# taz.de -- taz Talk zu Perspektiven der Migration: Dem Rechtsruck widerstehen
> Wie kann eine menschliche und mehrheitsfähige Migrationspolitik gelingen?
> In der taz diskutieren das Gilda Sahebi, Ahmad Katlesh und Gerald Knaus.
IMG Bild: Gilda Sahebi im taz Talk: Man muss die Mehrheiten wieder für eine menschliche Migrationspolitik gewinnen
Berlin taz | Die gesellschaftliche Stimmung in Deutschland „ist aggressiver
geworden, aber auch ehrlicher“, sagt Ahmad Katlesh beim taz Talk „Jenseits
des Stacheldrahtes“ am Freitagabend in Berlin. Der in Damaskus
aufgewachsene Schriftsteller und Journalist floh 2013 vor dem Assad-Regime
und kam im Jahr 2016 über ein Literatur-Stipendium der
Heinrich-Böll-Stiftung nach Düren in Nordrhein-Westfalen. Zunächst
schwappte ihm dort unheimlich viel Freundlichkeit entgegen, im doppelten
Wortsinn. Auch wenn diese nett gemeint gewesen sei, habe sie ihn häufig
verwundert, wenn er überfreundlich von Leuten auf der Straße gegrüßt worden
sei, die er gar nicht kannte.
Die [1][Willkommenskultur] der Zeit um den sogenannten „langen Sommer der
Migration“ vor nunmehr 10 Jahren ist heute weitreichend umgeschlagen in
eine migrationsfeindselige Stimmung. Aktuellen Umfragen zufolge sind viele
Deutsche dafür, dass Migration eingeschränkt werden solle. Viele gutheißen
dabei auch den Kurs des Bundesinnenministers Alexander Dobrindt (CSU), der
seit Monaten deutsche Außengrenzen kontrollieren lässt und dort bewusst
illegale Pushbacks hat durchführen lassen. Der Union sprechen sie
mittlerweile dennoch weniger Kompetenz in Sachen Migration zu als der
rechtsextremen AfD.
Angesichts dieser Entwicklungen drängt sich eine zentrale Frage auf:
[2][Wie kann heute überhaupt noch eine menschliche und politisch
mehrheitsfähige Migrationspolitik gelingen?] Vor vollem Haus in der taz
Kantine und gut geklicktem Livestream suchten Moderator und taz-Autor
Tobias Bachmann, Ahmad Katlesh sowie die Politikwissenschaftlerin und
Autorin Gilda Sahebi und der Gründer der unabhängigen Denkfabrik European
Stability Initiative (ESI), österreichische Migrationsexperte Gerald Knaus,
am Freitagabend nach Antworten darauf.
Zentrales Thema ihrer Debatte waren jedoch zunächst die Ursachen für das
zugleich kälter und hitziger gewordene gesellschaftliche Klima hinsichtlich
der Migration in Deutschland. Ahmad Katlesh hält einen diskursiven
Missstand für verantwortlich. In der Öffentlichkeit würden Migrant*innen
zum Aufhänger nahezu jedes Problems gemacht, sagt er. Gilda Sahebi stimmt
ihm zu, anstatt über die teuren Mieten oder den schlechten Zustand des
Gesundheitssystems zu reden, ließen sich die Parteien der Mitte, allen
voran die Union von der AfD die Agenda setzen und sprächen fast nur über
Migration.
## Europaweite Wertewanderung nach rechts
Gerald Knaus sagt, eine Verschiebung, wie sie Deutschland gerade erlebe,
passiere [3][europaweit]. Lange hätten sich die Werte der Menschen in
Mitteleuropa in eine Richtung entwickelt, welche die meisten als positiv
betrachten würden, sagt er. „Doch jetzt sehen wir eine Kampagne, die das
umzudrehen versucht. Und zwar sehr erfolgreich“.
Die europaweit erstarkende Rechte präge und verschärfe den Diskurs, sagt
er. „Und das nicht erst seit gestern.“ Neu sei jedoch, wie die politische
Mitte in Deutschland damit umgehe. „Die letzten vier Monate sind eine
Wende“, sagt er. Zwar funktioniere der deutsche Rechtsstaat noch und
verhindere, dass Menschen an den Grenzen von der Polizei verprügelt würden,
jedoch habe die Union in den letzten Monaten mit ihrer Grenzpolitik das
Europarecht unterlaufen. „Das wäre unter Merkel undenkbar gewesen“, sagt
er.
Gilda Sahebi stimmt zwar Knaus Beobachtungen der europaweit erstarkenden
Rechten zu, sieht das Verhältnis der politischen Mitte in Deutschland dazu
jedoch anders. Anhand einiger Beispiele illustriert sie, wie
Politiker*innen der Union und SPD historisch immer wieder eine
rassistisch geführte Debatte um die Migration mitbefeuert haben. Sahebi
sagt, neu sei aktuell, dass auch die Grünen rassistische Migrationspolitik
immer stärker mittrügen. Auch sei Rassismus historisch und tief in der
deutschen Gesellschaft verankert. Dass diese das weitestgehend leugne,
fliege ihr nun um die Ohren: „It comes back and bites everyone in theass“,
sagt sie. In anderen Worten auf Deutsch: „Wer seine Schatten nicht
anerkennt, kann die nicht besiegen“, so Sahebi. Das Publikum applaudiert.
Um also zu wieder Mehrheiten für eine menschliche Migrationspolitik zu
gewinnen, müsse die Mitte, die vor allem Angst um ihre Demokratie hat,
anerkennen, dass „viele andere Leute haben schon längst Angst haben, in
dieser Demokratie zu leben“, sagt sie. Dabei trügen auch die Medien eine
Verantwortung. Sie müssten beispielsweise kritischere Fragen stellen, wenn
Politiker*innen der Mitte mit populistischen Parolen um sich würfen,
die der AfD inhaltlich in kaum etwas nachstehen – wie in der Debatte um das
Bürgergeld für Geflüchtete. Und sie dürften auch selbst vor dem Druck von
Rechtsaußen nicht einknicken. Sahebi nach einem Vorgespräch zu einer
Talk-Show nicht zu dieser eingeladen worden, mit der Begründung, sie denke
zu komplex. Das habe sie fassungslos gemacht, sagt sie.
## Medien sollen Arbeitsweisen kritisch hinterfragen
Ahmad Katlesh sagt, er sei noch kein Deutscher, weil die Einbürgerung für
einen Freiberufler wie ihn hier kompliziert und langwierig sei, deshalb tue
er sich schwer, der deutschen Gesellschaft Ratschläge zu geben. Als Autor
und Journalist mit Migrationsgeschichte erlebe er jedoch auch, dass manche
Medien ihn nur sehr selektiv anfragen und nicht zu jedem Thema gerne seine
ganze und ehrliche Meinung wissen möchten, sagt er. Für einen konstruktiven
Diskurs in Sachen Migration sieht auch er deshalb die Medien in der
Pflicht, ihre Arbeitsweisen kritisch zu hinterfragen. Erneut gibt es
Applaus aus dem Saal.
Gerald Knaus sagt, die deutsche Bundesregierung müsse ihre
Migrationspolitik europarechtskonform ausrichten. Einerseits, um der
Öffentlichkeit keine falschen Versprechungen zu machen, die sie dann nicht
halten kann und so gegenüber der AfD inkompetent erscheint. Andererseits,
um die Einheit der europäischen Union nicht zu riskieren.
Die AfD sei EU-feindlich und wolle die Bundesregierung über den Streitpunkt
der Migration dazu bringen, Europarecht zu brechen und so die EU weiter zu
spalten. Das sei „hochgefährlich“, so Knaus. Um die Macht der AfD
einzudämmen, müsse aus seiner Sicht auch die Debatte um das
Verbotsverfahren der Partei wieder stärker forciert werden. Und
gleichzeitig sei die Union in der Pflicht, ihre Brandmauer gegenüber der
Partei aufrechtzuerhalten. Und wieder klatscht das Publikum.
Der Talk wurde live gestreamt und ist weiterhin auf Youtube verfügbar. Er
ist Teil des taz Sonderprojektes „[4][Geschafft]?“, das sich derzeit über
mehrere Monate und multimedial den großen und kleinen Fragen rund um das
Thema Migration, die seit Angela Merkels berühmtem „Wir schaffen das“ nach
Antworten verlangen.
21 Sep 2025
## LINKS
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## AUTOREN
DIR Jonas Kähler
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