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       # taz.de -- Frauen in der Musikbranche: Hoffen auf die große Bühne
       
       > Unterwegs mit der jungen Nachwuchskünstlerin Semia auf dem Hamburger
       > Reeperbahnfestival. Warum die Musikbranche es gerade jungen Frauen schwer
       > macht.
       
   IMG Bild: Neue neue deutsche Welle: Semia bei ihrem Auftritt auf dem Heiligengeistfeld beim Reeperbahnfestival
       
       Zwei Stunden vor ihrem Auftritt steht Sarra Zina Semia Nasr,
       Künstlerinnenname Semia, auf der Freifläche zwischen Bühne und Eingang
       einer Sparkassen-Filiale auf St. Pauli. Es ist ein verregneter
       Donnerstagabend. Die Bank gegenüber der berühmten Davidwache hat als
       solche bereits geschlossen, bevor sie gleich als Konzertlocation wieder
       öffnen soll. Hinter dem Schalter zählen Mitarbeiter gerade noch
       50-Euro-Scheine. Semia blickt mit großen Augen umher. Der erste Eindruck,
       ganz wertfrei: „Auf den Bildern vom Festival-Infoblatt sah das ganz anders
       aus.“ Irgendwie größer.
       
       Ihr Konzert soll um 21 Uhr beginnen, eine „voll gute Zeit“, sagt sie. In
       den zwei Jahren, in denen die 24-Jährige mittlerweile Konzerte gibt, muss
       sie auf Festivals meist früher auf die Bühne, wenn das Publikum noch
       spärlich ist. 21 Uhr dagegen, das sei doch echte „Primetime“.
       
       40 Minuten darf sie spielen, dabei umfasst Semias Set nur 33 Minuten. Ihre
       Songs: tanzbarer Synthiepop. Wenn man eine Schublade für Semias Musik
       suchte, dann vielleicht „Neue Neue Deutsche Welle“. Größter Unterschied zur
       NDW-Zeit in den 80ern: Die Texte sind eher melancholisch und tief statt
       humorvoll. Eigentlich mag Semia diese Labels nicht, sie würde einfach
       „Indie“ sagen. Aber ja: Auch sie habe anfangs bei Instagram oder Tiktok den
       Hashtag #nndw genutzt, um Hörer zu finden.
       
       Kurze Lieder für eine jüngere Zielgruppe also. Die Zeit in der Sparkasse
       wird Semia aber trotzdem füllen können: „Ich rede dazwischen auch immer
       viel und mache meine Witze.“ Als sie im Juli für das Reeperbahn Festival
       Mitte September bestätigt wurde, schrieb sie auf Instagram: „omggg what a
       dream“.
       
       Für viele Künstler bleibt das Festival tatsächlich nur ein Traum. Als
       sogenanntes Showcase-Festival bietet es die Chance, außer für zahlendes
       Publikum auch für die Branchenvertreter der Musikindustrie und für
       Journalisten zu spielen. Eingeladen werden keine Anfänger, sondern Talente,
       denen man zutraut, dass man auch in 10, 20 Jahren noch von ihnen reden
       wird. Genau das hoffen die Musiker auch. Deshalb stehen sie hier auf der
       Bühne.
       
       Schnell ein paar Fakten: 635 Konzerte an 4 Tagen, 450 Künstler und Bands an
       70 Orten, 43.000 Besucher, darunter 5.000 Vertreter aus der Musikbranche,
       zum Beispiel von Plattenlabels oder Bookingagenturen. Erkennbar sind die
       zumeist an den stolz getragenen Akkreditierungen um den Hals.
       
       Gespielt wird nicht nur in den zahlreichen Musikklubs und Bars entlang der
       Reeperbahn, sondern auch auf Open-Air-Bühnen, in einer Kirche und in der
       Elbphilharmonie. Oder eben in der Hamburger Sparkasse, die nämlich eine
       Partnerschaft mit dem Festival hat. Trotzdem zählt die Bankfiliale, direkt
       neben einem FC-St.-Pauli-Fanshop, zu den alternativeren Spielorten an
       diesen Tagen.
       
       Die Reeperbahn selbst ist beim Festival nur Ambiente. Wer von einem Konzert
       zum nächsten will, schiebt sich zwar zwischen betrunkenen Männergruppen und
       Junggesellenabschieden hindurch, vorbei an Bierbars, Strip-Lokalen und
       Bordellen. Ansonsten aber bleiben die Welten, die Party-Crowd und das
       ernsthaft interessierte Kulturpublikum, strikt getrennt.
       
       Im Grunde ist das passend. Das Gerede von Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll war
       vielleicht immer ein Klischee. Heute erschwert das Internet-Streaming die
       wirtschaftliche Existenz von Künstlern zusätzlich. Hier, auf dem Reeperbahn
       Festival in Hamburg, treten die meisten wohl an, um eines Tages tatsächlich
       von ihrer Musik leben zu können. Gerade für nicht männliche Personen ist
       das schwierig.
       
       Ein paar Tage vor ihrem Auftritt sitzt Semia auf dem Bett in ihrem
       WG-Zimmer in der Nordstadt von Hannover. Wie bei ihren Auftritten trägt sie
       ein rosafarbenes Hemd und eine zerrissene Baggy-Jeans. Seit drei Jahren
       lebt die Musikerin in dem studentischen Viertel. In Dortmund geboren, zog
       sie nach dem Abitur nach Dänemark, lebte zunächst in einem Wohnprojekt auf
       einem Bauernhof und studierte dann Webdesign, allerdings ohne einen
       Abschluss zu machen. Nach Hannover kam sie schließlich auf den Rat einer
       Freundin, die ihr sagte, sie könne dort Visuelle Kommunikation studieren.
       
       Semias Zimmer wirkt aufgeräumt. In der Ecke steht ein Klavier, an der Wand
       sind vier Gitarren aufgeständert, zwei Kufiya-Schals hängen daneben. Semia
       hat tunesische Wurzeln, sie sagt, sie fühle sich solidarisch mit den
       Palästinenser*innen in Gaza. Dann steht Semia auf und greift nach
       einer E-Gitarre in warmen Brauntönen, ihrer ersten eigenen. „Die hat mir
       ein guter Freund in Dänemark geschenkt.“ Im Dortmunder Elternhaus und auf
       dem dänischen Bauernhof lagen Gitarren herum, doch auf denen habe sie nur
       herumgeklimpert, „ohne Rhythmusgefühl“.
       
       Der Freund sagte zu ihr: „Entweder du übst jetzt an der E-Gitarre oder du
       gibst sie weiter“, erzählt sie.
       
       Also übte Semia mit der Gitarre und begann, eigene Stücke zu erarbeiten.
       Veröffentlichen wollte sie diese eigentlich nicht – bis sie in Hannover
       jemanden kennen lernte, der mal eine Ausbildung im Tonstudio gemacht hatte.
       „Er hat meinen Songs den letzten Schliff gegeben, damit sie auf
       Lautsprechern und Kopfhörern gut klingen.“
       
       Im April 2023 stellte sie schließlich zwei Lieder auf Streamingportale,
       kurz bevor sie ein Konzert der norwegischen Sängerin „Girl in Red“ in
       Berlin besuchte. „Ich fand es cool, den Song vorher zu veröffentlichen und
       beim Konzert als QR-Code zu verteilen.“ Tatsächlich habe sie danach vier
       bis fünf positive Rückmeldungen erhalten, erzählt sie.
       
       ## Bei Böhmermann auf der Playlist
       
       Auf Instagram schrieb sie zudem ihre Lieblingsmusiker an und bat um
       Feedback für ihre Songs: „Ich hatte keine Scham.“ Tatsächlich repostete
       Edwin Rosen, einer der bekanntesten Vertreter der Neuen Neuen Deutsche
       Welle, einen ihrer Songs. Ein Musikmagazin und der Podcast von Jan
       Böhmermann und dem Musiker Olli Schulz packten Songs von Semia auf ihre
       Spotify-Listen für Musikempfehlungen.
       
       Na klar weiß Semia, dass das Reeperbahn Festival das größte
       Showcase-Festival Deutschlands ist und auch international bekannt.
       Zweimal darf sie sogar spielen, in der Sparkasse gegenüber der Davidwache
       und am Samstag auf einer Open-Air-Bühne. Ihre Erwartungen seien niedrig,
       doch vielleicht „sieht ja jemand meine Performance, findet das cool und
       dann kommt da später eine interessante Mail, die mir was bringt.“
       
       Vieles erledigte sie lange allein: Songs produzieren, promoten, Klubs
       kontaktieren, Förderanträge schreiben. Gerade die Förderanträge seien eine
       Heidenarbeit: „1.000 Seiten bürokratischer Papierkram.“ Dieses Jahr habe
       sie trotzdem bereits viele Absagen bekommen. Seit Kurzem kann sie sich
       immerhin einen Booker leisten, der potenzielle Konzertstätten für Semia
       anfragt. „Cool“ wäre es aber zum Beispiel, noch einen Verlag zu finden, der
       einen Vorschuss für Musikproduktionen zahlen würde und bei der Verbreitung
       der Songs auf Streamingplattformen hilft.
       
       Die Bezahlung in der Musikwelt ist oft miserabel: Der Streamingdienst
       Spotify zahlt im Schnitt 0,3 Cent pro gestreamtem Song. Bei 216.000
       Aufrufen ihres erfolgreichsten Songs „Grüne Augen“ wären das für Semia etwa
       650 Euro in 19 Monaten. Semia schätzt, dass sie mit Streaming etwa 50 bis
       60 Euro im Monat verdient.
       
       Auch bei Konzerten bleibt nach Abzügen für Klub, Technik und Personal wenig
       übrig. Als Support-Act stand sie schon vor bis zu 800 Leuten auf der Bühne,
       bekam aber im Schnitt nur 150 Euro pro Auftritt, erzählt sie. Inzwischen
       verdiene sie etwas mehr, vor allem bei Solo-Auftritten. „Früher habe ich
       mich da teilweise übers Ohr hauen lassen“, sagt sie.
       
       Eine Gema-Auswertung zeigt, dass im vergangenen Jahr 230.000 von insgesamt
       250.000 Konzerten in Deutschland vor höchstens 500 Besuchern stattfanden.
       Übernachtungen müssen Musiker meist selbst zahlen, auch beim Reeperbahn
       Festival. Das zeigt, wie prekär die meisten Künstler leben.
       
       Apropos Gema: Für die Nutzungsrechte ihrer Songs erhält Semia ebenfalls
       Geld, etwa wenn sie im Radio laufen – „circa 7 Euro pro gespieltem Song,
       gar nicht mal so wenig“, sagt sie.
       
       Plus Bafög komme sie als Studentin mit dem Geld, das sie mit den vielen
       Kleinbeträgen, die sie zusätzlich mit der Musik verdient, aktuell gut über
       die Runden, sagt Semia. „Aber wer weiß, wie lange das so bleibt.“ Zumal das
       Lernen durch die Musik zu kurz kommt, wie sie denkt: „Ich hatte nie
       wirklich Zeit, gut zu werden in meinem Studium.“
       
       Mehr Erfolg könnte ihr, platt gesagt, helfen: größere Konzerte, mehr
       Streams, mehr Plattenverkäufe. Blöd nur für Semia und andere Künstlerinnen,
       dass die Musikwelt in Deutschland männerdominiert ist. Im Jahr 2019 waren
       91,4 Prozent der Urheber von Songs in den deutschen Top 100 männlich,
       [1][zeigte eine Studie der MaLisa Stiftung]. Auch bei Festivals dominieren
       Männer, besonders krass bei den Big Playern mit über 40.000 Zuschauern.
       Gerne genanntes Beispiel: Rock am Ring. [2][Im Jahr 2023] etwa waren dort
       92 Prozent der Acts Männer. [3][Laut Prognosen der Künstlersozialkasse]
       verdienen weibliche Unterhaltungsmusikerinnen im Jahr 2025 15.292 Euro,
       Männer 20.424 Euro.
       
       In der Sparkasse hat Semia zusammen mit ihrer Bassistin Shania jetzt eine
       Stunde Zeit für den Soundcheck. Semia legt ihren Macbook auf einen
       tischhohen Verstärker. Die Synths und Drums spielt sie alle vom Gerät ab –
       dafür ist eine Stunde Probe eigentlich reichlich bemessen.
       
       ## Die Musikindustrie ist ein Männergeschäft
       
       Aber es kommt anders. Auftritt des Tontechnikers, Ende 50, Haarkranz und
       Ziegenbart. Als Shania, Brille und dunkle, lockige Haare, gerade auf dem
       Boden ihre Basspedale drapiert, steht er vor ihr und fragt: „Bist du die
       deutsche Antwort auf Mohini Dey, oder was?“ Irritiert-unsichere Frage
       zurück: „Wieso? Was bedeutet das?“ – „Kennst du Mohini Dey nicht, eine
       indisch-amerikanische Superbassistin, leg ich dir ans Herz, was Bassspielen
       angeht“.
       
       Später bittet Semia den Tontechniker während der Probe, ihre Stimme leiser
       zu machen. Der Mann geht auf die Bühne, stellt sich vor ihr auf: „Hast du
       schon mal etwas von Mikrofonarbeit gehört? Wenn du lauter singst, gehst du
       vom Mikrofon weg, dann wird es auch viel besser.“
       
       Es trifft sich gut, dass am nächsten Tag ein Treffen mit Rike van Kleef
       auch zum Thema Mansplaning ansteht. Die Autorin hat in diesem Jahr [4][ein
       Buch über Sexismus, patriarchale Strukturen und Ungleichheit in der
       Musikbranche veröffentlicht]. Beim Reeperbahn Festival zählt sie zu den
       gefragten Gesprächspartnerinnen. Am Freitagmorgen in einem Café im
       Hamburger Schanzenviertel ist sie noch etwas müde – am Vortag standen
       mehrere Talks und eine Lesung auf ihrem Programm.
       
       Situationen wie bei der Soundprobe seien in der Branche keine Seltenheit.
       „Musikerinnen müssen erst mal beweisen, dass sie die Kompetenzen haben“,
       sagt sie. Vieles habe sich in den vergangenen Jahren zwar verbessert – auf
       der Bühne wie dahinter. Das Bewusstsein für patriarchale Strukturen sei
       geschärft, feministische Kollektive böten neue Vernetzungsmöglichkeiten.
       Viele Künstlerinnen würden mit der Musik auch erst mal anfangen, weil sie
       Spaß und Talent hätten. Und trotzdem müssten sie dann feststellen, dass sie
       „an Hürden stoßen“.
       
       Die Musikindustrie sei ein Männergeschäft, sagt van Kleef. Männer in
       Entscheidungspositionen würden oft ihresgleichen bevorzugen. „Und das ist
       im Falle eines weißen cis Mannes eben nicht eine schwarze queere Frau.“ In
       der Soziologie nenne man das „social bias“.
       
       Auch Semia ist eine Person of Color und queer. Dazu hat sie einen
       Migrations- und Arbeiterkindhintergrund. „Bei Förderanträgen kann ich
       eigentlich alle Karten ausspielen“, sagt sie beim Gespräch in Hannover. Das
       sei ja auch nur fair, „vor allem die deutsche Musikszene ist ja super krass
       weiß geprägt“. Sie ist stolz darauf, als eine der ersten queeren
       Musikerinnen in ihrem Genre Aufmerksamkeit zu bekommen – und vielleicht
       auch andere damit zu ermutigen. Aufmerksamkeit für eine queere Musikerin
       wohlgemerkt, nicht für queere Musik, denn: „Was soll queere Musik denn
       sein? Bei queeren Artists spielt das Schlagzeug ja jetzt nicht lauter oder
       leiser.“
       
       In der Hamburger Sparkasse beschließen Semia und ihre Bassistin Shania
       nach dem Soundcheck, sich wegen dem gerade Erlebten „nicht zu sehr zu
       stressen“. Eine halbe Stunde vor der Show sitzen sie mit der Freundin, die
       für die Fotos auf ihren Konzerten zuständig ist, auf einer Wendeltreppe
       hinter der Bühne und essen Naan-Brot.
       
       Geht ja immer noch schlimmer. Semia erzählt von einem Indie-Pop-Festival in
       Erfurt namens „Blau machen“. Sicher nicht so gemeint, aber: „Blau machen,
       in Thüringen, was für ein Name“, sagt sie in Anspielung auf die hohem
       Umfragewerte für die AfD dort. Beim Konzert damals sei neben der Bühne ein
       Mann mit einem „Skinhead“-Aufnäher auf der Jacke gestanden. Als sie die
       Veranstalter darauf hinwies, hätten die nur mit den Schultern gezuckt: Man
       könne nichts tun, der Mann habe schließlich schon bezahlt.
       
       Ein Blick ins Sparkassen-Publikum vor Konzertbeginn lässt zumindest solche
       Geschichten nicht befürchten. Kurz vor 21 Uhr steht eine eher verhalten
       elektrisiert wirkende Menge von 50 Leuten vor der Bühne und füllt damit
       immerhin die halbe Sparkasse aus. Sie schauen zu, wie Semia zu den ersten
       Takten ihres Song „Schmerzhafte Euphorie“ auf die Bühne hüpft und direkt
       loslegt. Nach drei Minuten klatscht das Publikum zum ersten Mal höflich.
       
       Das Problem von Showcase-Festivals liegt in ihrer unverbindlichen Art, die
       an Online-Dating erinnert: Kein Besucher muss sich verpflichtet fühlen, ein
       Konzert bis zum Ende zu verfolgen. Es geht um ein kurzes, intensives
       Kennenlernen. Man kann nach zehn Minuten gehen, zum nächsten Act. Und viele
       tun das auch.
       
       ## Enttäuschung nach dem Auftritt
       
       An diesem Abend will nichts so recht zusammenpassen: die Sparkasse, Semias
       Musik, das höfliche Publikum. Semias Songs kreisen um das sich Verlieren in
       Sehnsucht und Liebesschmerz – und um das damit schwebende Gefühl, das man
       wohl am intensivsten in jungen Jahren spürt und beim Tanzen im eigenen
       Zimmer auslebt: „Schmerzhafte Euphorie / Ich glaub’ ich bin verliebt / Ich
       denk nur an sie / Doch sie sieht mich nie“, singt sie.
       
       Nichts also, was in eine Sparkasse gehört. Ein paar Zuhörer heben die Arme,
       einige wippen mit den Beinen, doch die meisten bleiben reglos. Von den
       anfänglich 50 Gästen sind am Ende nur noch etwa 20 übrig.
       
       Nach dem Konzert leert sich die Filiale abrupt. Semia sinkt enttäuscht auf
       die Treppe hinter der Bühne. „Echt ein komisches Gefühl, dass die Leute
       wieder gegangen sind.“ Sie habe sich nicht einmal getraut, die Leute zum
       Mitsingen bei einem Lied aufzufordern, wie sie das sonst immer tut.
       Außerdem fiel ihr auf, dass sie nur noch am Mikrofon stand, statt wie sonst
       über die Bühne zu tanzen. „Man hat echt gemerkt, dass es ein
       Showcase-Festival ist.“ Kein einziger Vertreter der Musikindustrie
       spricht Semia an diesem Abend an.
       
       Laura Gertken hört von solchen Enttäuschungen oft. Die 35-Jährige arbeitet
       bei Music Pool, einer Beratungsstelle in Berlin, das jungen Musikern den
       Karrierestart erleichtert. Mit ihrer früheren Band „Gurr“ lebte sie schon
       einmal das deutsche Rockstar-Dasein: 150 Konzerte in einem Jahr, abends in
       Mainz spielen und am nächsten Tag in New York. Auf der Reeperbahn spielt
       sie am Festival-Samstag mit ihrem aktuellen Projekt „Laura Lee & the
       Jettes“.
       
       Das klingt glamourös, und so verwundert es ein wenig, wenn Gertken am
       nächsten Tag in der Lobby eines Hotels nahe des Spielbudenplatzes ganz
       nüchtern von der 7-Kontakte-Regel erzählt und sich dabei sehr nach
       Marketing-Profi anhört. „Das bedeutet, dass ein potenzieller Kunde eine
       Marke oder Werbebotschaft siebenmal wahrnehmen muss, bevor eine
       Kaufentscheidung getroffen wird.“ Sie glaube, das sich das so ähnlich auch
       auf die Musikindustrie übertragen lasse: Damit ein Plattenlabel oder eine
       Bookingagentur jemanden anspricht, genüge manchmal nicht ein einziges
       Konzert. Es brauche auch einen Song im Radio, eine Neuerscheinung auf einer
       Spotify-Liste und ein Poster an der Straßenecke. „Und besonders wichtig:
       einen direkten Tipp von einer anderen Person“, sagt Gertken.
       
       Der heutige Streamingmarkt benachteilige Künstler stark. Andererseits, so
       Gertken: „Du wirst zu mehr und zu besseren Konditionen für Konzerte
       gebucht, wenn du 100.000 monatliche Hörerinnen und Hörer bei Spotify hast.“
       Alles hängt miteinander zusammen, doch ob es am Ende wirklich klappt, ist
       eine andere Frage: „Es gehört immer auch viel Glück dazu. “
       
       Mit ihrer früheren Band „Gurr“, sagt Gertken, konnte sie zeitweise von der
       Musik leben. „Wenn du regelmäßig in Läden mit über 1.000 Leuten spielst,
       fängt es langsam an zu funktionieren.“ Gertken will sich von der
       Musikindustrie nicht entmutigen lassen. Vor drei Jahren wurde sie Mutter,
       spielte trotzdem noch hochschwanger auf der Bühne. Heute begleitet ihr Kind
       sie oft auf Tour. Neben ihrer Solokarriere steuert sie Live-Musik zu einem
       Theaterstück in Leipzig bei, unterrichtet Schlagzeug an einer Universität,
       arbeitet an einer Musikschule für Kinder und berät bei Music Pool. „Von
       diesem Konstrukt kann ich dann leben“, sagt sie.
       
       „Wichtig ist, diese Scham rauszunehmen, dass du keine richtige Musikerin
       bist, wenn du einen Nebenjob hast. Das ist völliger Bullshit.“ Sie selbst
       kenne Leute, die erfolgreich wirken, 10.000 Follower bei Instagram oder
       100.000 Hörer bei Spotify hätten und dann trotzdem Bürgergeld beziehen
       müssten. „Es passiert halt in den meisten Fällen nicht von heute auf
       morgen, dass man von der Musik leben kann.“
       
       Am Samstagabend taucht Semia erst 40 Minuten vor ihrer zweiten Show auf dem
       Reeperbahn Festival zum Soundcheck auf. Diesmal spielt sie open air im
       zentralen „Festival Village“ auf dem Heiligengeistfeld – was wieder
       speziell ist, denn die Bühne ist ein fünf Meter hoher Balkon, vor dem das
       Publikum auf Rollrasen steht. Hoffnung macht jedoch das Wetter: Es ist der
       letzte heiße Sommertag in Hamburg, zudem ist die Bühne ohne Ticket frei
       zugänglich.
       
       Semia allerdings ist vor allem: müde. Früh am Morgen habe sie noch ein Bett
       für einen Freund ihrer Bassistin abgeholt und dafür sogar ein Auto
       geliehen. Ihr ICE-Ticket nach Hannover, eine Stunde nach der Show, hat sie
       bereits gebucht. Auch eine Methode, um die Erwartungen an sich selbst
       niedrig zu halten.
       
       Doch vom Zuschauerraum auf der Rasenfläche aus betrachtet läuft die Show
       dann ziemlich gut. 400, vielleicht 500 Zuschauer stehen dort, den Kopf nach
       hinten geneigt, um Semia zu sehen. Im Gegensatz zum Sparkassen-Auftritt am
       Donnerstag wird die Menge diesmal auch nicht weniger. Einige tanzen barfuß,
       andere wippen im Takt, Aperol in der Hand. Ganz vorne singen mindestens
       zwei Fans alle Texte mit.
       
       „Das lief viel besser als gedacht, viel geiler als Donnerstag“, sagt eine
       strahlende Semia, als sie 20 Minuten nach dem Konzert aus dem
       Künstlerbereich kommt. Und dann fügt sie hinzu: „Gerade hat mich ein Mann
       von einer Künstleragentur aus der Schweiz angesprochen. Ich soll mich mal
       melden.“
       
       2 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.malisastiftung.org/studien/gender-in-music-charts-werke-und-festivalbhnen
   DIR [2] https://www.rollingstone.de/96-prozent-maenner-kritik-an-festival-line-up-bei-rock-am-ring-rock-im-park-3017273/
   DIR [3] https://miz.org/de/statistiken/ksk-musik
   DIR [4] https://www.ventil-verlag.de/titel/1977/billige-platze
       
       ## AUTOREN
       
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