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       # taz.de -- Klimakrise eskaliert: Die Angst vor drei Grad Erderhitzung
       
       > Deutsche Klimaexpert*innen warnen davor, dass die Klimakrise noch
       > deutlich schneller eskaliert als erwartet. Das ist in der Fachwelt
       > umstritten.
       
   IMG Bild: Die Schornsteine des Harrison-Kohlekraftwerks in Haywood, West Virginia im März 2025
       
       Berlin taz | Das hat für Furore gesorgt: „Bereits bis 2050 besteht das
       Risiko einer Erwärmung um 3 Grad“, warnten die Deutsche Meteorologische
       Gesellschaft und die Deutsche Physikalische Gesellschaft in einem
       gemeinsamen [1][Aufruf] vom Donnerstag. Es mehrten sich die Anzeichen, dass
       die globale Erwärmung schneller als bisher erwartet fortschreitet. „Daher
       ist dringendes Handeln geboten.“
       
       Eine Erderhitzung um 3 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau hätte
       katastrophale Auswirkungen: Im Sommer würden Hitzewellen mit unerträglichen
       und gesundheitsgefährdenden Temperaturen die Regel. Manche Regionen der
       Welt, in denen es jetzt schon heiß ist, dürfte der weitere
       Temperaturanstieg unbewohnbar machen. Zudem wären alle Küstenregionen
       weltweit bedroht, weil mit einem enormen Meeresspiegelanstieg zu rechnen
       wäre.
       
       Der Anbau von Lebensmitteln wäre deutlich erschwert, etwa durch die
       Ausbreitung von Wüsten oder das Verschwinden der Gletscher, deren
       natürliches Schmelzwasser bislang zur Bewässerung von Feldern und Äckern
       beiträgt. Heftigere Sturmfluten wären zu erwarten. Die Liste an schweren
       Folgen für alle Lebewesen ließe sich noch lange fortführen.
       
       Deshalb hat sich die internationale Gemeinschaft mit dem Pariser
       Weltklimaabkommen das Ziel gesetzt, die Erderhitzung auf „deutlich unter 2
       Grad“ und möglichst sogar bei 1,5 Grad zu begrenzen.
       
       ## 2024 schon über der 1,5-Grad-Grenze
       
       Die nötigen Schlussfolgerungen, nämlich ein schnelles Ende der fossilen
       Energienutzung einzuleiten, hat aber bislang kaum eine Regierung wirksam
       gezogen. Deshalb sind Warnungen über eine Erderhitzung von durchschnittlich
       3 Grad nicht neu – bezogen sich aber bisher meist auf 2100.
       
       Der [2][Climate Action Tracker], ein Projekt der Thinktanks Climate
       Analytics und New Climate Institute, kommt beispielsweise zu dem Schluss:
       Wenn es bei den klimapolitischen Maßnahmen bleibt, die bisher umgesetzt
       sind, ist die Erde bis 2100 um 2,7 Grad heißer als vor der
       Industrialisierung. Wäre der Punkt schon ein halbes Jahrhundert vorher
       erreicht, nämlich in nur 25 Jahren, bliebe viel weniger Zeit für die
       Anpassung an die neuen Gegebenheiten.
       
       Die Frage, ob und wie stark sich die Klimakrise gegenüber vorherigen
       Annahmen beschleunigt, wird in der Fachwelt allerdings kontrovers
       diskutiert. Auf ein erhöhtes Tempo weisen vor allem die Temperaturrekorde
       der vergangenen Jahre hin. [3][2024 war beispielsweise das erste
       Kalenderjahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, das durchschnittlich
       mehr als 1,5 Grad heißer war als das vorindustrielle Niveau].
       
       In der Klimaforschung gilt erst ein Zeitraum von 30 Jahren als ausreichend,
       um statistisch robuste Aussagen über das Klima treffen zu können. Das ist
       also schlicht noch nicht möglich. Was sagen Fachkolleg*innen aus der
       Klimaforschung zu der Warnung vor einer Erderhitzung um 3 Grad schon im
       Jahr 2050?
       
       Christian Franzke, Klimaphysiker an der südkoreanischen Universität Busan,
       weist darauf hin, dass Klimaforscher*innen mindestens 30 Jahre
       brauchen, um sicher über Trends reden zu können. „Andererseits sehen wir
       keine Anzeichen, dass sich die Erwärmung abschwächt“, so der
       Wissenschaftler. „Von daher können wir 2050 einer Erwärmung von drei Grad
       Celsius nah sein, da die meisten Länder – auch Deutschland – nicht schnell
       genug ihre Treibhausgasemissionen auf null reduzieren; eher emittieren wir
       immer mehr.“
       
       ## „Kein wissenschaftlicher Konsens“
       
       Andere sind deutlich skeptischer. „Aus meiner Sicht gibt es keine fundierte
       wissenschaftliche Grundlage für die Annahme, dass sich die Welt bis 2050 um
       drei Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Niveau erwärmen
       könnte“, sagt Bjorn Stevens, der die Abteilung Klimaphysik am Hamburger
       Max-Planck-Institut für Meteorologie leitet. „Aus historischen
       Aufzeichnungen wissen wir, dass die Temperatur nicht von Jahr zu Jahr
       gleichmäßig ansteigt, sondern oft größere Sprünge erlebt, auf die eine
       geringere Erwärmung oder eine Erwärmungspause folgt.“
       
       Die globale Erwärmung verlaufe ziemlich genau wie vorhergesagt. „Ein großer
       Unterschied zur Vergangenheit besteht darin, dass sie nun einen Punkt
       erreicht hat, an dem die Veränderungen deutlicher spürbar werden“, so der
       Wissenschaftler. Es gebe keinen wissenschaftlichen Konsens darüber, dass
       sich die Erwärmung beschleunigt.
       
       „Nicht für unmöglich, aber doch für sehr unwahrscheinlich“ hält Helge
       Gößling, Klimaphysiker am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven, eine
       Erwärmung um drei Grad Celsius bis 2050. „Dazu müssten wohl mehrere ‚worst
       cases‘ zusammentreffen: Ein starker weiterer Anstieg der
       Treibhausgaskonzentrationen durch starke Emissionen und schwache
       Kohlenstoffsenken kombiniert mit einer Klimasensitivität am oberen Ende des
       Unsicherheitsbereichs, sowie ein starker weiterer Rückgang der
       Aerosolkonzentrationen kombiniert mit einer stark kühlenden Aerosol-Wirkung
       – welche dadurch wegfällt.“
       
       Mit Aerosolen sind Kleinstpartikel in der Luft gemeint. Sind sie dunkel,
       zum Beispiel Ruß, absorbieren sie Sonnenlicht und tragen zur Erderhitzung
       bei. Hellere Teilchen reflektieren das Sonnenlicht hingegen und kühlen die
       Erde so. Wie stark, ist noch Gegenstand der Forschung. Aerosole landen auf
       natürlichen Wegen in der Atmosphäre, etwa bei Vulkanausbrüchen.
       
       Sie entstehen allerdings auch bei der Verbrennung fossiler Energieträger,
       zum Beispiel in der Industrie, in Autos, Schiffen und Flugzeugen. Nutzt man
       diese weniger oder stellt sie auf sauberere Technologien um, fällt neben
       dem (überwiegenden) erderhitzenden Effekt von Kohle, Öl und Gas auch der
       kühlende weg.
       
       Dass sich die Erderwärmung beschleunigt, hält Gößling aber grundsätzlich
       für plausibel. „Die längerfristige Erwärmungsrate lag seit den 70er Jahren
       bei ungefähr 0,2 Grad Celsius pro Dekade, wohingegen sie in den letzten 10
       bis 20 Jahren eher im Bereich von 0,25 bis 0,3 Grad Celsius pro Dekade
       lag“, so der Wissenschaftler.
       
       ## „Kein Grund zum Zurücklehnen“
       
       Auch Karsten Haustein vom Institut für Meteorologie an der Universität
       Leipzig sieht „valide Indizien“ dafür, dass sich die Erderwärmung
       möglicherweise beschleunigt. Aber: „Die drei Grad Celsius bis 2050 halte
       ich für etwas schwieriger, da der Temperaturanstieg sich auf deutlich über
       0,5 Grad pro Dekade erhöhen müsste, was die derzeitige Tendenz von 0,3 Grad
       pro Dekade nicht hergibt.“
       
       Haustein warnt aber davor, aus dieser Unsicherheit das falsche politische
       Fazit zu ziehen: „Selbst 2 bis 2,5 Grad im Jahr 2050 sind kein Grund zum
       Zurücklehnen.“
       
       Der Feststellung der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft und der
       Deutschen Physikalischen Gesellschaft in ihrem Aufruf, dass dringendes
       Handeln geboten sei, widerspricht keiner der Experten.
       
       26 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://extremwetterkongress.org/wp-content/uploads/2025/09/DPG_Klimaaufruf_Langfassung-2.pdf
   DIR [2] https://climateactiontracker.org/global/cat-thermometer/
   DIR [3] /Klimakrise/!6055254
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Schwarz
       
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