URI: 
       # taz.de -- Rolle der Computerspiele im Fall Kirk: Alles ein zynischer Spaß
       
       > Charlie Kirk und sein Attentäter wurden in einem Onlineparalleluniversum
       > sozialisiert. Dort fließen Gewalt und rechtsextreme Ideologien
       > ineinander.
       
   IMG Bild: Mahnwache für Charlie Kirk in Utah
       
       Möglicherweise wird man sich in einigen Jahren an das [1][Attentat auf
       Charlie Kirk] als eine amerikanische Version des Reichstagsbrands erinnern.
       Die Nationalsozialisten nutzten damals das Feuer als Rechtfertigung, um mit
       der Verfolgung ihrer politischen Gegner zu beginnen, obwohl diese nichts
       mit der Brandstiftung zu tun hatten.
       
       Jetzt dient der Anschlag auf den rechten [2][Influencer Charlie Kirk] der
       amerikanischen Regierung als Vorwand, um die Existenz politisch
       missliebiger Menschen zu zerstören und sie einzuschüchtern.
       Justizministerin Pam Bondi machte „linke Radikale“ für das Attentat
       verantwortlich und drohte: „Sie werden zur Rechenschaft gezogen.“
       
       Stephen Miller, stellvertretender Stabschef im Weißen Haus, kündigte an,
       man werde „diese terroristischen Netzwerke ausrotten und zerschlagen“;
       einige Tage zuvor hatte er schon die Demokratische Partei als „inländische,
       extremistische Organisation“ bezeichnet. Auch Vizepräsident J D Vance wurde
       deutlich: „Wir werden gegen das Netzwerk von NGOs vorgehen, das Gewalt
       schürt, fördert und ausübt.“
       
       ## Die Alt-Right-Bewegung
       
       Wenn es die US-Regierung mit der Verfolgung der Hintermänner des Anschlags
       wirklich ernst meinte, dann müsste sie wohl eher das amorphe Netzwerk von
       Trollen und extremistischen Politaktivisten ins Visier nehmen, das sich
       einst auf der Internetplattform 4Chan zusammenfand und in den 10er Jahren
       als [3][Alt-Right] bekannt war.
       
       Während seines ersten Wahlkampfs 2016 half die Alt-Right-Bewegung Donald
       Trump mit Memes und aggressiver Onlinekulturkampfrhetorik dabei, im Netz
       eine junge, internetaffine Basis zu gewinnen – auch wenn Trump sich später
       von der Bewegung distanzierte. Sein Berater Steve Bannon nannte das Blog
       Breitbart News, dessen Chefredakteur er von 2012 bis 2016 war, „die
       Plattform der Alt-Right“ und gab rechten Provokateuren wie Milo
       Yiannopoulos ein Forum, das zentrale Narrative der Bewegung (Migration,
       Islam, Political Correctness) salonfähig machte.
       
       Die Motive von Kirk-Attentäter Tyler James Robinson sind unklar; bisher
       weigert er sich, mit den Strafverfolgungsbehörden zu kooperieren und eine
       Aussage zu machen. Und vielleicht ist er einfach nur wahnsinnig.
       
       Aber diese Art des Wahnsinns hat vielfältige Berührungspunkte mit dem
       gewalttätigen, rechtsextremen Onlinenihilismus, der sich in den letzten
       Jahren aus dem Bodensatz der Alt-Right entwickelt hat und für den das FBI
       2022 sogar eine neue Kategorie für inländischen Extremismus geschaffen hat:
       Nihilistic Violent Extremism (NVE).
       
       ## Anspielungen auf obskure Computerspiele
       
       Diese Art von politischen Terrorismus verbindet rechtsextreme Ideen und
       Gewaltobsessionen mit Internetironie, mit netzkulturellen Referenzen, Memes
       und Anspielungen auf obskure Computerspiele, bei denen die Grenzen zwischen
       Ernst und „Sarkasmus“ verwischt werden und die man nur versteht, wenn man
       extremely online ist.
       
       Viele der schrecklichsten Attentate der letzte Jahre waren von dieser
       wirren Internetideologie motiviert: 2019 erschoss in Christchurch
       (Neuseeland) ein Rechtsradikaler 51 Menschen in zwei Moscheen, übertrug das
       Massaker im Ego-Shooter-Stil per Livestream und spickte sein Manifest mit
       Memes wie „Subscribe to PewDiePie“. Im selben Jahr ermordete ein
       rechtsterroristischer Attentäter in El Paso (USA) 23 Menschen in einem
       Supermarkt und veröffentlichte ein Schreiben, das die [4][Meme-Ästhetik]
       und die „Große Umvolkungs“-Ideologie dieses Attentats aufgriff.
       
       Kurz darauf erschoss ein rechter Spinner in einer Synagoge im
       kalifornischen Poway eine Frau und bezog sich ebenfalls ausdrücklich auf
       Christchurch. Im selben Jahr versuchte ein deutscher Rechtsextremer in
       Halle in eine Synagoge einzudringen und kommentierte seine Mordpläne mit
       Insiderwitzen aus rechtsextremen Onlineforen und Referenzen auf
       Christchurch; als dies scheiterte, erschoss er zwei Menschen und streamte
       das im Videospielstil.
       
       2022 ermordete ein weiterer Rechtsextremer in Buffalo (USA) zehn Leute in
       einem Supermarkt, übertrug die Tat live auf Twitch und orientierte sich
       dabei offen an diesen Gewalttaten, inklusive der Verwendung von
       Alt-Right-Memes und Onlinecodes.
       
       ## Was meinte Robinson mit Bella Ciao?
       
       Und nun also der Mörder von Charlie Kirk, der in seine Kugeln obskure
       Botschaften voller Anspielungen auf Computerspiele und 4Chan-Terminologie
       eingeritzt hat. Und wieder geht das große Rätselraten los – was genau war
       mit „Bella Ciao“ gemeint? Ist das nicht [5][ein linker Partisanensong aus
       Italien]?
       
       Nein, es ist eine Botschaft aus einem Onlineparalleluniversum, in dem jede
       Art von Selbstäußerung immer auch das schiere Gegenteil bedeuten kann und
       in dem letztlich alles for the lulz ist, also ein großer zynischer Spaß,
       den nur Eingeweihte verstehen. „Weißt du noch, wie ich die Kugeln graviert
       habe?“, hat Robinson seinem Mitbewohner laut New York Times in einem Chat
       nach dem Attentat geschrieben. „Das war ein großes Meme. Wenn ich ‚notices
       bulge uwu‘ auf Fox News sehe, drehe ich durch.“
       
       Man könnte an dieser Stelle das „notices bulge uwu“-Meme erklären („notices
       bulge, uwu“ stammt aus der Furry- und Anime-Rollenspielszene und bezeichnet
       eine Ausbeulung im Schritt …). Und würde damit einen Weg in den ganzen
       Alt-Right-Kaninchenbau mit seinen ganzen Referenzen und popkulturellen
       Bezügen aufmachen.
       
       Aber vielleicht kann man den Mord an Charlie Kirk auch viel einfacher
       erklären. Auf einem Bild, das seit dem Attentat aufgetaucht ist, imitiert
       Robinson im gelb-schwarzen Adidas-Jogginganzug in der Russenhocke (slav
       squat) sitzend den Stil der Groypers-Szene.
       
       ## Rechtsradikales Offlinetrollen
       
       Die Groypers sind Anhänger des amerikanischen Alt-Right-Rechtsradikalen
       Nick Fuentes, die seit 2020 aufgehetzt wurden, um bei den öffentlichen
       Auftritten von Charlie Kirk zu provozieren. In der ungeschriebenen
       Geschichte des rechtsradikalen Offlinetrollens ist diese Episode als die
       „Groyper Wars“ verzeichnet.
       
       Nick Fuentes hat diese Auseinandersetzung damals verloren. Dem
       Sicherheitsapparat von Kirk – der ja angeblich mit jedermann diskutieren
       wollte – gelang es nach und nach, diese Troll-Störer von seinen
       Veranstaltungen fernzuhalten. Beim Wahlkampf im vergangenen Jahr spielte
       Kirk dann eine wichtige Rolle bei der Wiederwahl von Donald Trump.
       
       Die kurzen Videoclips, die seine Organisation Turning Point USA in die
       sozialen Medien einspeiste, in denen er seine reaktionären Einstellungen
       bewarb, waren so gut gemacht, dass sie oft viral gingen und ihn als
       souveränen Diskursmeister in Debatten unter 30 Sekunden zeigten.
       
       Diese Clips kursieren jetzt wieder im Netz, um zu beweisen, dass Kirk ja
       eigentlich nur reden wollte. Tatsächlich waren diese Campusdebatten Teil
       des Geschäftsmodells von Charlie Kirk, für die er zwischen 50.000 und
       100.000 Dollar pro Veranstaltung verlangte. Diese Diskussionen haben ihn
       zum Multimillionär gemacht – und gleichzeitig anschlussfähig für breitere
       Kreise.
       
       Der Unterschied zwischen Charlie Kirk und Nick Fuentes besteht weniger in
       einem Konflikt von Ideologien – beide sind misogyne Ethnonationalisten ohne
       Zukunftsprogramm. Beide sind keine ernstzunehmenden politischen Theoretiker
       – oder, bei Licht betrachtet, überhaupt Personen mit irgendeiner Ausbildung
       oder irgendeinem Hintergrund, der sie qualifiziert, etwas Relevantes zu
       irgendwas zu sagen.
       
       ## Es geht nur um Aufmerksamkeit auf Social Media
       
       Sie sind einfach nur Influencer, deren Erfolg in Klicks, Reichweiten und
       Spenden messbar ist. Dass es solche Gestalten überhaupt gibt, sagt mehr
       über eine Medienlandschaft aus, in der es vor allem darum geht,
       Aufmerksamkeit zu generieren und weniger um Inhalte.
       
       Dass Kirk am Ende erfolgreicher war, lag nicht an seiner inhaltlichen
       Überlegenheit, sondern an seiner Fähigkeit, sein Produkt – politische
       Provokation – in eine institutionell abgesicherte Form zu überführen –
       Trumps MAGA-Bewegung.
       
       Und diesmal ist MAGA gut vorbereitet. Die Zeit der Memes-Spiele, der
       witzigen, selbstreferentiellen Pseudodebatten und ironischen Internetcodes,
       die nur Leute verstehen, die auch auf Tumblr sind, ist in den USA vorbei.
       
       Jetzt werden random Leute von vermummten Gestalten in nummernlose weiße
       Lieferwagen gezerrt und finden sich in El Salvador wieder und niemand traut
       sich mehr, etwas zu sagen, weil man sonst als Nächstes dran sein könnte.
       Ist wohl auch just for the lulz, was offenbar neuerdings ein
       Regierungsprogramm ist.
       
       20 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Politische-Gewalt-in-den-USA/!6110033
   DIR [2] /Politik-auf-Social-Media/!6111258
   DIR [3] /Rechte-Videospielkultur/!5594148
   DIR [4] /Netzkultur-im-Wahlkampf/!6041552
   DIR [5] /Die-Geschichte-von-Bella-Ciao/!5960854
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tilman Baumgärtel
       
       ## TAGS
       
   DIR wochentaz
   DIR Attentäter
   DIR Charlie Kirk
   DIR Online-Spiele
   DIR Alt-Right-Bewegung
   DIR Mord
   DIR Stephen Bannon
   DIR Influencer
   DIR Schwerpunkt USA unter Trump
   DIR Waffen
   DIR Computerspiel
   DIR GNS
   DIR Schwerpunkt USA unter Trump
   DIR Kunst Berlin
   DIR wochentaz
   DIR Schwerpunkt USA unter Trump
   DIR Schwerpunkt USA unter Trump
   DIR Schwerpunkt USA unter Trump
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Bücherverbote in den USA: Unerwünscht im MAGA-Land
       
       Bücher über Rassismus, Queerness und Diskriminierung werden derzeit in den
       USA massiv von den Lehrplänen gestrichen. Die Verbote haben System.
       
   DIR Jan Böhmermann im HKW: Die Wurstigkeit ist Programm
       
       Der Satiriker inszeniert mit der Ausstellung „Die Möglichkeit der
       Unvernunft“ eine Mischung aus Kunstschau, Ego-Archiv und Fernsehgarten.
       
   DIR Politik auf Social Media: Die Supermacht der Influencer
       
       Der erschossene Podcaster Charlie Kirk war einer der engsten
       Trump-Vertrauten. Doch nicht nur in den USA gewinnen Social-Media-Stars an
       politischem Einfluss.
       
   DIR Nach dem Attentat auf Charlie Kirk: Erika Kirk übernimmt Führung von „Turning Point“
       
       Künftig wird Kirks Witwe der ultrarechten studentischen Organisation
       vorstehen. Zu Kirks Beerdigung am Sonntag werden Trump und Vance erwartet.
       
   DIR Nach dem Attentat auf Charlie Kirk: Trumps Vizestabschef fordert Jagd auf Linke
       
       Stephen Miller will den Tod von Charlie Kirk für einen Gegenschlag nutzen.
       Auch den ZDF-Korrespondenten in Washington hat die US-Regierung im Visier.
       
   DIR Politische Gewalt in den USA: Der Tod des Charlie Kirk
       
       Er war für Trumps MAGA-Bewegung mehr als nur ein erfolgreicher Influencer.
       Seine Ermordung ist eine Zäsur.