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       # taz.de -- Künstlerische Stadtführung durch Berlin: Eine Flaschenpost, die verbindet
       
       > „Beton Berlin“ bringt mit Führungen an ungewöhnlichen Orten Kunst in
       > Ecken Berlins, die sonst kaum bis gar keine Beachtung finden. Nun läuft
       > die Förderung aus.
       
   IMG Bild: Hier wird eine Flaschenpost in die Spree versenkt: Teil der Performance „Beton Berlin“
       
       Es ist Frühherbst am Ufer hinter der East Side Gallery im Zentrum Berlins.
       Alisa Tretau bindet Schnüre um ein paar Plastikflaschen und wirft sie in
       die Spree. In ihnen befinden sich Zettel. Nahe der anderen Uferseite ragt
       der letzte Pfeiler der 1945 gesprengten Brommybrücke wie ein Fixpunkt aus
       dem Fluss. Auch Tretau blickt dorthin.
       
       „Heute werden wir über sichtbare und unsichtbare Brücken gehen“, erzählt
       sie. Dann fordert sie das Publikum auf, Teil der Performance zu werden,
       indem jede:r eine Flasche aus dem Wasser zieht. Auf den Zetteln befinden
       sich Aufgaben für den Weg. Dinge wie „beobachte Lücken und Brücken“ oder
       „kommentiere, was du siehst“.
       
       Abseits davon ist Reden während der Wanderung unerwünscht. Dann zieht die
       Gruppe beinahe schweigend am Spreeufer entlang: vorbei an krächzenden
       Krähen und Touristengruppen. Eine Teilnehmerin berührt mit der linken Hand
       alle möglichen Oberflächen, die sich ihr bieten: Fassaden, Holzplanken,
       Plakate, den Münzschlitz eines Fotoautomaten. Christof Zwiener summt
       derweil die Melodie von „Wind of Change“. Er ist selbst Künstler und
       organisiert seit 2022 die Veranstaltungsreihe „Beton Berlin“, zu der er
       Tretau für ein Gastspiel eingeladen hat.
       
       ## Vergessener Fußgängertunnel
       
       „Ich will Menschen an nicht etablierte Orte in der Stadt bringen und damit
       einen Spannungsbogen zum Kunstwerk schlagen“, erklärt er das Konzept. Das
       reicht von einem unter Amazon-Paketen versteckten Mähroboter auf der
       kleinen Grünfläche unter der Warschauer Brücke bis hin zur lärmenden
       Soundperformance in einem fast vergessenen Fußgängertunnel im Grunewald.
       Der genaue Ort der etwa einmal monatlich stattfindenden Events wird erst am
       Tag der Veranstaltung bekannt gegeben. Bis zu 80 Gäste ziehen diese
       Darbietungen laut eigenen Angaben an.
       
       Seine Projekte im öffentlichen Raum stattfinden zu lassen, bildet die
       Grundlage Zwieners kreativer Arbeit. So begann er 2024, den Gertraudenhain
       anzupflanzen – einen Tiny Forest am Spittelmarkt. Angefangen hat er aber
       mit etwas ganz anderem: zwei Quadratmetern, die es bis nach Kalifornien
       geschafft haben.
       
       So klein ist das einstige DDR-Pförtnerhäuschen, das er 2013 vor der
       Verschrottung bewahrte. Den Glas- und Metallkasten verwandelte er in einen
       Raum für wechselnde Interventionen. Broiler wurden darin schon gegrillt,
       genauso wie Konzerte gegeben wurden. Zum 25. Jubiläum des Mauerfalls fragte
       das „Wende Museum“ bei Los Angeles das Werk als Leihgabe an, wo es bis
       heute steht.
       
       ## Mit der Umwelt verknüpfen
       
       Seitdem initiiert Zwiener immer wieder Projekte, die Menschen mit ihrer
       Umwelt in Kontakt bringen sollen, und schließt sich dabei mit
       Gleichgesinnten wie Tretau zusammen. Sie kommt aus der Theaterregie und
       entschied sich bewusst dafür, auch abseits der Bühne künstlerisch zu
       wirken. „Um an Orte zu gehen, an denen die Klimakrise erlebbar ist“: Wie
       die Spree und ihr niedriger werdender Wasserstand.
       
       Im Rahmen der Performance nimmt sie sich bewusst zurück und gibt keinen
       Pfad vor. „Für mich ist das auch eine Übung, um loszulassen. Ich bin
       eigentlich ein totaler Kontrollfreak“, gibt sie zu. Dass die Gruppe sich
       dazu entschied, über die Schiller- statt die Oberbaumbrücke die Spree zu
       kreuzen, sei völlig offen gewesen.
       
       Der Weg danach führt entlang der Kreuzberger Köpenicker Straße, von einer
       industriellen Backsteinfassade zur nächsten, vorbei an Eventspaces,
       Logistikzentren und einem Weinladen. Nach knapp einer Stunde erreicht die
       Gruppe eine Terrasse auf der anderen Uferseite. Und plötzlich sieht man ihn
       wieder, den Pfeilerfuß der Brommybrücke, wie er unbeirrt im Fluss steht.
       
       ## Ein Fluss als Lebensader
       
       Nun dürfen die Teilnehmenden ihre Flaschenpost öffnen und die darin
       versteckten Geschichten vortragen. Sie handeln von den fiktiven Brücken auf
       den Euroscheinen, der Spree als Lebensader, als natürlicher Grenze und
       natürlich von Karl Rudolf Brommy, dem namensgebenden Befehlshaber der
       ersten gesamtdeutschen Marine.
       
       Jeder Textschnipsel wirkt wie ein Denkanstoß, was an diesem Ort verbindet
       und was entzweit. Tretaus „Brückenschlag“ endet, wie er begann, indem die
       Gäste ihre Zettel wieder in die Flaschen stecken, diese am Stahlgeländer
       festschnüren und anschließend zurück in die Spree werfen. Dort bleiben sie,
       bis jemand Neues sie für sich entdeckt.
       
       2026 wird es erstmals keine Förderung für „Beton Berlin“ geben. Zwiener
       plant jedoch, das Projekt fortzuführen – interessante Künstler:innen und
       Locations gibt es ohnehin zur Genüge. Zum Schluss verrät er noch, was es
       mit dem Projektnamen eigentlich auf sich hat.
       
       Denn an ein bestimmtes Baumaterial sind die Auftritte gar nicht gebunden.
       „Beton ist dauerhaft, aber ich mache eigentlich das genaue Gegenteil“,
       erklärt er. Im Vordergrund stehe das Flüchtige, das er lediglich für die
       Nachwelt dokumentiere. Und so mag auch hier der Schein trügen, wenn sich
       demnächst wieder eine Menschengruppe in einen der unscheinbaren Winkel der
       Stadt verirrt.
       
       10 Oct 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alexander Kloß
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Spree
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   DIR Kreuzberg
       
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