# taz.de -- Sozialpolitik der SPD: Retten, was zu retten ist
> Die SPD will den Sozialstaat bewahren statt umgestalten. Auch die eigene
> Wählerschaft scheut große Reformen. Was heißt das für die Partei?
IMG Bild: Ist in der Zwickmühle: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands
Berlin taz | Bis vor kurzem führte die SPD noch Wahlkampf für eine
Bürgerversicherung, eine gemeinsame Gesundheitsversorgung für alle. Für die
Zukunft der Rente wären derzeit ebenfalls ambitionierte Ideen gefragt. Und
eigentlich galten Sozialreformen aus linkem Verständnis heraus auch lange
als etwas, durch das es hinterher besser sein sollte als vorher. Doch
mittlerweile ist zumindest in der SPD-Wählerschaft das Bedürfnis nach
großer Veränderung verblasst, wie [1][Daten von Infratest dimap zeigen].
Das Umfrageinstitut fragte die Wähler der einzelnen Parteien, wie man zu
grundlegenden Reformen bei Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung stehe.
Auffällig ist, dass die SPD-Wählerschaft am skeptischsten gegenüber
weitreichenden Reformen eingestellt ist. Zu moderaten Anpassungen hingegen
ist man schon eher bereit. Gegenüber großen Reformen sind SPD-Wähler aber
weit zurückhaltender als die Wählerschaften aller anderen Parteien,
inklusive jener der Union. Zu den Wählern der Grünen und der Linken liegen
die SPD-Wähler in dieser Frage in weitem Abstand.
„Die SPD hat neben der Union die ältesten Wähler und diese fürchten ohnehin
grundlegende Reformen des Wohlfahrtsstaates“, sagt Philipp Staab,
Politikwissenschaftler an der Humboldt-Uni Berlin. Man wolle zwar als
SPD-Wähler noch immer Veränderungen in den Sozialsystemen, doch glaube man
mittlerweile selbst nicht mehr daran, dass sich diese verwirklichen ließen
– mit der Union schon gar nicht, so der Berliner Forscher.
## Reformen als Einschränkungen?
Und das hat seine Gründe. Reformen seien eben in den letzten 20 Jahren für
viele Menschen oft gleichbedeutend mit Einschränkungen gewesen, sagt Tarik
Abou-Chadi, Politikwissenschaftler an der Uni Oxford. Darauf haben sich
mittlerweile viele Menschen eingestellt, so scheint es. Und offenbar auch
die SPD selbst. In der Bürgergeld-Diskussion habe die SPD angefangen,
rechte Kritik mit aufzunehmen, so Abou-Chadi. Auch etwa das langjährige
sozialdemokratische Versprechen, weniger arbeiten zu müssen, käme schon
lange nicht mehr vor. Die Folge davon: Es gäbe bei vielen Menschen
mittlerweile „keine Idee davon, was SPD pur wäre“. Davon, dass die Partei
etwas anders machen würde, wenn sie allein regieren könnte, so der
Politologe.
Derweil setzt die Parteiführung vor allem darauf, die Merz-CDU bei den
Sozialreformen auszubremsen. Robert Vehrkamp, der bei der
Bertelsmann-Stiftung zu Wählermilieus forscht, erkennt darin durchaus einen
aus Sicht der SPD nachvollziehbaren strategischen Versuch. Denn bei der
letzten Bundestagswahl habe die SPD gerade in den mittleren und ärmeren
Gruppen stark verloren, sagt er. In Letzteren hatte dann die AfD besonders
zugelegt, wie Wahlanalysen zeigten. „Die SPD will nun über die
Sozialstaatsdebatte diese Milieus wieder zurückgewinnen“, so Vehrkamp,
„indem sie sich vor allem als Bollwerk gegen den Sozialabbau profiliert.“
Aber gewinnt man mit einer Bremserrolle dauerhaft Vertrauen zurück und
kommt so durch die großen gesellschaftlichen Umbrüche? „Die SPD weiß nicht,
wie sie mit der Überalterung, dem ökologischen Modernisierungsprozess und
dem Druck auf den Wohlfahrtsstaat, der ihr Markenkern ist, umgehen soll“,
sagt Philipp Staab von der Humboldt-Uni. Zwar könnten in aktuellen
Polykrisen kaum noch große Pläne abgearbeitet werden, weil immer mehr
Ereignisse den politischen Prozess bestimmten. Doch umso mehr müssten die
Parteien, wenn sich dann mal Gelegenheiten ergäben, „strategisch
vorbereitet und taktikfähig sein“, so der Berliner Politikwissenschaftler.
„Was die SPD aber nicht ist.“
## Viele progressive Wähler haben die Partei verlassen
Unterdessen habe dieser Mangel an einer Erzählung, bei der „eine
grundlegende Veränderung eine Verbesserung darstellen würde“, zu etwas
anderem geführt, sagt Tarik Abou-Chadi von der Uni Oxford: Progressive
Wähler, die umfassendere Reformen befürworten, hätten größtenteils die SPD
in Richtung der Grünen und der Linken verlassen.
Das bringt die SPD in eine Zwickmühle: Linke und Grüne können nun in der
Opposition leicht entweder als die besseren Bewahrer des Sozialstaates oder
als die klügeren Reformer auftreten. Einfacher, als die SPD es in der
Regierung kann. Und ob die SPD zur AfD abgewanderte Wähler zurückgewinnen
und dauerhaft bei sich halten können wird, bleibt abzuwarten. Auf ihren
aktuellen Wählern wird sich die SPD mit derzeit 14 Prozent jedenfalls kaum
ausruhen können.
6 Oct 2025
## LINKS
DIR [1] https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2025/august/
## AUTOREN
DIR Michael Freckmann
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