vor dem Gesetz“-Passage aus „Der
Prozess“ auf Hebräisch.“ Constanze Becker doziert mit faschistischer Kälte
über die Funktionsweise des tödlichen Folterinstruments aus „In der
Strafkolonie“, der finstersten [4][aller Kafkaschen Erzählungen]. Wenn K.
schließlich stirbt, so ist es nicht der sich die Seele aus dem Leib
hustende Franz, der sein Leben aushaucht, sondern der fiktive Josef K., dem
in einer surrealen Szene die Kehle durchgeschnitten wird.
Danach aber steht Kathrin Wehlisch auf, wischt sich lapidar das Blut aus
dem Gesicht und legt einen allerletzten kabarettistischen Soloauftritt hin
– eine fulminante physische Tour de Force als krönender Abschluss einer
absolut sensationellen schauspielerischen Leistung. Und ekstatischer
Schlusspunkt einer denkbar vielschichtigen Inszenierung, die man mehrmals
sehen kann, um jedes Mal neue Bezüge darin zu entdecken.
1 Oct 2025
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## AUTOREN
DIR Katharina Granzin
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