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       # taz.de -- Promialarm in Klütz: Eine Nummer zu groß
       
       > Die mecklenburgische Kleinstadt Klütz hat den jüdischen Publizisten
       > Michel Friedman ausgeladen. Nun steht sie im Rampenlicht.
       
   IMG Bild: Solidaritätsdemo für Michel Friedman in Klütz, im Hintergrund das Literaturhaus
       
       Klütz taz | Das Literaturhaus Uwe Johnson ist geschlossen. „Wegen
       Krankheit“, steht dran. Schade, es sieht einladend aus, wie es sich stolz
       über die Altstadt von Klütz reckt. Ein alter Kornspeicher aus hellem
       Backstein, der in der Herbstsonne golden leuchtet, verstärkt durch die
       heiter-gelben Läden der offenen Ladeluken. Aber die mächtige Eingangstür
       bleibt verrammelt.
       
       Das ist schon seit ein paar Tagen so. Seit die Sache mit Friedman läuft.
       Seit Michel Friedman aus Klütz ausgeladen wurde, steht das
       3.000-Seelen-Städtchen im Nordwesten Mecklenburgs unter Beobachtung.
       
       Warum ist das so gekommen? Sicher ist, dass Oliver Hintz den jüdischen
       Publizisten eingeladen hatte, zur Hannah-Arendt-Woche 2026. Und dass er ihn
       wieder ausladen musste. Schon nicht mehr ganz so gewiss ist, ob Oliver
       Hintz eigentlich Leiter des Literaturhauses ist, oder nur dessen
       wissenschaftlicher Mitarbeiter. „Das versuche ich, seit hier bin,
       herauszufinden“, sagt er.
       
       ## Telefonisch angewiesen
       
       Für die Finanzen jedenfalls muss am Ende der Bürgermeister geradestehen.
       Der heißt Jürgen Mevius und ist Ehrenamtler, von der Unabhängigen
       Wählergemeinschaft. Inzwischen ist er ein bundesweit bekannter Mann. Denn
       er hat Hintz telefonisch angewiesen, die Einladung rückgängig zu machen.
       Hintz tat das – und wandte sich an die Presse: Mevius habe die Absage mit
       Sorgen um die Sicherheit begründet, mögliche Proteste von Neonazis oder
       Hamas-Sympathisanten angeführt.
       
       Michel Friedman selbst protestierte öffentlich gegen so ein vorauseilendes
       Einknicken, bezichtigte Mevius der Heuchelei. Plötzlich blickte die ganze
       Republik auf das kleine Klütz, saßen Spiegel, Zeit und die Deutsche
       Presseagentur in der Stadtvertreterversammlung. Die Autorenvereinigung PEN
       Berlin [1][meldete eine Kundgebung in Klütz an – mit Friedman]. Es sollte
       um die Verteidigung der Kunstfreiheit gehen, der Meinungsfreiheit, ach,
       gleich der ganzen Demokratie.
       
       Die Erklärung, die Mevius im Namen der Stadtvertretung abgab, verhallte
       dagegen, wurde als Schutzbehauptung abgetan. [2][Es sei ums Finanzielle
       gegangen, heißt es darin], um die Kostenrisiken, die der Auftritt eines
       A-Promis vom Kaliber eines Michel Friedman mit sich bringt. Mevius ist
       danach erst mal abgetaucht. Ein paar hundert Hass-E-Mails danach hat der
       71-Jährige hingeschmissen. Nach 30 Jahren Kommunalpolitik.
       
       Sein Stellvertreter, der nun erst mal übernehmen soll, ist unglücklich
       darüber. Guntram Jung von der CDU war schon Mevius’ Vorgänger und weiß, wie
       viel Arbeit das ist. Und nun, nach dem Eklat, natürlich noch mehr. Er ruft
       aus dem Auto an, er ist ja, neben seinem Vollzeitjob, auch noch
       Verbandsvorsteher beim Wasser- und Bodenverband und muss zur
       Vorstandssitzung.
       
       „Bei der Absage an Friedman ging es der Stadtvertretung wirklich nur um die
       Kosten“, bekräftigt Jung noch mal. Das mit den Sicherheitsbedenken – „das
       kann nur ein unbedarfter Nebensatz gewesen sein“.
       
       Vielleicht ist es da schiefgegangen: eine informelle Konsultation unter den
       Stadtverordneten, kein förmlicher Beschluss; ein Telefonat, keine
       schriftliche Weisung – das lässt viel Interpretationsspielraum.
       
       ## Klingt beamtisch
       
       Er habe gegen Mevius’ Anweisung „remonstriert“, behauptet Hintz, der
       Vielleicht-ein-bisschen-Literaturhauschef. „Remonstriert“ – er streckt die
       Brust noch ein bisschen weiter vor und spricht das genüsslich aus, das
       klingt so schön beamtisch. Hintz ist aber freier Mitarbeiter auf
       Honorarbasis, kein Beamter. Das könnte er sein. Er war mal bei der Kripo
       Lübeck. Und Dozent an der schleswig-holsteinischen Polizeihochschule in
       Altenholz. Bis [3][die taz 2001 aufdeckte], dass er wissenschaftliche
       Arbeiten seiner Studierenden [4][als seine eigenen publiziert] hatte.
       
       Nebenbei hat er Literaturwissenschaft an der Fernuni Hagen studiert, ein
       Promotionsvorhaben habe er nach der Plagiatsaffäre aufgegeben, hieß es
       damals von der Uni. Den Job im Literaturhaus hat er auch ohne Doktortitel
       bekommen.
       
       Und er ist die Aufgabe mit Verve angegangen. In wenigen Monaten hat er die
       Klützer Hannah-Arendt-Woche aus dem Boden gestampft, die im November zum
       ersten Mal stattfindet. Und das nicht nur in Klütz: In Lübeck gibt es eine
       Diskussion mit Schleswig-Holsteins früherem Ministerpräsidenten Björn
       Engholm (SPD). Es scheint, als sei Klütz für Hintz von Anfang an zu klein
       gewesen. Im kommenden Jahr sollte alles noch größer werden – mit Friedman.
       
       In der Stadt sind nicht alle begeistert von dem frischen Wind, den Hintz
       ins Literaturhaus gebracht hat. Seine Vorgängerin hatte einen Schwerpunkt
       auf die Nach-Wende-Literatur gelegt, die Erfahrungen der Ostdeutschen
       thematisiert. Dem „Wessi“ Hintz geht es darum, das Haus stärker in aktuelle
       Diskurse zu einzubinden, vor allem über die Bedrohung der Demokratie von
       rechts.
       
       Mit seinen Kolleginnen im Literaturhaus liegt Hintz auch deswegen schon
       eine Weile über Kreuz. Inzwischen hat er fast die ganze Stadt gegen sich.
       Gegenüber dem Literaturhaus hängt ein auf weißer LKW-Plane professionell
       gedrucktes Banner: „30 Jahre Ehrenamt mit einer Lüge zerstört!!! Danke
       Oliver Hintz“. Vom Rand lugt der Schattenriss von Uwe Johnson ins Bild, den
       Kopf vorgestreckt, mit Pfeife im Mund. Es ist das Logo des Literaturhauses
       – und längst auch ein Markenzeichen der Stadt.
       
       ## In der rechten Ecke
       
       Darunter stehen ein paar Anwohner zusammen, mit Kaffeetassen in der Hand.
       Es sind noch ein paar Stunden, bis die Kundgebung mit Michel Friedman
       beginnen soll. „Unser Bürgermeister ist an den Pranger gestellt worden“,
       sagt einer, „das ist schwer zu ertragen.“ Sie fühlen sich mitgemeint. „Wir
       stehen jetzt in der rechten Ecke oder in der Ecke derer, die vor den
       Rechten einknicken.“ Er deutet nach oben und sagt: „Schauen Sie, das Banner
       haben wir bewusst schief aufgehängt, nicht im rechten Winkel – weil es hier
       keinen rechten Winkel gibt.“ Ein anderer sagt: „Wir leben gern hier, wir
       lieben unsere Kleinststadt. Und wir möchten, dass sie so bleibt, wie sie
       ist. So sind wir Klützer nun mal.“
       
       Liebe gibt es ganz viel an diesem Tag. Rund um den historischen Markt
       hängen überall Herzchen, aus rotem und grünem Tonpapier, dazu Slogans wie
       „Klütz weltoffen und tolerant“ oder „Für Demokratie“. Fast könnte man
       denken, die Plakate sollten Michel Friedman willkommen heißen. Doch die
       Herzchen sind „Für unseren Bürgermeister und unsere Stadtverordneten“. Mit
       „Demokratie“ ist deren demokratische Entscheidung gemeint, Friedman
       auszuladen.
       
       Der lässt sich nicht beirren. Auf der Bühne, die die PEN-Leute organisiert
       haben, sagt er: „Ich freue mich, hier zu sein.“ Mit Gespür für die Pointe
       fügt er hinzu: „Ich wollte ja im kommenden Jahr ohnehin kommen.“ Ein paar
       hundert Menschen sind gekommen. Vorn an der Bühne stehen viele kulturell
       Interessierte aus der Region, die Friedman applaudieren.
       
       Die meisten Klützer:innen dagegen haben sich so weit davon entfernt
       aufgestellt, wie es der Klützer Markt eben zulässt. Die Lücke dazwischen
       wirkt unversöhnlich. Aber von der Bühne aus entwickelt sich eine offene
       Diskussion, in der beide Lager zumindest versuchen, einander zu verstehen.
       
       In den emotionalen Redebeiträgen wird deutlich, was für einen Schatz Klütz
       mit seinem Literaturhaus hat. Aber auch, wie überfordert die Stadt damit
       ist. Finanziell wie inhaltlich. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, eine
       bewundernswerte Anmaßung, dass eine hoch verschuldete Kleinststadt sich
       solch einen Ort leistet.
       
       Was für eine Chuzpe, einfach Uwe Johnson zu vereinnahmen, [5][den großen
       Dichter der Nachkriegszeit], der mit nicht einmal fünfzig am Alkohol, an
       der Liebe und letztlich wohl auch an den Traumata seiner DDR-Jahre zugrunde
       gegangen ist. Johnson, der in Klütz nie gelebt hat, lediglich einen Strang
       seines Hauptwerks „Jahrestage“ an einem Fantasie-Ort spielen ließ, der
       Klütz nachempfunden ist. Und jetzt noch Hannah Arendt, die mit Johnson
       befreundet war und bis heute [6][die wohl schärfste Deuterin totaler
       Herrschaft] ist. Das passt zusammen, daraus könnte etwas Gutes entstehen.
       
       Dass es noch mit Oliver Hintz entsteht, wird an diesem Abend
       unwahrscheinlicher. Mit Friedman auf der Bühne teilt er noch mal kräftig
       aus, gegen seine Kolleginnen und die ganze Stadt: „Unfassbar“ sei es, dass
       das Johnson-Haus an diesem Abend mit einer gelben Schärpe aus den
       Fensterluken geschmückt sei, der Farbe des Judensterns, den Friedmans
       Familie einst habe tragen müssen.
       
       Es ist das Gelb aus dem Stadtwappen, in dem auch die Fensterläden des
       Hauses gestrichen sind. In diesem Moment wirkt es, als sei Hintz in Klütz
       nie richtig angekommen – und werde es auch nicht mehr.
       
       3 Oct 2025
       
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