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       # taz.de -- Proteste in Frankreich: „Ob Lecornu oder ein anderer…“
       
       > Während der neue französische Premier Lecornu sein Amt antritt, wird im
       > ganzen Land demonstriert. Es ist vielleicht die erste Runde einer
       > Eskalation.
       
   IMG Bild: „Bloquons tout!“: Unter dieser Parole gab es am Mittwoch wie hier in Paris in ganz Frankreich Demonstrationen
       
       Paris taz | Der Bildschirm des Nachrichtensenders BFM war zweigeteilt,
       damit die Zuschauer das gleichzeitige Geschehen am vergangenen Mittwoch in
       Echtzeit verfolgen konnten. Das war praktisch, und es war zugleich
       sinnbildlich: Rechts der Hof des Pariser Regierungspalasts Matignon mit den
       versammelten Ministern der scheidenden Regierung samt ihren engsten
       Mitarbeitenden. Gutgekleidete und meist zufrieden dreinblickende Menschen.
       Links bewegte Szenen von [1][Besetzungsaktionen, Sit-ins, Barrikaden auf
       Straßen oder vor Schulen in Paris und den Regionen].
       
       Die daran Beteiligten sind erfahrene Aktivisten und bescheiden gekleidete
       Leute, es verbinden sie der Zorn und manchmal auch die Angst in ihren
       Gesichtern. Beides sind Bilder des gleichen Tages in Frankreich, und doch
       zwei verschiedene Welten, die sich nicht verstehen und nicht mehr
       miteinander reden. Es sind zwei Hälften desselben Landes, die sich nicht
       ergänzen, sondern gegenüberstehen.
       
       „[2][Le 10 septembre, bloquons tout!]“ („Legen wir alles lahm am 10.
       September!“) lautete die Parole für den Aktionstag. Eine sehr ehrgeizige
       Zielsetzung für [3][eine Mobilisierung, über die zunächst nur vereinzelt in
       den Sozialen Netzwerken geplaudert wurde]. Doch dann nahm die Idee, der
       Unzufriedenheit Luft zu machen, plötzlich Formen an. Linke Parteien und
       einige Gewerkschaftsverbände sprangen auf den anfahrenden Zug auf. Die
       Medien interessierten sich für die Aussicht auf eine Neuauflage einer
       Revolte im Stil der „Gilets jaunes“, der „Gelbwesten“, die 2018/2019 die
       Staatsmacht erzittern ließen.
       
       ## Mehr als ein Strohfeuer
       
       Das Land wurde am 10. September nicht lahmgelegt. Aber was ablief, war mehr
       als ein Strohfeuer, vielleicht eine erste Runde vor einer Eskalation. Für
       den darauffolgenden Donnerstag kündigten dieses Mal die großen
       Gewerkschaftsverbände landesweite Streiks an. Der polizeiliche
       Nachrichtendienst hatte im Vornherein der Regierung versichert, der Aufruf
       werde nicht mehr als 100.000 Menschen auf die Straße bringen, die
       Ordnungskräfte hätten das im Griff.
       
       Am Mittwochabend räumte das Innenministerium ein, dass sich nahezu doppelt
       so viele Menschen beteiligt hätten. Die Gewerkschaft (CGT) schätzt, dass
       250.000 Menschen mitgemacht haben. Viele von ihnen haben sich erstmals auch
       an Aktionen des zivilen Ungehorsams beteiligt, bei denen es zum Teil zu
       harten Zusammenstößen mit der Polizei kam.
       
       Polizei und Gendarmerie rückten mit dem fast bürgerkriegsähnlichen Aufgebot
       von 80.000 Angehörigen an, hinzu kamen Drohnen, Hubschrauber, Wasserwerfer
       und das übliche Arsenal an Tränengasgranaten. Doch auch die zum Teil
       brutalen Interventionen vermochten nicht zu verhindern, dass an mehr als
       800 Orten im Land diverse Aktionen und improvisierte Demonstrationen ohne
       behördliche Bewilligung und trotz des Risikos, mit Tränengas angegriffen zu
       werden, stattfinden konnten.
       
       Vor dem Matignon-Palast reichten sich am selben Tag der [4][abtretende
       Premierminister François Bayrou] und [5][sein Nachfolger Sébastien Lecornu]
       feierlich die Hand zur Amtsübergabe vor den Kameras. Wird der neue
       Regierungschef lange genug im Amt bleiben, damit es sich lohnt, sich seinen
       Namen zu merken? Als Antrittsgeschenk hat ihm die linke Oppositionspartei
       La France insoumise (Das unbeugsame Frankreich, FLI) einen
       Misstrauensantrag bei der erstbesten Gelegenheit versprochen, die womöglich
       zu seinem Rücktritt führen könnte.
       
       Zudem will LFI den Prozess zur Absetzung von Staatspräsident Emmanuel
       Macron einleiten, was zumindest laut Verfassung möglich wäre. Über den
       Antrag muss in beiden Parlamentskammern abgestimmt werden. Da aber eine
       Dreiviertelmehrheit der Senatoren und Abgeordneten erforderlich wäre, hat
       dieser Prozess kaum Aussicht auf Erfolg.
       
       ## Die Kluft zwischen dem politischen und dem reellen Leben
       
       „Ob Lecornu oder ein anderer, das ist mir völlig egal. Das ist eh dieselbe
       neoliberale Politik, die nach rechts abdriftet“, meint Félix, ein
       Geografiestudent, der sich mit anderen Studierenden sowie Schülerinnen und
       Schülern eingefunden hat, um ein Lycée im Zentrum von Paris zu blockieren.
       Andere Demonstrierende haben bereits Schilder mit spöttischen Kommentaren
       zur Ernennung des neuen Regierungschefs angefertigt. Sie erwarten nichts,
       auch wenn sie hören, dass Lecornu sagt, er wolle für seine Amtsführung
       nicht nur einen „Bruch mit der Form und Methode“, sondern auch
       „tiefgreifende“ Änderungen.
       
       In den Kundgebungen waren neben „Macron démission!“ („Macron: abtreten!“)
       Sprechchöre wie „Lecornu, on en veut plus! “ („Lecornu, von dem haben wir
       bereits genug“). Eine Chance räumen die Demonstrierenden Lecornu also nicht
       mehr ein. Zu lange haben sie schon den Eindruck, das „die da oben“ in Paris
       völlig taub für ihre Not- und Protestrufe seien. Lecornu scheint indes doch
       hingehört zu haben, da er in seiner kurzen Rede gesteht, es bestehe „eine
       Kluft zwischen dem politischen Leben und dem reellen Leben“, eine
       vielleicht unüberwindbar gewordene Distanz zwischen der Politik und dem
       Alltag vieler Mitbürger.
       
       „Ich spüre einen großen Ras-le-bol (Koller) zu dem, was in Frankreich
       läuft. Man redet uns ständig von den Milliarden Schulden… aber dafür kann
       ich doch nichts, ich habe nicht die Politik bestimmt, sondern diejenigen,
       die uns regieren“, sagt dem [6][Online-Magazin Mediapart]der 50-jährige
       Lastwagenfahrer Michel, der im lothringischen Metz zum ersten Mal in seinem
       Leben an einer Demo teilnahm.
       
       ## Der neue Premierminister will den Volkszorn ignorieren
       
       Anruf in der Picardie, einer Region nördlich von Paris, einer ehemaligen
       Industriegegend. Der 69-jährige Rentner Michel Audidier hat in der hier bei
       allen Aktionen der [7][Gelbwesten] mitgemacht. Dass er jetzt wieder
       symbolisch auf die Barrikaden steigt, sei selbstverständlich, bestätigt er
       am Telefon. „Die Wut brodelt seit Langem. Was zum Auslöser wird, weiß man
       nie im Voraus“, kommentiert er die neue „Bürgerbewegung“, wie er die
       Mobilisierung nennen möchte. Dass Bayrou in seiner unsozialen Sparpolitik
       zwei Feiertage streichen wollte, an denen dann unbezahlt gearbeitet werden
       sollte, habe nicht nur bei ihm das Fass des Unmuts zum Überlaufen gebracht.
       
       „Macron sagt, die Verschuldung gehe auf unser Konto. Sowas wollen wir nicht
       mehr hören. Die Leute, die mit ihrer Arbeit Frankreich am Leben halten,
       haben das Recht respektiert zu werden!“ Ganz so spontan sei der 10.
       September nicht, denn in der Picardie, und vermutlich auch anderswo, seien
       Ex-Gelbwesten eng in Kontakt geblieben, sie hätten über Grundsätzliches
       diskutiert: über weitergehende Forderungen und eine „wirkliche Demokratie“.
       
       Elie Michel, Politikwissenschaftler an der Hochschule Science Po in Paris
       und der Universität Lausanne, glaubt „eher nicht, dass Frankreich an der
       Schwelle einer Revolution steht“. Tiefgreifende Reformen der Institutionen
       seien dennoch nötig: „Frankreich steckt in einer politischen Krise, die
       mehr ist als bloß eine Fin de règne (Endzeitkrise). Ich denke nicht, dass
       diese überwunden werden kann, ohne dass sich an den Institutionen der
       Republik etwas Wesentliches geändert wird“. Diese Institutionen seien
       konzipiert worden, um der Staatsführung jeweils starke Mehrheiten zu
       verschaffen. Das funktioniere heute nicht mehr, da es jetzt drei Blöcke
       gebe, die gegenseitig eine Mehrheitsbildung verhinderten.
       
       Der neue Premierminister will den Volkszorn ignorieren. Er ist zu seinem
       Amtsbeginn nicht etwa in die Regionen gefahren, um sich die Klagen der
       unzufriedenen Bürger anzuhören oder ihnen wenigstens ein offenes Ohr für
       ihre Anliegen zu versprechen. Nein, er trifft sich zuerst mit den Spitzen
       der politischen Parteien. Man bleibt da unter sich. Das ist bequemer und
       weniger riskant.
       
       12 Sep 2025
       
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