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       # taz.de -- Nachruf auf Filmemacher Hartmut Bitomsky: Es blieb der scharfe materialistische Blick
       
       > Für seine Filme stellte er keine neuen Bilder her, sondern sezierte die
       > bestehenden: Zum Tod des Essayisten und Dokumentaristen Hartmut Bitomsky.
       
   IMG Bild: Regisseur Hartmut Bitomsky während des 66. Filmfestivals von Locarno am 7. August 2013 in Locarno, Schweiz
       
       Ein Mann am Schreibtisch. Er blättert Schwarz-Weiß-Fotos auf. Sie zeigen
       einen Mord. Man sieht das Messer, den Duschvorhang, den aufgerissenen Mund,
       schwarzes Blut, das in den Ausguss rinnt. Der Mord in Alfreds Hitchcocks
       „Psycho“ ist eines der berühmtesten Todesbilder der Filmgeschichte. Hartmut
       Bitomsky kommentiert dazu in dem Videoessay „Das Kino und der Tod“ von
       1988: „Kein verletzter Körper, keine Wunden. Der Zuschauer glaubt, einen
       Mord gesehen zu haben – doch er hat nicht stattgefunden“. Hitchcock, der
       Meister der Täuschung, stelle sich in dieser Szene „die Frage: Was ist der
       Tod?“ Am Ende der Szene sieht man die dunklen Augen der Toten, die ins
       Nichts starren. „Das Nicht-Sehen ist die größte Annäherung an den Tod, die
       Hitchcock sich vorstellen kann“, [1][kommentiert Bitomsky].
       
       „Das Kino und der Tod“ ist ein kleiner Film über große Fragen: Was ist das
       Kino? Was sehen wir? Was glauben wir? Es ist ein Film mit minimalistischen
       Mitteln, typisch für den Dokumentarfilmer, Filmlehrer, Kritiker und
       Essayisten Bitomsky. Schreibtisch, Fotos, Text, manchmal Musik. Keine
       Filmausschnitte. Die Bewegungen der Filme, von Griffith bis Godard, sind
       auf Fotos eingefroren. Das ergibt einen seltsamen, verfremdenden Effekt.
       Die Bilder wirken in der Bewegungslosigkeit der Fotos intensiver, so wie
       die Verlangsamung der Bilder in Filmen von Sam Peckinpah wie „The Wild
       Bunch“ die Effekte der Gewalt intensivieren. Gleichzeitig schafft die
       Reduzierung auf Foto und Text Distanz. Man beginnt die Bilder des Todes zu
       lesen, so wie man einen Text entziffert.
       
       Man muss keine neuen Bilder herstellen, sondern die Bilder, die es gibt,
       bearbeiten. Das hat [2][Harun Farocki], ein Freund und Weggefährte von
       Bitomsky, mal gesagt. Das war ein programmatischer Satz auch für die Arbeit
       von Bitomsky. Dessen Essayfilme waren Bilderbefragung, Versuche, in Details
       vergrabene historische Zusammenhänge zum Vorschein zu bringen. In
       „Deutschlandbilder“ (1983) sezierte Bitomsky NS-Kulturfilme.
       „Reichsautobahn“ (1986) ist die Entzifferung eines NS-Mythos. Man sieht
       Adolf Hitler, der am 23. September 1933 in Frankfurt beim ersten
       Spatenstich für den ersten Autobahnabschnitt gar nicht mehr aufhören kann,
       Sand zu schippen. Es sollte, kommentiert Bitomsky, unbedingt nach
       Anstrengung aussehen. Die neuen Straßen waren Zeichen, dass „Deutschland
       modern war“. Für LKWs war der Belag zu dünn, Autos gab es in den 30er
       Jahren auch kaum. Und die gingen kaputt, wenn sie schnell fuhren.
       Autobahnen, so Bitomskys mit lässiger knarzig-tiefer Stimme gesprochener
       Kommentar, waren im NS eher dazu da, gefilmt und bewundert als benutzt zu
       werden. Bitomsky war ein marxistischer Linker. Nachdem der Glaube an den
       Sozialismus versickert war, blieb der scharfe materialistische Blick.
       [3][Bitomsyks Kunst, schrieb der Filmkritiker Michael Althen,] war, etwas
       zu sehen, „was so noch keiner gesehen hat, obwohl es für alle sichtbar
       wäre.“
       
       ## Westberlin, Kalifornien, Berlin
       
       Bitomsky gehört zum ersten Jahrgang der 1966 in Westberlin gegründeten
       Filmschule DFFB, zusammen mit dem späteren RAF-Terroristen Holger Meins und
       dem späteren Hollywoodregisseur Wolfgang Petersen. Er schrieb in den 70er
       Jahren, wie Farocki, für die Zeitschrift Filmkritik, und arbeitete als
       Dokumentarist, viel für den WDR. Nach 1993 war er für zehn Jahre in
       Kalifornien Dekan an einer Kunsthochschule. 2006 kehrte er nach Berlin
       zurück, drei Jahre lang als Direktor der DFFB. Zentrale dokumentarischen
       Arbeiten befassten sich mit der Geschichte des US-Bombers B52 (2001),
       [4][dem Architekten Hans Scharoun] (1993) und Staub (2007). Sein Werk
       lagert in öffentlich-rechtlichen Archiven. Zugänglich ist es nicht.
       
       Bitomsky hatte ein Talent für sprachliche Miniaturen und Verdichtungen. Der
       Titel seines 1972 erschienenen Buches über Produktion und Ästhetik des
       Films lautete „Die Röte des Rots von Technicolor“. Bitomsky konnte Bilder
       lesen und Worte zu Bildern machen. Am letzten Mittwoch ist er im Alter von
       83 Jahren gestorben.
       
       29 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=Act2sv1IKTA
   DIR [2] /Ausstellung-Control-No-Control/!5517982
   DIR [3] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/sachbuch/ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst-die-kinowahrheiten-des-hartmut-bitomsky-sind-trotz-b-52-bombern-ein-veritables-lektuerevergnuegen-1119582.html
   DIR [4] /Kultur-in-der-Berliner-Grosssiedlung/!5694485
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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