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       # taz.de -- Vorschlag zum Nahostkonflikt: Für ein freies Palästina
       
       > Viele Staaten haben bereits einen palästinensischen Staat anerkannt. Auch
       > Israel sollte auf einen friedlichen Nachbarstaat hinarbeiten.
       
   IMG Bild: Um Frieden im Nahen Osten haben sich schon vielen Politiker in der Vergangenheit bemüht
       
       Bis Ende September 2025 haben über 150 Länder angekündigt, einen Staat
       Palästina anzuerkennen, oder haben bei den Vereinten Nationen bereits dafür
       gestimmt. Sofern ich nichts übersehen habe, scheint jedoch keines dieser
       Länder definiert zu haben, wie dieser Staat Palästina verfasst sein soll.
       
       Soll er eine Monarchie werden wie Jordanien, Saudi-Arabien, Bahrain oder
       Marokko? Ein dynastisches Emirat wie Katar und Kuwait oder ein Sultanat
       oder Scheichtum wie mehrere andere Staaten am Persischen Golf? Eine
       islamische Republik wie der Irak, Pakistan, Mauretanien oder Afghanistan?
       Ich habe nicht gehört, dass die Anerkennung Palästinas mit Forderungen nach
       einer demokratischen Verfassung verbunden worden wäre: „Wir werden einen
       palästinensischen Staat anerkennen, solange er sich zu schnellen Wahlen,
       Menschenrechten für alle, Religionsfreiheit etc. verpflichtet.“
       
       Das ist eine entscheidende Frage. In Syrien versucht ein ehemaliger
       Dschihadist, dessen Truppen vor Kurzem eine Jahrzehnte währende brutale
       Diktatur gestürzt haben, anscheinend, [1][ein pragmatisches und
       pluralistischeres Regime einzuführen], was bisher aber mit Massakern an
       Alawiten [2][und Drusen] verbunden war. Er sieht sich dem Druck der Türkei
       ausgesetzt, die im Westen des Landes die Kurden unterdrückt, offenbar mit
       dem Ziel, das Osmanische Reich wiederherzustellen. In Syrien herrscht,
       gelinde gesagt, Chaos.
       
       ## Bürgerkrieg zwischen zwei Bevölkerungsgruppen
       
       Am 6. Mai 1948 verkündete David Ben-Gurion, der die provisorische Regierung
       der jüdischen Palästinenser, den sogenannten Jishuv, anführte, in Tel Aviv
       eine Unabhängigkeitserklärung. Fortan wurden die jüdischen Palästinenser
       als Israelis bezeichnet. Es lohnt sich, an diese oft vergessene Tatsache zu
       erinnern. [3][Die Kriege von 1947 bis 48 waren keine kolonialistischen
       Invasionen, sondern ein Bürgerkrieg zwischen zwei Bevölkerungsgruppen
       innerhalb eines Landes], wobei die eine Gruppe – widerwillig – einem
       Kompromiss und einer Teilung des Territoriums zugestimmt und die andere
       Gruppe dies abgelehnt hatte.
       
       Das als „Palästina“ bekannte Mandatsgebiet sollte durch einen Beschluss der
       Vereinten Nationen vom 29. November 1947 in drei Teile geteilt werden:
       einen vor allem für Juden, einen vor allem für arabische Muslime und
       Christen – und eine neutrale Zone in Jerusalem und Bethlehem unter Aufsicht
       der Vereinten Nationen für die ganze Welt, um dort allen die Möglichkeit zu
       geben, religiöse Stätten aufzusuchen.
       
       Transjordanische, syrische, ägyptische und sogar irakische Streitkräfte
       [4][marschierten daher 1948 ein] und wurden größtenteils zurückgeschlagen.
       Die Waffenstillstandsvereinbarungen von 1949 formalisierten eine
       Waffenstillstandslinie, die erst 1967 zu einer „Grenze“ wurde, als Israel
       unter der Drohung einer Invasion diese Linie überschritt. Es übernahm die
       Kontrolle über Landesteile, die in den vorangegangenen 20 Jahren zu Teilen
       Jordaniens, Syriens und Ägyptens geworden waren, aber größtenteils von
       Palästinensern bewohnt wurden, die nicht in diese Länder integriert worden
       waren.
       
       Doch nun begann die Mythenbildung, und diejenigen, die Israel zwei
       Jahrzehnte lang mit Guerillaüberfällen angegriffen hatten, wurden nun zu
       „unschuldigen Opfern der kolonialistischen zionistischen Unterdrückung“
       stilisiert. Zahlreiche Versuche, eine Form des Kompromisses zu schaffen,
       Autonomie ohne vollständige Unabhängigkeit zu gewähren, die militärische
       Kontrolle über strategische Punkte zu behalten, Vereinbarungen für die
       Wasser- und Stromversorgung und den Zugang zu Straßen zu treffen und so
       weiter, haben zu der derzeitigen unruhigen Lage geführt.
       
       ## Palästinenser wurden Opfer der internationalen Politik
       
       Für den Großteil einer Bevölkerung spielt es keine besondere Rolle, wer im
       Palast des Königs oder des Präsidenten sitzt und wer im Nachbardorf lebt,
       solange die Wasserhähne funktionieren, der Müll abgeholt wird und die
       Kinder sicher zur Schule gehen können. Aber leider funktioniert die
       internationale Politik nicht so.
       
       Die Palästinenser wurden zu Opfern der internationalen Politik, wie sie von
       den Führern Libanons, Syriens, Jordaniens, Ägyptens, Irans, Libyens, Iraks
       und der Golfstaaten betrieben wurde. Sie haben in der Tat gelitten. Das
       steht außer Frage.
       
       Die Frage ist: Wie kann die Situation verbessert werden? Würde ein
       unabhängiger Staat Palästina automatisch alles besser machen? Wer wird ihn
       regieren, welche demokratischen Kontrollmechanismen gäbe es? Wer wäre
       verantwortlich (wir wissen aus der Geschichte, dass die UNO sich aus der
       Angelegenheit heraushalten würde), wenn eine fundamentalistische Gruppe die
       gewählte Regierung wie in Jemen verdrängen würde oder eine Miliz wie in
       Libanon, Sudan oder Eritrea die Hälfte des Landes oder, wie in Syrien, das
       ganze Land übernehmen oder wie in Iran die Monarchie stürzen würde, während
       im Hintergrund die Türkei, Iran, China und Russland ihre langfristigen
       strategischen Ziele verfolgen?
       
       ## Friedliche Beziehungen zu Nachbarländern
       
       Ich habe einen bescheidenen Vorschlag, der vermutlich fast alle glücklich
       machen würde. Israel sollte so schnell wie möglich eine „provisorische
       Regierung des freien Palästina“ ausrufen. Mit dieser Erklärung (ähnlich
       derjenigen von Ben-Gurion im Jahr 1948) könnte ein Appell an die
       Nachbarländer, friedliche Beziehungen zu pflegen, einhergehen sowie das
       Versprechen, Wahlen abzuhalten, das Versprechen, die Rechte der Gläubigen
       aller Religionen, die Menschenrechte der Einwohner aller Geschlechter und
       sexueller Orientierung zu respektieren und ein Mehrparteiensystem, eine
       unabhängige Justiz und eine freie Presse zu gewährleisten.
       
       Die neue Regierung der Republik Freies Palästina wird verkünden, dass sie
       alle für den Wiederaufbau der Städte im Gazastreifen zugesagten Mittel
       dankbar annehmen und in die Landwirtschaft, die Meerwasserentsalzung sowie
       die Solar- und Windenergieerzeugung investieren wird. In den Bergen
       westlich des Jordans wird sie ein Regelwerk erlassen, das es Juden ebenso
       wie Christen und Muslimen erlaubt, Dörfer zu gründen.
       
       Allen wird der Zugang zu den verschiedenen heiligen Stätten gestattet. Die
       Regierung wird ein Bildungssystem einrichten, in dem den Kindern nicht
       beigebracht wird, ihre Nachbarn zu hassen, im Gegensatz zum derzeitigen
       (von der EU finanzierten) System, das sie das Gegenteil lehrt. Der Schekel
       wird die Standardwährung sein.
       
       ## Es gilt, strategisch zu denken
       
       Die Vereinten Nationen werden nun mit zwei konkurrierenden
       palästinensischen Regierungen konfrontiert sein, wie in Somalia, in Jemen
       oder im Fall von China und Taiwan. Alle, die in Europa und Amerika auf die
       Straße gehen und „Freies Palästina“ fordern, werden zu ihrer Überraschung
       feststellen, dass es nun tatsächlich ein freies Palästina gibt. [5][Eines,
       das Queers und Christen akzeptiert]. Das sich um das Klima sorgt.
       
       Israel wird das Land nicht annektieren, sondern sich ein stabiles und
       freundliches Nachbarland gesichert haben, was das Wichtigste ist. Es wird
       Grenzen geben und eine gemeinsame Kontrolle darüber, wer und was diese
       Grenzen überschreitet, gemeinsame Handelsabkommen, gemeinsame
       Militärabkommen.
       
       Ich bin kein Prophet. Aber ich vermute, dass die Führer vieler
       arabisch-muslimischer Länder über diese Lösung ziemlich erleichtert wären.
       Die Zahl der Palästinenser, die in ihre Länder fliehen oder auswandern
       wollen, würde sinken, wenn sich die politische Lage stabilisiert und die
       wirtschaftliche Lage verbessert. Natürlich würde es einige geben, die das
       neue Freie Palästina als „Marionettenregierung“ der Israelis verurteilen
       würden. [6][Die Türkei, die immer noch das Massaker an den Armeniern
       leugnet] und nun versucht, Teile Syriens unter ihre Kontrolle zu bringen,
       könnte verärgert sein. Was Katar davon halten würde, kann niemand sagen.
       
       Es gilt, strategisch zu denken. Weder Trump noch Putin werden ewig
       regieren. Saudi-Arabien will Zugang zu einem Mittelmeerhafen, genauso wie
       Jordanien. Ägypten will weniger Störungen des Schiffsverkehrs im Roten
       Meer, die den Suezkanal beeinträchtigen. Ohne die „Palästinenserfrage“ und
       ohne Angst vor einer Ausbreitung des iranischen oder russischen Einflusses
       in der Region könnte sich die Lage beruhigen.
       
       Alles, was dazu nötig ist, ist, eine Kommission einzurichten, sich der
       Unterstützung demokratischer lokaler Führer und Politiker zu versichern, um
       dann, vermutlich nach vielen Diskussionen hinter den Kulissen, ein freies
       Palästina auszurufen. Jetzt. Ein Palästina aber, das frei vom Hass und von
       den Fehlern der Vergangenheit ist.
       
       5 Oct 2025
       
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