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       # taz.de -- Flüchtlingsabwehr im Mittelmeer: Weiter mit den libyschen Folterern
       
       > Trotz anhaltender Menschenrechtsverletzungen: Deutschland und Italien
       > entscheiden sich für weitere Kooperation mit Libyens Küstenwache.
       
   IMG Bild: Ein Schiff der libyschen Küstenwache bei einer Sea-Watch-Rettungsaktion am 26. September, bei der ein Schuss fiel
       
       taz | [1][Schüsse] auf Retter, Folter von Migrant:innen, mafiöse Geschäfte:
       Seit Jahren häufen sich Berichte über schwerste Menschenrechtsverletzung
       der libyschen Küstenwache (LCG) und der mit ihr verbundenen Milizen.
       Trotzdem haben Italien und Deutschland am Mittwoch unabhängig voneinander
       entschieden: Die Zusammenarbeit geht weiter.
       
       Am Mittwoch winkte der Bundestag die Verlängerung des Bundeswehr-Mandats
       für die EU-Militärmission Irini durch. Diese soll das Waffenembargo gegen
       Libyen überwachen, als „Nebenaufgabe“ aber auch die LCG weiter aufbauen und
       schulen. An Letzterem hatte sich Deutschland bisher wegen deren
       Menschenrechtsverstößen explizit nicht beteiligt. „Grundsätzlich gilt für
       die Bundesregierung: [2][Es gibt keine deutsche bilaterale Unterstützung
       für die libysche Küstenwache]“, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes
       noch Ende September der taz.
       
       Kürzlich hatte die NGO Sea Watch eine [3][Dokumentation] von 60 gewaltsamen
       Angriffen auf Seenotretter im Mittelmeer durch die LCG veröffentlicht. Bei
       einem neuerlichen [4][Angriff] während einer Rettungsaktion am Montag wurde
       ein Mensch lebensgefährlich und zwei weitere schwer verletzt.
       
       Doch im neuen Bundeswehr-[5][Mandat] ist die „Schulung“ der LCG als Aufgabe
       genannt. So solle ein „Gleichlaut zwischen Bundestags- und EU-Mandat“
       geschaffen werden, sagte ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums
       der taz. Allerdings gebe es derzeit „keine konkreten Planungen zur
       Wahrnehmung der Ausbildungsaufgabe durch die Bundeswehr“. Doch die zu
       Ampel-Zeiten verfolgte Linie ist damit passé.
       
       ## „Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit“
       
       Die Linken-Abgeordnete Lea Reisner, früher selbst als Freiwillige in der
       Seenotrettung aktiv, sagte, die Bundesregierung wolle die Zusammenarbeit
       mit libyschen Milizen ausbauen, „die auf zivile Rettungsschiffe und
       flüchtende Menschen schießen.“ Was als Beitrag zur europäischen Stabilität
       verkauft werde, sei „in Wahrheit Beihilfe zu Verbrechen gegen die
       Menschlichkeit,“ so Reisner.
       
       Auch in Rom hatte sich das Parlament am Mittwoch mit dem Thema befasst. Zur
       Debatte stand die turnusmäßige Verlängerung einer aus dem Jahr 2017
       stammenden Vereinbarung mit Libyen zur Flüchtlingsabwehr. Getroffen hatte
       sie damals die sozialdemokratisch geführte Regierung unter Paolo Gentiloni.
       Am Dienstag beantragte aber ein Bündnis von Oppositionsparteien unter der
       PD-Chefin Elly Schlein, die Zusammenarbeit mit der LCG zu stoppen. Diese
       sei von Milizen durchsetzt, „die jeden Tag Menschen- und Grundrechte mit
       Füßen treten“, sagte Schlein.
       
       Es gebe zahlreiche Zeugnisse über „Gräueltaten, Folter, Menschenhandel,
       Morde, Verletzungen der grundlegendsten Rechte, Schüsse gegen
       Migrantenboote,“ so Schlein. Doch am Mittwoch wies Rechtskoalition unter
       Ministerpräsidenten Giorgia Meloni den Antrag im Parlament ab. Es wird also
       weiter Schiffe, Geld, Training und Ausrüstung geben, damit die LCG
       Flüchtlinge auf dem Mittelmeer stoppt und zurückholt. Ziel sei der „Kampf
       gegen den Menschenhandel“, behauptete indes Meloni. Fast wortgleich
       begründete das auch Auswärtige Amt in Berlin, warum es die Möglichkeit
       geschaffen habe, sich am „Kapazitätsaufbau“ in Libyen zu beteiligen.
       
       Seit Dienstag [6][protestiert] dagegen in Rom ein Bündnis um die Gruppe
       [7][Refugees in Libya] (RiL). Zu einer „Überlebenden-Bühne“ auf der Piazza
       Vidoni am Samstag bringt sie rund 50 Geflüchtete aus zehn Ländern in Europa
       und Nordamerika zusammen, die einst in den libyschen Folterlagern
       inhaftiert waren. „Wir werden nie vergessen, was uns dort angetan wurde“,
       sagt der aus Sudan stammende RiL-Gründer David Yambio. In den insgesamt
       drei Lagern, in denen er in den Jahren 2019 und 2020 interniert war, wurden
       bis zu 7.000 Menschen festgehalten.
       
       „Man kann sich nicht hinlegen, es gibt kaum Wasser und Toiletten, bei 45
       Grad schmilzt dein Körper förmlich.“ Das ganze System sei darauf ausgelegt,
       die Menschen zu terrorisieren, um Lösegeld zu erpressen oder sie für
       Zwangsarbeit weiterzuverkaufen, sagt Yambio. „Sie sagen, es ginge in den
       Kampf gegen Menschenhandel – dabei sind die Milizen in Libyen die größten
       Menschenhändler.“ Dass Italien und die EU Akteure unterstützen, die tief in
       dieses Geschäft verstrickt seien, dürfe nicht unwidersprochen bleiben. „Sie
       glauben, niemand zieht sie zur Rechenschaft.“ Das müsse enden. Niemand
       solle sagen können, er wisse nicht, was in Libyen geschieht, sagt Yambio.
       
       ## „Stark von der Organisierten Kriminalität beeinflusst“
       
       Der Kampagne gegen das Memorandum of Understanding mit Libyen angeschlossen
       hatte sich auch die in Italien einflussreiche Anti-Mafia-Bewegung. „Für uns
       ist klar, dass die Situation in Libyen stark von der Organisierten
       Kriminalität beeinflusst ist“, sagt Giorgio Sammito von der NGO
       [8][Libera]. Das Bündnis kämpft seit Jahren dafür, dass Vermögenswerte
       krimineller Netzwerke in gemeinnützige Projekte überführt werden.
       
       Sammito sieht starke Parallelen zwischen dem Agieren der libyschen Milizen
       und der italienischen Mafia: „Infiltration des Staates, faktische Kontrolle
       über ein Territorium, Gewalt als Machtinstrument – das sind Ähnlichkeiten“,
       sagt Sammito. In Libyen sei kaum noch zwischen kriminellen Milizen und
       staatlichen Akteuren zu unterscheiden. Umso schlimmer sei, dass Italien und
       die EU solche Akteure weiter aufbauen.
       
       Libera setzt sich seit Jahren für das Gedenken an die Opfer von
       Mafia-Morden ein. „Ich glaube, dass es da Berührungspunkte mit den Kämpfen
       der Flüchtlinge gibt“, sagt Sammito. „Bei uns geht es darum, die anonymen
       Toten sichtbar zu machen“, sagt er. Die toten Flüchtlinge erscheinten in
       der öffentlichen Wahrnehmug meist nur als namenlose Zahlen. „Das ist eine
       Form der Entmenschlichung. Man muss ihnen ihre Würde zurückgeben. Dabei
       wollen wir mithelfen.“
       
       Am Freitag will das Protestbündnis deshalb eine Liste mit den bekannten
       Daten von rund 60.000 Menschen, die seit 1993 im Mittelmeer zu Tode kamen
       in der Innenstadt von Rom entrollen.
       
       Im Anschluss will die Gruppe Refugees in Libya mit einem Tribunal an einen
       besonders schweren Völkerrechtsverstoß Italiens erinnern: Im vergangenen
       Januar war der libyschen General Osama Almasri Njeem bei einem Fusballspiel
       in Turin [9][festgenommen] worden. Unter Almasris Kommando standen mehrere
       Internierungslager in Libyen. Wegen schwerster Misshandlung der dort
       inhaftierten wird Almasri vom Internationalen Strafgerichtshof ICC in Den
       Haag gesucht. Der Vorwurf: Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Doch die
       Meloni-Regierung lieferten Almasri nicht aus, sondern ließ ihn von der
       italienischen Luftwaffe nach Tripolis zurück fliegen.
       
       „Niemand benennt die Verantwortlichen für dieses Unrecht“, sagt
       RiL-Sprecher David Yambio, der selbst in mindestens einem der Lager
       inhaftiert war, das Almasri befehligt hatte. „Also tun wir es.“
       
       Am Samstag hatte die NGO „Ärzte für Menschenrechte“ (MEDU) mit Blick auf
       die Parlamentsdebatte Papst Leo in einen Bericht mit dem Titel „Die
       Folterfabrik“ übergeben. 3.000 Menschen, die zwischen 2014 und 2020 in den
       libyschen Intierungslagern schwerste Menschenrechtsverletzungen erlitten
       haben, wurden für den Bericht befragt. „Nichts hat sich seitdem geändert“,
       sagte MEDU-Koordinator Alberto Barbieri. Auch Amnesty International und
       Human Rights Watch hatten die Zusammenarbeit scharf kritisiert.
       
       16 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Waehrend-Rettungsaktion-der-NGO-Sea-Watch/!6116093
   DIR [2] /Seenotrettung-im-Mittelmeer/!6115216
   DIR [3] https://sea-watch.org/60-libysche-angriffe-auf-see-bundesregierung-plant-libysche-kuestenwache-zu-trainieren/
   DIR [4] https://mediterranearescue.org/en/news/dopo-gli-spari-libici-sbarcano-a-pozzallo-in-172-una-persona-in-fin-di-vita-e-due-altre-ferite-gravi
   DIR [5] https://dserver.bundestag.de/btd/21/020/2102068.pdf
   DIR [6] https://www.refugeesinlibya.org/post/action-days-in-rome-stop-mou
   DIR [7] https://www.refugeesinlibya.org/
   DIR [8] https://www.libera.it/
   DIR [9] /Italien-liess-international-gesuchten-libyschen-Folterer-vorsaetzlich-laufen/!6100790
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
       
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