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       # taz.de -- Max Goldt neues Buch „Aber?“: Kurven bauen und Kurven kriegen
       
       > Schön an Max Goldts neuem Buch „Aber?“ sind nicht nur die Erinnerungen an
       > Wiglaf Droste. Nur mit der Sprache hadert der Autor unzeitgemäß.
       
   IMG Bild: Schal(k) im Nacken: Max Goldt
       
       Berlin taz | Es gibt eine Szene in der US-Zeichentrickserie „The Simpsons“,
       in der eine aufgebrachte Mutter bei einer Angelegenheit, die mit Kindern
       überhaupt nichts zu tun hat, verzweifelt ausruft: „Kann denn nicht
       wenigstens einmal auch jemand an die Kinder denken?“
       
       Der Gag funktioniert eher in den USA, denn das Wohlbefinden von Kindern
       gilt dort als Argument, das jederzeit und überall gültig ist und deswegen
       besonders gern von rechten und konservativen Scharfmachern als Nebelkerze
       benutzt wird. In Deutschland hingegen interessiert sich für Kindeswohl
       bekanntermaßen keine Sau.
       
       Würde man die „Simpsons“-Szene hierzulande mit vergleichbarem
       humoristischen Gehalt reproduzieren wollen, müsste der Satz vielleicht
       lauten: Kann denn nicht wenigstens einmal auch jemand an die Sprache
       denken? Denn wenig bringt Deutsche so sehr auf die Palme, wie wenn jemand
       an ihren geliebten Wörtern herumzuschrauben droht. „Gender-Wahn“ und
       „Genderismus“ sind längst geläufige Kampfbegriffe im konservativen bis
       rechtsextremen Spektrum, randvoll mit künstlicher Erregung.
       
       ## Gassenhauer Sprachverfall
       
       Bücher, die vor dem Verfall der deutschen Sprache warnen, verkaufen sich
       verlässlich seit Erfindung der Buchpreisbindung. Und knapp zwanzig Jahre
       später gibt es immer noch Autorinnen und Autoren, die sich der
       Rechtschreibreform von 1996 verweigern.
       
       Einer davon ist der Schriftsteller Max Goldt, über dessen zahlreiche
       Veröffentlichungen in der Regel geurteilt wird, sie seien kleine Festspiele
       der deutschen Sprache, auch und gerade, weil er sich der Modernisierung
       derselbigen ein Stück weit entsagt.
       
       Sein neuestes Buch trägt den Titel „Aber?“. In gewohnt literarisch
       freimütiger Art und Weise widmet er sich dort dem nicht nur sprachlichen
       Alltag. Was er nicht so direkt ausdrücken möchte, verpackt er in kleine
       Dramolette.
       
       ## Von Frisöse zu Friseurin
       
       In einer Szene, die sich eingangs mit der Ablösung des Wortes „Frisöse“
       durch „Friseurin“ beschäftigt, findet etwa dieser Dialog statt: „Der
       Bourgeois: Ich gönne Ihnen Ihre ‚subtile‘ Mutter, aber heute hat man
       Respekt vor Frauen! Das Kerlchen: Na klar! Weiß ich doch! Haben Sie schon
       gehört, daß der Platz vor dem Kölner Bahnhof umbenannt werden soll in
       ‚Platz des Respekts vor Frauen‘?“
       
       Die einen streiten über die fortschrittlichste Vokabel, während in
       derselben Gegenwart, wie etwa zur „Kölner Silvesternacht“ 2015, Frauen so
       scheußlich behandelt werden wie in grauer Vorzeit. Witzig! Clever! Fast
       will man das Buch energisch zuklappen und eine Folge „Nuhr“ in der ARD
       schauen, wo ein anderer Mann Witze macht, die in die exakt selbe Kerbe –
       wohl eher: Kerb*in, hehe – schlagen, nur eben ohne literarische Begabung.
       
       Es wäre aber doch reichlich unfair, Max Goldt in eine Schublade mit dieser
       unsäglichen Zunft zu stecken, die sich in Deutschland „Kabarettist“ –
       schlimmer noch: „Comedian“ – nennt. Zwar ist die Haltung manchmal
       vergleichbar, vor Dummheit schreckt der Autor in seinen prosaischen
       Beobachtungen aber glücklicherweise doch konsequent zurück. Einmal
       beschreibt er eine fiktive Zukunft „voller Moscheen“, baut dann aber eine
       Kurve, die er auch kriegt: In der erdachten Welt sind alle Moscheen
       verlassen, weil es keine religiösen Menschen mehr gibt.
       
       ## Liebevoll und unpathetisch
       
       Besser gelingen ihm Kapitel, die kein Kommentar zum Zeitgeist sein wollen.
       Die Anekdoten aus seinem Autorenleben sind farbenfroh und weise, [1][seine
       Erinnerung an den verstorbenen taz-Autor Wiglaf Droste] ist wunderbar
       liebevoll und erstaunlich frei von Pathos.
       
       Auch eine sonst klassisch konservative Disziplin – die Litanei gegen den
       öffentlich-rechtlichen Rundfunk – gerät ihm kongenial: „Sollte aber jemand
       in nächster Zeit nach Hamburg oder Mainz kommen, möchte ich darum bitten,
       dort doch mal an die entsprechenden Türen zu klopfen und eindringlich, aber
       höflich zu fragen, ob es nicht möglich wäre, sich ein bißchen mehr Mühe zu
       geben.“
       
       Dennoch will man Goldt von Zeit zu Zeit an sich selbst erinnern, zum
       Beispiel an diese Passage aus seinem Buch „Wenn man einen weißen Anzug
       anhat“ (2001): „Kabarettisten und ihr Publikum erwecken schon seit zehn,
       fünfzehn Jahren den Eindruck, es gebe nichts Lächerlicheres als gesunde
       Ernährung, Friedens- und Umweltaktivitäten, Emanzipation benachteiligter
       Gruppen etc. […] Kabarettisten und Comedians sind heute Handlanger des
       Backlash, Formulierungshelfer des Establishments.“
       
       Da schreibt Goldt auch „bisschen“ noch mit „ß“, „telefonieren“ mit „ph“ und
       – [2][oh Schreck, das tut er ja immer noch!] Kann denn nicht wenigstens
       einmal auch jemand an die Sprache denken?
       
       21 Sep 2025
       
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