URI: 
       # taz.de -- Projektleiterin über Kapergut: „Aufschlussreicher Blick auf den Kolonialismus“
       
       > Ein Oldenburger Team erforscht Dokumente und Gegenstände aus 35.000
       > Schiffskaperungen der frühen Neuzeit. Sie enthüllen den Alltag breiter
       > Schichten.
       
   IMG Bild: Kunstvolle Faltung: Geöffnetes Briefpaket mit einliegenden Briefen
       
       taz: Frau Freist, was sind Prisenpapiere? 
       
       Dagmar Freist: Prisenpapiere sind ein riesiger, in London lagernder
       Archivbestand aus Kapergut: Briefe, Handelsware, persönliche Gegenstände
       und Prozessakten. Das Besondere: Es ist eine nicht vorsortierte, also
       ungefilterte Zufallsüberlieferung historischer Dokumente aus Handels- und
       Kriegsschiffen, die von 1652 bis 1815 während der europäischen Seekriege
       auf den Weltmeeren gekapert wurden. „Prise“ bedeutet beschlagnahmtes Gut.
       Es wurde alles auf dem Schiff beschlagnahmt, um vor Gericht als Beleg zu
       dienen.
       
       taz: Beleg wofür? 
       
       Freist: Ob ein Schiff wirklich feindlich war – und nach damaligem
       Seekriegsrecht legal gekapert werden durfte –, wurde in Prozessen geklärt.
       Denn viele fuhren unter falscher neutraler Flagge, um der [1][Kaperung] zu
       entgehen. Als Indizien für die wahre Herkunft des Schiffs dienten daher
       nicht nur Schiffspapiere und Bauart, sondern auch private Aufzeichnungen.
       Wurde ein Schiff zu Unrecht gekapert, konnte der Eigner auf Erstattung
       klagen.
       
       taz: Wie selten sind Prisenpapiere? 
       
       Freist: Die Londoner Prisenpapiere, die wir seit 2018 in einem auf 20 Jahre
       geförderten Projekts digitalisieren und erforschen, sind der einzig
       bekannte Bestand dieser Art. Es gibt zwar Einzelfunde, etwa in Frankreich
       und Spanien. Aber in diesem Ausmaß – es sind 4.000 Boxen mit Material von
       35.000 gekaperten Schiffen – gibt es das sonst nirgends. In den meisten
       europäischen Ländern sind die Gerichtsakten überliefert, aber nicht das
       Kapergut. In England wurde es nach Abschluss der Prozesse im Londoner Tower
       gelagert, im 20. Jahrhundert an das Nationalarchiv übergeben und dann
       vergessen.
       
       taz: Was für Dokumente enthalten die Prisenpapiere? 
       
       Freist: Bislang haben wir 120 Dokumenttypen identifiziert, darunter Briefe,
       Gerichtsakten, Warenlisten, Gesundheitspässe, Kaperbriefe. Dazu kommen
       Noten, Sprachlehrbücher, private Notizbücher mit Schreib- und Rechenübungen
       etwa von Matrosen. Außerdem 160.000 Briefe in über 20 Sprachen, von Frauen,
       Männern, Kindern geschrieben oder diktiert.
       
       taz: Weiteres Kapergut? 
       
       Freist: Neben Handelsware finden wir Spielkarten, Kaffeebohnen, Schlüssel,
       Stoffproben und Glasperlen – Zahlungsmittel für den Handel mit versklavten
       Menschen. Ein wichtiger Dokumenttypus sind Verwaltungsakten, die
       auflisteten, welche [2][versklavten Menschen] wo eingesetzt wurden. Was für
       uns heute erschütternd ist: die von Hand verfassten Warenlisten, wo die
       versklavten Menschen samt Verkaufspreis aufgeführt sind.
       
       taz: Wie präsentieren Sie solche Listen im Datenportal? 
       
       Freist: Das ist eine echte Herausforderung. Denn wir wollen die Asymmetrie,
       die Gewaltverhältnisse des Kolonialismus weder reproduzieren noch
       verschleiern. Wir arbeiten noch an einer Lösung.
       
       taz: Finden sich Privatbriefe über versklavte Menschen? 
       
       Freist: Ja. Eine [3][Herrnhuter] Missionarin, die in die niederländische
       Kolonie Surinam migriert war, beschreibt versklavte Menschen, die in einer
       Show das Kaffeestampfen vorführen müssen, zu dem sie tagsüber auf den
       [4][Plantagen] gezwungen werden. Die Schreiberin vergleicht das mit dem
       Exerzieren einer Armee – ohne kritische Reflexion.
       
       taz: Wertet sie die versklavten Menschen ab? 
       
       Freist: Ich würde sagen, sie wertet nicht explizit, sondern beschreibt.
       Aber weil sie das so ungefiltert tut, würde man aus heutiger Sicht sagen:
       Sie ist naiv, denn ihr ist die Dimension des Unrechts nicht klar. In
       anderen Briefen zeigt sie Empathie: „Es wird hier laut, ich höre, es wird
       jemand beerdigt.“ Dann beschreibt sie die Beerdigungsrituale der schwarzen
       Bevölkerung und vergleicht sie mit den geordneten christlichen
       Bestattungen. Und weiter: „Die Menschen leiden unter dem Tod eines
       geliebten Menschen, und ihre Klagen erzählen dessen Biografie.“ Diese
       Ambivalenz zwischen vermeintlich nicht-zivilisierter „Unordnung“ und
       Empathie zieht sich bei ihr durch. Die Prisenpapiere erlauben also auch auf
       sozialer Ebene einen aufschlussreichen Blick auf den Kolonialismus.
       
       taz: Auch bezeugen die Briefe die Alphabetisierung breiter Schichten. 
       
       Freist: Ja. Dass die Alphabetisierung verbreiteter war als lange
       angenommen, war schon bekannt. Mit den Prisenpapieren haben wir aber
       erstmals eine Überlieferung, die Einblick in die Sprach- und
       Schreibfähigkeit sozialer Schichten erlaubt, deren Schriften sonst nie in
       ein Archiv gegeben worden wären. Die Schreiber reichen vom Kapitän über
       Händler bis zu einfachen Seeleuten sowie Frauen, Männern, Kindern, oft aus
       ärmeren dörflichen Kontexten.
       
       taz: Sind die Briefe gut verständlich? 
       
       Freist: Nicht immer. Manchmal verstehen wir selbst bei deutschsprachigen
       Briefen nicht, worum es geht. Es gibt keinen Punkt am Satzende, die
       Rechtschreibung ist heterogen. Manches versteht man besser, wenn man es
       laut liest, denn oft haben die Schreiber die gesprochene Sprache irgendwie
       in Buchstaben übersetzt. Auch den Brief einer armenischen Händlerin des 18.
       Jahrhunderts verstand unser armenischer Kollege kaum. Ein jüdisches
       Briefbuch des 17. Jahrhunderts wiederum war in einer Mischung aus
       Portugiesisch, Ladino – das „Judäo-Spanisch“– und Dialekten verfasst. Hier
       hatte unsere portugiesischsprachige Kollegin erhebliche Mühe.
       
       taz: Wovon handeln die Privatbriefe sonst noch? 
       
       Freist: Das reicht von Handelsfragen über Intrigen bis zu Heiratsanträgen
       und Familienangelegenheiten. Und die Briefe, die wir sichten, kamen ja
       tragischerweise nie an, weil die Gerichte sie nicht weiterschickten.
       
       taz: Haben Sie Briefe versklavter Menschen gefunden? 
       
       Freist: Bislang nicht. Es gibt Überlieferungen zu Meutereien versklavter
       Menschen, aber nur indirekt, aus [5][Kolonialherrn]-Sicht. Um damit
       angemessen umzugehen, wollen wir gemeinsam mit Forschern aus den
       Herkunftsländern Lösungen erarbeiten.
       
       taz: Wer hat die Prisenpapiere überhaupt wieder entdeckt? 
       
       Freist: Wir haben Aufzeichnungen aus dem 20. Jahrhundert, die einzelne
       Stücke beschreiben. Und niederländische Kollegen riefen 2016 das Projekt
       „Dutch Prize Papers“ ins Leben. Über dieses Projekt haben wir weitere große
       Bestände entdeckt, die weit über die niederländischen Quellen hinausgehen.
       Als ich dann mit Studierenden in London einige Boxen anschaute, waren wir
       sofort fasziniert vom Potenzial des Archivs. Mir war klar, dass es kein
       nationalhistorisches Projekt würde, sondern ein globalhistorisches, da
       Geschichte durch Migration und Handelskontakte immer eine
       Verflechtungsdimension hat.
       
       taz: Was sagen die Briefe über Migration aus? 
       
       Freist: Migration, auch Armutsmigration in die Kolonien ist ein großes
       Thema. Wir lesen von Problemen der Eingewöhnung und von Kindern, die allein
       nach Europa zurückgeschickt wurden, um dort eine vermeintlich bessere
       Schulausbildung zu erhalten. Ein Elternpaar etwa schreibt immer wieder an
       Verwandte, um zu fragen, ob die Kinder gut in Europa angekommen sind.
       
       taz: Da es kein Telefon gab, erfuhren sie es vielleicht nie. 
       
       Freist: Ja, und diese starke emotionale Belastung spricht aus vielen
       Briefen. Es wird oft thematisiert, wie es sich anfühlt, nichts voneinander
       zu hören.
       
       25 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ungebrochener-Mythos-Klaus-Stoertebeker/!5501087
   DIR [2] /Buch-ueber-4000-Jahre-Schwarze-Geschichte/!6116090
   DIR [3] /Herrnhuter-Bruedergemeine/!6022760
   DIR [4] /Arbeitsbedingungen-im-Kaffeeanbau/!6114821
   DIR [5] /Deutsche-Kolonialgeschichte/!6106013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
       ## TAGS
       
   DIR Göttingen
   DIR Schiff
   DIR Kolonialismus
   DIR Afrika
   DIR Migration
   DIR London
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Museum
   DIR Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Denkmal für einen Kolonialverbrecher: Ein mächtiger Stein des Anstoßes
       
       In Hannover erinnert ein Denkmal an den Kolonialverbrecher Carl Peters. Die
       leichteste Lösung, es einfach wegzuschaffen, scheitert am Denkmalschutz.
       
   DIR Rundlingsmuseum im Wendland: Leinenproduktion für die Sklaverei
       
       Das Rundlingsmuseum Wendland, ein Freilichtmuseum im Landkreis
       Lüchow-Dannenberg, zeigt die Verstrickung der Leinenproduktion in den
       Kolonialismus.
       
   DIR Buch über 4000 Jahre Schwarze Geschichte: Sklaverei und Widerstand
       
       Amat Levins „Black History“ ist ein pralles Leselexikon über viertausend
       Jahre Schwarze Geschichte auf drei Kontinenten.