# taz.de -- Zwei Jahre nach dem Hamas-Überfall: Wer nicht schweigt, schreit
> Immer mehr werfen Israel einen Völkermord im Gazastreifen vor. Im Land
> selbst schweigen die meisten darüber. Aber einige versuchen, das zu
> ändern.
IMG Bild: Wer ist laut, wer bleibt leise? Friedensdemo im Sommer in Tel Aviv, initiiert von der Organisation Standing Together
Tel Aviv taz | Eine Mall im Zentrum Tel Avivs Mitte September: Im
Erdgeschoss suchen die Gäste einer Weinprobe die perfekte Flasche für die
Feier zum jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana. Zwei Stockwerke über ihnen
suchen Menschen an diesem Abend die Antwort auf die Frage: Wie stoppt man
einen [1][Völkermord]? Unten dröhnt aus Lautsprechern Madonna, oben prüft
am Eingang ein Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation B’Tselem die
Einladungen der rund 200 Teilnehmer.
Die Besucher haben den Veranstaltungsort erst Stunden zuvor erfahren, eine
Vorsichtsmaßnahme. Rechte Aktivisten haben in der Vergangenheit
Veranstaltungen gestört. B’Tselem ist eine der international anerkanntesten
israelischen Menschenrechtsorganisationen. Im eigenen Land ist sie
verhasst, [2][nicht erst seit sie Ende Juli in einem Bericht Israels
Vorgehen in Gaza als Genozid bezeichnet hat].
„Wie widersteht man einem Völkermord?“, ist in großen Lettern über der
Bühne projiziert, auf der B’Tselem-Direktorin Yuli Novak den Abend
eröffnet. Auf der Bühne sitzen Vertreter von Israels radikaler Linker.
„Wir haben diese Veranstaltung nicht so genannt, weil wir darauf eine
Antwort hätten, sondern weil es die Frage ist, die wir stellen müssen“,
sagt die 43-Jährige. Es sei einfach, die Regierung oder radikale Siedler zu
kritisieren. Aber das verdecke die Tatsache, dass es das israelische Volk
sei, das den Völkermord in Gaza begehe: „Es sind unsere Freunde und
Familienmitglieder, die zur Armee gehen, unsere Medien, die das Vorgehen
rechtfertigen.“
## Die hebräischen Medien schweigen
Eine Autostunde südlich rückt die israelische Armee nach Gaza-Stadt vor.
Laut dem Al-Awda-Krankenhaus sind gerade 28 Menschen durch israelische
Angriffe gestorben. In Tel Aviv füllen sich zum Beginn des Wochenendes die
Bars und Restaurants.
Seit bald zwei Jahren gibt es fast täglich neue Videos von durch Bomben
zerfetzten Kindern aus Gaza, doch bei vielen Israelis dringt das kaum
durch. Die meisten sehen ausschließlich Nachrichten auf Hebräisch. Dort
werden kaum Berichte über das Leid in Gaza gezeigt, und wenn, dann wird
angezweifelt und gerechtfertigt.
Ende Juli kam B’Tselem als erste große israelische NGO im Bericht „Unser
Genozid“ zu dem Schluss: Die Reaktion auf den Terrorangriff der Hamas am 7.
Oktober 2023 mit mehr als 1.100 Toten und 250 Verschleppten ist zu einem
Völkermord geworden. Israel unternehme „koordinierte, vorsätzliche Schritte
zur Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft im Gazastreifen“. Ende
2023 hatte Südafrika mit ähnlichen Vorwürfen [3][Klage vor dem
Internationalen Gerichtshof] eingereicht. Auch zahlreiche
Menschenrechtsorganisationen und andere Regierungschefs sprechen
mittlerweile vom Völkermord.
Ein Interview nach dem anderen hätten sie in den Wochen nach der
Veröffentlichung des Berichts gegeben, sagt Novak: CNN, France24, der
Süddeutschen Zeitung. In Israel hätten hebräische Medien kaum darüber
berichtet.
Fünf Vergehen listet die UN-Völkermordkonvention auf, vier von ihnen hat
Israel den meisten Berichten zufolge begangen: Binnen zwei Jahren starben
bei Angriffen der Armee laut Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza
mindestens 66.000 Menschen, zwei Drittel von ihnen Frauen und Kinder. Mehr
als 168.000 wurden verwundet. Lebenswichtige Infrastruktur wurden
systematisch zerstört. Der jüngste UN-Bericht wertet die Zerstörung einer
Fruchtbarkeitsklinik als geeignet, Geburten zu verhindern. Israel weist
alle Vorwürfe mit dem Argument zurück, schuld sei die Hamas.
„Der 7. Oktober, palästinensische Gewalt gegen Zivilisten, die Drohungen
der Hamas – all das ist real“, sagt B’Tselem-Direktorin Yuli Novak. Doch
Israels Führung habe daraus eine Universalrechtfertigung [4][für ihr
genozidales Vorgehen] gemacht.
Bei der Veranstaltung kommen einige Besucher der Mall herein, manche mit
Cocktails in der Hand, als sie sichtlich irritiert den Titel des Treffens
lesen. Für einen Moment kollidieren die israelischen Realitäten. Doch die
meisten kehren zurück ins Nachtleben.
Nach der Veranstaltung sagt Novak: „Für die meisten Israelis ist der
Genozidvorwurf so weit weg von ihrer Realität, dass sie ihn kaum ernst
nehmen.“ Sie selbst habe sich als Israeli und Enkelin von
Holocaustüberlebenden oft gefragt, wie Menschen neben einem Massenmord
weiterleben konnten. „Jetzt erlebe ich das in der Realität und bringe
trotzdem morgens mein Kind in den Kindergarten.“
Auch der regierungskritische Medienjournalist Oren Persico sagt, er habe
lange gebraucht, um von Genozid zu sprechen. „Aber spätestens seit Israel
im März die Waffenruhe gebrochen und alle Hilfslieferungen nach Gaza
beendet hat, war für mich klar, dass es ihnen nicht mehr darum geht, den
Krieg zu beenden.“ Persico beobachtet seit Jahren für die israelische
Investigativplattform The Seventh Eye die Presselandschaft.
Wer in hebräischsprachigen Medien die Armee kritisiere, erfahre oft heftige
Reaktionen, sagt er. Stimmen, die von Genozid sprächen, tauchten gar nicht
auf. Dabei bedienten prominente Journalisten regelmäßig genozidale
Narrative, etwa dass es in Gaza „keine Unbeteiligten“ gebe. Das Resultat
sei, dass „viele Israelis die zunehmende Isolation in der Welt nicht
verstehen oder sie auf Antisemitismus schieben“, sagt Persico. „Den gibt es
natürlich, aber die Regierung bläst ihn zusätzlich auf, weil diese
Wagenburgmentalität Israel zum vermeintlich einzig sicheren Ort für seine
Bürger macht.“
Dabei gäbe es durchaus prominente Stimmen für eine innerisraelische
Debatte. Eine von ihnen ist Menachem Klein, emeritierter Professor der
Bar-Ilan-Universität. Der 73-Jährige nannte Israel etwa im US-Radiosender
NPR eine „genozidale Gesellschaft“, die schon vor dem 7. Oktober jahrelang
normalisiert habe, dass Palästinenser in Gaza ohne Konsequenzen getötet
werden könnten. „Jetzt sind wir blind für die Katastrophe, die wir dort
anrichten“, sagte Klein jüngst dem in Israel verbotenen Sender Al Jazeera.
Dass seit zwei Jahren [5][immer wieder Hunderttausende Israelis gegen den
Krieg protestieren]? Dass zwei Drittel der Israelis sich ein Abkommen
wünschen? „Den meisten dort geht es um die Rückkehr der Geiseln, nicht um
die Palästinenser“, sagt Klein im Gespräch in seiner Wohnung in Jerusalem.
Auch bis weit ins Lager der linken Zionisten sei Kritik an Israels Militär
heute tabu, selbst wenn die politische Führung die Angriffe auf Gaza seit
Langem gegen den Rat der Sicherheitsbehörden weiterführe. Viele hätten
Brüder, Schwestern und Kinder in der Armee.
Anecken ist für Klein nichts Neues: „Ich habe schon während der
Terroranschlägen der Zweiten Intifada gefordert, den Palästinensern den
Tempelberg zu geben.“ Er trägt eine Kippa mit Wassermelonenmuster, ein
Symbol der Palästinasolidarität. Er habe sie sich gekauft, nachdem
Polizisten auf Demos ihm erst eine Palästinaflagge und später eine echte
Wassermelone abgenommen hätten. „An die Kippa hat sich noch niemand
getraut.“
Trotzdem sei auch ihm nach den Massakern der Hamas vor zwei Jahren Kritik
schwergefallen. Erst als er davon las, dass Israel mittels eines
[6][KI-basierten Systems namens Lavender] Zehntausende Palästinenser als
mutmaßliche Hamas-Mitglieder und Ziele für Luftangriffe ausmacht, äußerte
er sich. „Eine Massenmordmaschine“, sagt Menachem Klein dazu heute.
Zusammen mit den Äußerungen von einfachen Soldaten über Kommandeure bis zu
Regierungsmitgliedern, dass niemand in Gaza unschuldig sei, „ist das für
mich Völkermord“.
Einige Tage nach der Veranstaltung in der Mall zur Frage, wie man den
Völkermord stoppen kann, sitzt Yuli Novak in einem Café in Jaffa im Süden
von Tel Aviv und formuliert ihre eigene Antwort: „Wir können es nicht
aufhalten.“ Wenn sich eine Gesellschaft entschieden habe, eine andere
auszulöschen, sei das kaum von innen zu stoppen.
Als Schülerin besuchte sie Auschwitz und später Ruanda. „Auch beim
Völkermord dort wurde die Gesellschaft darauf eingeschworen, dass nur die
Zerstörung der anderen die eigene Sicherheit garantieren kann.“ Schlimmste
Verbrechen scheinen Selbstverteidigung zu sein. Als einer von Novaks
palästinenischen Mitarbeitern aus dem Gazastreifen in einem Zoom-Meeting
von der Vertreibung aus seinem Haus erzählte, der Suche nach Wasser und
Essen für seine Kinder, dem Leben im Zelt – da habe sie zum ersten Mal an
Genozid gedacht; dass das klinge wie ein Leben im Ghetto.
Sie habe viel Kritik bekommen, gerade liberale Israelis würden fragen:
Warum von einem „Kampfbegriff“ wie Völkermord sprechen? „Weil Genozid nicht
nur ein Kriegsverbrechen ist, sondern eines, das für immer mit uns
verbunden sein wird“, sagt Novak, und jeden zum Handeln verpflichte.
Ende September, einen Abend vor dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur,
haben sich einige Hundert Menschen vor dem Nationaltheater in Tel Aviv
versammelt. In einer langen Reihe hält jeder schweigend das ausgedruckte
Foto eines Kinds. Unter den Bildern stehen Namen: Muamen, Razan, Alma und
„War und ist nicht mehr“.
„20.000 Kinder wurden seit dem 7. Oktober von der Armee getötet, mehr als
1.000 von ihnen waren noch kein Jahr alt“, ruft Mitorganisatorin Shahar
Shillo zu Beginn der Aktion. „An Jom Kippur geht es um Vergebung“, sagt die
26-jährige Studentin. „Lasst uns daran erinnern, worum wir dieses Jahr
wirklich um Vergebung bitten müssen.“
Eine Stunde lang stehen sie schweigend auf dem Theaterplatz. Passanten
bleiben stehen, lesen, manche werden wütend. „Diese Kinder werden einmal
Terroristen“, ruft einer vom Fahrrad, seinen Sohn im Kindersitz vor sich.
„Nach Gaza sollte man euch bringen und verbrennen“, schreit ein anderer.
„Er kommt jede Woche, ich tippe auf PTBS“, sagt Adi Argov, postraumatisches
Belastungssyndrom. Die 59-jährige Psychologin mit den grauen Locken hat die
Aktion im März mit ins Leben gerufen. Auf ihrer Website sammelt sie seit
Monaten Bilder getöteter Kinder, jeweils mit Namen, Alter, Todestag und
Todesursache. Zu den Mahnwachen kommen Hunderte. Sie sollen helfen,
Menschlichkeit zu bewahren, weil „Entschmenschlichung Genozid erst möglich
macht“. Und sie sollen Reservistinnen, Kampfpiloten dazu bringen, beim
nächsten Einsatz an die Bilder denken zu müssen.
Doch selbst wenn die Aktionen wirkten oder wenn der [7][sogenannte
Friedensplan von US-Präsident Donald Trump] in den kommenden Tagen die
Gewalt beende: Die Aufarbeitung werde wohl erst in den kommenden
Generationen beginnen können, sagt Argov. „Meine Großmutter hat ihre
Familie im Holocaust verloren und immer gesagt: ‚Meine Generation kann den
Tätern nicht vergeben, aber eure Generation muss einen Weg finden, Brücken
zu bauen.‘ Wie sollten die Palästinenser uns vergeben? Das werden
vielleicht erst unsere Enkel erleben.“
Mitarbeit: Omri Baleli
6 Oct 2025
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