# taz.de -- Die Wahrheit: Endlich Gerechtigkeit
> Das Bürgergeld wird abgeschafft. Da singen die Englein Halleluja und die
> Bürger freuen sich einen Ast an den Gesellschaftsbaum der Erkenntnis.
IMG Bild: Die Kasse klingelt nicht für jeden Empfänger
Als sie neulich die frohe Nachricht im Frühstücksfernsehen brachten,
mischte sich in einer Küche im niedersächsischen Neu-Wulmstorf endlich
wieder so etwas wie der Hauch einer Hoffnung in den morgendlichen
Kaffeeduft. „Sie schaffen das Bürgergeld ab, Nicki!“, rief Torben
Hauschild, 45, Excel-Listen-Führer bei einem Hamburger Abwracker, und
schwenkte triumphierend die Fernbedienung. „Endlich zieht wieder
Gerechtigkeit ein in Deutschland!“
Nicole Hauschild, 33, die beruflich das Blut in einer Buxtehuder
Schlachterei aufwischt, sprang aus dem Bett. Das Nachthemd nur mal gerade
so auf halb acht, entkorkte sie zum Frühstück den Schampus aus dem streng
gehüteten Silvestervorrat. „Auf das Unwohl der Schmarotzer!“, prostete sie
ihrem Mann zu, „endlich kriegen die Totalverweigerer ihr Fett weg.“ Und
dann mussten beide lachen, so begeistert und so entrückt, dass die Nachbarn
dachten, die Hauschilds hätten letztes Mal CDU gewählt. Hatten sie ja auch.
Entsprechend beschwingt schritt Torben dann zu seinem Cupra – in der festen
Überzeugung, dass ab diesem feinen Oktobermorgen alles wieder wie früher
sein würde. Keine Staus mehr auf dem Weg zur Arbeit, keine Blitzer-Abzocke
auf der B73, keine Lkws, die ihm am Außenspiegel knabbern.
Schließlich hatten sie letzte Nacht das Bürgergeld abgeschafft – da musste
doch ein Ruck oder wenigstens die alte Ordnung wieder spürbar werden als
Folge der neuen Gerechtigkeit. Doch denkste. Schon nach drei Kilometern
wieder ein einziges Bremslichtermeer. Ein Unfall dieses Mal Höhe
Brutzelhütte. Dazu rote Welle, schleichende Pendler, besengte Radfahrer.
Alles wie immer.
So auch in der Firma: Dasselbe flackernde Neonlicht, dieselbe gedrückte
Stimmung, derselbe olle Pumpkaffee. Dazu derselbe Chef, der immer
Teamplaying sagt, aber Unterwürfigkeit meint. Und in der Kantine? Gab’s
wieder nur Geschnetzeltes an Gummireis.
## Alles wie immer
Am Wochenende dann checkte er sein Konto: 1.227,36 Euro –
selbstverständlich im Soll. „Komisch“, dachte er, „alles wie immer.“ Auch
sein Nachbar, Uwe Koplin, 59, Lkw-Fahrer im dritten Bandscheibenvorfall,
hatte den Fernseher an besagtem Morgen lauter gedreht, als sie im
„Morgenmagazin“ über das Bürgergeld-Aus berichteten.
„Jetzt geht’s bergauf“, ließ er seine Whatsapp-Gruppe wissen. Anschließend
stand auch er auf der B73 nur wieder stumpf im Stau. Und an den nächsten
Tagen wieder. Kein Vorwärtskommen, kein Wohlstandsschub, kein höheres
Leistungslevel – trotz so viel mehr Gerechtigkeit durch endlich weniger
Stütze.
Zur gleichen Zeit hatte nur ein paar hundert Kilometer südwärts, Nähe
Bottrop, der Autohändler Dieter Malchow, 55, beschlossen, seinen Showroom
ab sofort eine halbe Stunde früher zu öffnen: „Weil das Land ja jetzt
wieder in Schwung kommt.“ Doch es passierte seitdem – genau nichts.
## Keine Veränderung
In Erfurt wartete die ganze Woche über Friseurin Nadine Spranger, 28, auf
den großen Gerechtigkeitsschub. Auch sie hatte gehofft, dass endlich mehr
Kundschaft kommt, „weil ja jetzt alle arbeiten müssen und Kohle machen“.
Aber ihr Laden blieb leer. Der Fön summte ins Nichts, während sie sich
selbst die Spitzen schnitt.
Eine Woche nach dem Bürgergeld-Aus saß in Berlin CDU-Generalsekretär
Carsten Linnemann in seiner Dienstwohnung. Der von Geburt an Siebzigjährige
mit dem pfiffigen Opel-Blitz-Gesicht war zufrieden zunächst mit dem
Erreichten gewesen, sehr sogar. Doch dann machten sich zusehends Zweifel
und Ratlosigkeit hinter seinen weit aufgerissenen Scheinwerfern breit.
Er hatte die Schlagzeilen wohl gesehen: „Endlich Schluss mit der
Hängematte!“ Genau das, wofür er mit seinem Kanzler gekämpft hatte. Doch
als er seine Festgeldkonten checkte, sah er: alles wie immer. Auch die
Goldbarren – im Bettkasten sorgfältig aufgereiht – hatten sich die Woche
über nicht vermehrt. Kein goldener Glanz der Genugtuung, nur das fahle
Licht der Nachttischlampe.
Draußen glänzten die regennassen Straßen im Licht der paar noch
funktionierenden Laternen. Er trat ans Fenster. Nichts hatte sich
verändert. Und schlimmer, Linnemann ahnte es längst: Gar nichts würde sich
ändern. Nur das leise Plingpling der SMS-Nachrichten des Kanzlers erinnerte
ihn daran, dass Politik vielleicht doch mehr ist, als anderen das Leben
möglichst schwer zu machen.
20 Oct 2025
## AUTOREN
DIR Fritz Tietz
## TAGS
DIR Bürgergeld
DIR Grundsicherung
DIR Carsten Linnemann
DIR Gaza
DIR Autobahnbau
DIR Parkraumbewirtschaftung
## ARTIKEL ZUM THEMA
DIR Die Wahrheit: Mit Gänsehaut auf die Geiselbahn
Im neuen Gaza-Erlebnispark wird Ausnahmezustand für Krisentouristen als
spannende Inszenierung erfahrbar.
DIR Die Wahrheit: Das endgültige Ende aller Staus
Gerade in der Urlaubszeit werden Autofahrer von maroden Baustellen und
bröckelnden Bauwerken behindert. Dabei gäbe es eine seit langem geheime
Lösung.
DIR Die Wahrheit: Leiden auf vier Rädern
Das neue Verkehrssyndrom: Erhöhter Parkdruck sorgt für starken seelischen
Gebietsverlust.