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       # taz.de -- Tag der deutschen Einheit: „Berlin ist heute dreigeteilt“
       
       > 35 Jahre nach der Vereinigung ist Berlin das erfolgreichste „ostdeutsche“
       > Bundesland, sagt Ökonom Martin Gornig. Doch andere Hauptstädte sind viel
       > weiter vorn.
       
   IMG Bild: Das „Begrüßungsgeld“ von 100 D-Mark gab es schon am 1. Juli 1990 – der Schock der Wiedervereinigung kam dann später
       
       taz: Herr Gornig, seit dem Beitritt der DDR zur BRD am 3. Oktober 1990 sind
       35 Jahre vergangen. Kennen Sie ein Ostberliner Produkt, was noch im
       Supermarkt steht? 
       
       Martin Gornig: Club Cola. Und wie heißt dieses Waschmittel? Also nein, ich
       kenne wohl nicht viele Produkte aus Ostberlin.
       
       taz: Vielleicht liegt das an der Wucht, mit der die Wende den Osten
       getroffen hat. Alte Bundesländer prallten auf neue, in Berlin wuchsen zwei
       Städte zusammen. Gibt es zwei Geschichten der Wiedervereinigung? 
       
       Martin Gornig: Es gibt einen großen Unterschied in der Vereinungsgeschichte
       Berlins und der von Ost und West. Westberlin war etwas ganz Besonderes, im
       Prinzip ein ökonomisches Kunstprodukt. [1][Das war keine funktionierende
       kapitalistische Metropole] – es hatte eine wirtschaftliche Entwicklung, die
       maßgeblich durch Fördermittel aus Westdeutschland bestimmt war. Die
       Deindustrialisierung, die wir in Ostdeutschland erleben mussten, die kam –
       wenn auch mit zeitlicher Verzögerung – auch auf große Teile in Westberlin
       zu. Vor der Wende war dort etwa die Tabakwarenindustrie wichtig. Die gibt
       es quasi nicht mehr. Die ganze Ernährungsindustrie ist sehr stark
       zusammengeschrumpft. Die ehemals so wichtige Elektroindustrie hat auch
       viele Sparten abgebaut. Wenn man alles aufzählen würde, was nach der Wende
       so schloss, wäre die Liste fast genauso lang wie bei Ostberliner
       Kombinaten.
       
       taz: Das würde ja der klassischen Erzählungen widersprechen: Der Westen hat
       an der Wende gewonnen, er hat den Osten verhökert. 
       
       Martin Gornig: Es gibt Verlierer im Osten wie im Westen, genauso wie es in
       beiden Teilen die Chancen-Ergreifer gibt, die das irgendwie als
       Erfolgsstory schreiben. Sicherlich hat es dabei eine Rolle gespielt, aus
       welcher Generation man kam. Diejenigen, die die zum Zeitpunkt der Wende in
       ihrem Berufsleben etabliert waren und den Arbeitsplatz verloren, die haben
       natürlich stärker verloren. [2][Andererseits ist die
       Gewinn-Verlust-Rechnung auch sehr individuell.] Für manche ist der Gewinn
       die Freiheit, das Ausleben der individuellen Fähigkeiten, für andere die
       Lohnhöhe.
       
       taz: Ist heute die Integration der ostdeutschen Bundesländer gelungen? 
       
       Martin Gornig: In die Sozialversicherungssysteme auf jeden Fall. Wir haben
       jetzt gerade erreicht, dass die Rentenpunkte im Osten und Westen gleich
       sind. Ostdeutschland ist heute Teil des gesamten Wirtschaftsraums, spielt
       also nach den gleichen Regeln und kann durchaus auch erfolgreiche
       Entwicklungen vorweisen. Wenn man mal die Produktivität als Maßstab für die
       wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nimmt, dann liegen die ostdeutschen
       Bundesländer, einschließlich Westberlins, bei 90 Prozent vom
       Bundesdurchschnitt. Zum Vergleich: Als wir 1991 mit den Statistiken
       gestartet haben, war man bei 50 Prozent.
       
       taz: Was ist mit den Löhnen? Haben die sich angeglichen? 
       
       Martin Gornig: Wir haben aktuell Berechnungen zur Produktivität anhand der
       Wertschöpfung pro Beschäftigten vorgenommen. Und der wesentliche Teil der
       Wertschöpfung sind die Löhne. Das bedeutet: Die wesentlichen Entwicklungen
       und Strukturen, die wir für die Produktivität ermittelt haben, findet man
       auch bei den Löhnen. Viele Regionen in Ostdeutschland haben sich ähnlich
       strukturierten Regionen in Westdeutschland angeglichen, das gilt für die
       Löhne wie für die Wertschöpfung insgesamt. Der Faktor „Ost“ ist also heute
       nicht der entscheidende, wichtiger sind Effizienzvorteile in den größeren
       Städten oder eben ländliche Strukturprobleme. Und ländliche Regionen haben
       wir eben in den neuen Bundesländern viel mehr.
       
       taz: Der Vergleich zwischen Ost und West ist also einer zwischen Stadt und
       Land? 
       
       Martin Gornig: Ja, im Prinzip ist es ein Stadt-Land-Gefälle, womit wir zu
       kämpfen haben! Wenn man ländliche Regionen in Ostdeutschland und
       Westdeutschland miteinander zu vergleicht, dann gibt's eigentlich gar keine
       Unterschiede. Sie haben die gleichen ökonomischen Probleme, die wir
       Regionalökonomen ziemlich klar auch auf die fehlenden Ballungsvorteile
       zurückführen können: Ländlichen Regionen fehlt etwa die gemeinsame Nutzung
       einer soliden Infrastruktur, aber auch ein großer Arbeitsmarkt, auf dem Sie
       als Unternehmen Ihre Angestellten auswählen können.
       
       taz: Und wenn man nur die Produktivität in größeren Städten vergleicht? 
       
       Martin Gornig: Wenn es eine Sache gibt, bei dem der Osten bisher nicht
       aufgeholt hat, dann sind es die erfolgreichen großen Metropolen. In den
       alten Bundesländern haben zum Beispiel Städte wie München, Stuttgart und
       Hamburg eine extrem hohe Leistungsfähigkeiten entwickelt. Und von diesem
       Typus von Stadt, der das überhaupt könnte, gibt es in Ostdeutschland
       eigentlich nur drei: Leipzig, Dresden und Berlin.
       
       taz: Woran hakt es bei denen? 
       
       Martin Gornig: Der Prozess ist einfach noch nicht abgeschlossen. Gegenüber
       Duisburg und Gelsenkirchen ist der Rückstand von Leipzig und Dresden aber
       mittlerweile nicht mehr groß. Ostdeutsche Zentren spielen also in der
       gleichen Liga wie westdeutsche Städte, aber gegenüber den Erfolgreichen ist
       der Abstand noch da. Man könnte sage, die Aufgabe der Berliner
       Landesregierung ist jetzt, genauso erfolgreich zu werden wie Hamburg und
       München.
       
       taz: Wie läuft die Aufholjagd? 
       
       Martin Gornig: Die Industrieentwicklung ist nicht der große Renner. Aber
       Berlin ist das erfolgreichste der neuen Bundesländer, weil hier
       Standortvorteile wirken. Die Dienstleistungsentwicklung in Berlin ist sehr
       dynamisch. Die Stadt ist die Gründermetropole. Der Onlinehandel ist hier
       sehr erfolgreich. Entsprechend ist Berlin auch das einzige neue Bundesland,
       welches den bundesdeutschen Durchschnitt erreicht.
       
       taz: Aber nicht über ihn hinausgeht … 
       
       Martin Gornig: Ja genau. Wenn man international schaut, wo Hauptstädte wie
       Madrid, Paris oder Rom im nationalen Vergleich liegen, dann sind alle
       deutlich über dem Landesdurchschnitt. Berlin liegt jetzt gerade mal ein
       Prozent drüber.
       
       taz: Gibt es innerhalb der Berliner Bezirke noch ein wirtschaftliches
       Gefälle zwischen Ost und West? 
       
       Martin Gornig: Das ist schwer zu sagen, weil seit 20 Jahren Ost- und
       Westberlin statistisch nicht mehr getrennt erfasst werden. Der Grund ist,
       dass wir in Berlin mehrere Bezirke haben, die über die ehemalige
       Teilungslinie hinausgehen. Das sind Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte, wo
       Tiergarten und Wedding aus dem Westen und der alte Ostbezirk Mitte
       zusammengeführt wurden. Daten unterhalb der Bezirksschwelle werden
       praktisch aber nicht ausgewiesen. Gleichzeitig gibt es viele Unternehmen in
       Berlin, die mehrere Standorte in der Stadt haben. Bestimmte Informationen
       bekommen sie aber nur für das ganze Unternehmen, nicht für jede einzelne
       Filiale. Den Gewinn eines Unternehmens können sie also nicht im
       Ost-West-Vergleich messen. Außerdem arbeiten Menschen oft nicht dort, wo
       sie wohnen. Und wenn sie nicht arbeiten, dann nicht, weil sie gleich
       nebenan keine Arbeit finden, sondern weil sie überhaupt gar keinen Job in
       der Stadt finden.
       
       taz: Die Stadt ist also nicht mehr geteilt? 
       
       Martin Gornig: Es gibt eine gewisse Dreiteilung: Ost und West lebt in
       peripheren Lagen weiter. Wir finden die Ostquartiere in Gewerbegebieten wie
       Hellersdorf. Wir finden Westquartiere in Gewerbegebieten in Spandau, im
       Märkischen Viertel oder in der Gropiusstadt. Diese Quartiere funktionieren
       noch ganz ähnlich wie vor der Wende. [3][Andere Standorte wie in
       Berlin-Mitte oder Kreuzberg haben dagegen wenig mit dem zu tun, was dort
       vor 40 Jahren war.] Das ist der dritte Teil Berlins, der weder West noch
       Ost, sondern einfach neu ist.
       
       taz: Wenn ich an ein Gewerbegebiet denke, sehe ich einen Baumarkt,
       Bürohäuser und eine Imbissbude. Woran erkenne ich den Unterschied zwischen
       Ost und West? 
       
       Martin Gornig: Das können Sie nicht sehen. Es geht dabei um wirtschaftliche
       Netzwerke, die auf lokaler Ebene ehemalige West- oder Ostunternehmen mit
       zum Beispiel Handwerkern pflegen. Solche Kooperationen sind in ihrem
       Kreislauf geschlossen, man könnte sie als alt bezeichnen. Andernorts findet
       man völlig neue Kooperationen, denken Sie an den Technologiepark Adlershof
       zum Beispiel. Dort sitzen Teile der Humboldt-Universität, aber auch eine
       ganze Reihe von Unternehmensgründungen, die versuchen, Produktionen
       aufzubauen. Das ist kein Ost-Netzwerk und es ist kein West-Netzwerk,
       sondern das ist ein neues Netzwerk.
       
       taz: Bei der Bundestagswahl 2025 nahm die AfD in den Ostbezirken um 7
       Prozent auf knapp 20 Prozent zu, in Westberlin kletterte die Partei nur mit
       einem Plus von knapp 5 Prozent auf 12 Prozent. Sprechen diese Ergebnisse
       nicht doch für eine Ost-West-Teilung? 
       
       Martin Gornig: Ich würde zumindest verneinen, dass diese unterschiedlichen
       Wahlergebnisse ihre Hauptursache darin haben, dass die wirtschaftliche
       Entwicklung in den Bezirken anders ist. Fakten findet man dazu kaum. Das
       gilt übrigens für den ganzen Osten. Welche Gründe darüber hinaus wirken,
       müssen Wahlforscher herausfinden.
       
       3 Oct 2025
       
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