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       # taz.de -- Auf dem Flohmarkt in Berlin-Neukölln: Platten verkaufen im Schatten eines Eichhörnchens
       
       > Menschen, die von nichts wissen, glauben, es falle schwer, sich von alten
       > Platten zu trennen. Nun: Es kommt darauf an, wie viele davon man hat.
       
   IMG Bild: Ist doch ein hübscher Blickfang, so ein Eichhörnchen
       
       Fällt einem das nicht wahnsinnig schwer, Schallplatten aus der eigenen
       Sammlung auf dem Flohmarkt zu verscherbeln? Diese Frage wird schon mal
       gestellt, wenn man ankündigt, auf dem Trödel ausnahmsweise nicht wie üblich
       noch mehr Kram erwerben zu wollen, sondern sich im Gegenteil von ein paar
       Dingen zu trennen. Hinter der Frage steckt die Vorstellung, dass man als
       Sammler zu Schallplatten eine gewisse emotionale Bindung haben müsse, sonst
       würde man sich seine Regale ja nicht mit unendlich vielen Tonträgern
       zustellen, anstatt wie jeder normale Mensch ein Spotify-Abo zu unterhalten.
       
       Bei Menschen mit überschaubaren Sammlungen mag es auch so sein, dass sie
       bei jeder Platte noch genau wissen, in welcher Lebensphase sie diese
       erworben haben, und ganz sentimental werden, wenn sich der Tonarm über
       „Harvest“ von Neil Young senkt, die die Ex-Freundin so gern hatte.
       
       Bei Thomas und mir aber ist das anders. Wir haben uns letztes Wochenende
       auf den Flohmarkt in Neukölln gestellt, weil wir einfach Ballast loswerden
       wollten. Wer nur noch Kopfschütteln vom Besuch erntet, weil der einen nicht
       mehr für einen Sammler, sondern für einen Messie hält, sollte wenigstens in
       Maßen auf Marie Kondo hören und ausmisten. Damit man nicht doch so endet
       wie dieser Chris in der für Plattensammler verstörenden Doku „Vinyl“ von
       Alan Zweig, der niemanden mehr in seine Bude lässt, in der sich selbst auf
       seinem Bett die Platten stapeln.
       
       Möglichst alles loszuwerden, war also das logische Ziel. Aber so lief es
       natürlich nicht. Auch wenn einiges wegging, fühlten sich die zerpflückten
       Plattenkisten am Ende des Flohmarkttags immer noch viel zu schwer an. Aber
       wir wollen uns nicht beklagen: Es lief gut und hat richtig viel Spaß
       gemacht.
       
       Mehr als sonst jedenfalls. Es war ja nicht unser erster gemeinsamer
       Flohmarkt. Einmal im Jahr gönnen wir uns dieses Ritual, das vom Prinzip her
       immer gleich abläuft, dieses Mal aber doch ganz anders. Normalerweise ist
       es so, dass die ersten Vinyl-Junkies bereits Schlange stehen, wenn man
       gerade noch dabei ist, die Kisten auszupacken. Wenn die mit den Kisten
       durch waren, passierte in der Regel nicht mehr so viel, nur noch ein paar
       Flohmarktspaziergänger stöberten halb interessiert herum, um dann doch
       nichts zu kaufen.
       
       Diesen Sonntag aber herrschte den ganzen Tag über Gedrängel an unserem
       Stand. Vielleicht weil wir nicht ganz so sehr wie sonst wie die typischen
       Vinyl-Fritzen wirkten, von denen sich ausschließlich die anderen
       Vinyl-Fritzen angesprochen fühlen. Wir hatten dieses Mal auch viel mehr
       Klamotten und CDs im Angebot und vor allem ein paar echte Hingucker wie ein
       ausgestopftes Eichhörnchen und etwas wirklich sehr schwer Definierbares,
       das Thomas Ho-Chi-Minh-Sandalen nannte. Die Dinger wurden aus ausrangierten
       Autoreifen gefertigt und seien unkaputtbar, so Thomas. Ein ausgestopftes
       Eichhörnchen und unförmige Sandalen aus Autoreifen wollte zwar natürlich
       niemand haben, aber sie erregten Neugier. Und wer diese Kuriositäten aus
       der Nähe betrachtete, warf dann vielleicht doch noch einen Blick in die
       Plattenkisten.
       
       Einmal aber gab es sogar eine Art Verkaufsgespräch bezüglich des
       Eichhörnchens, als zwei Kinder dieses neugierig betrachteten und vorsichtig
       streichelten. Es stellte sich heraus, dass sie in der Schule die
       „Eichhörnchen-Klasse“ besuchen und somit also vor ihrem Wappentier standen,
       das zwar tot war, aber eigentümlich lebendig wirkte. Die beiden Kinder
       waren wirklich sehr angetan von dem ausgestopften Nager, ihr Vater aber
       weniger, weswegen die beiden Eichhörnchen auf ihr Eichhörnchen verzichten
       mussten.
       
       Immerhin hatten wir so sogar mal wirklich interessierte Kinder am Stand.
       Sonst stehen diese immer nur quengelnd neben ihren Vätern und weit seltener
       Müttern und haben sichtbar kein Verständnis dafür, dass schon wieder eine
       dieser doofen Schallplattenkisten durchwühlt werden müssen.
       
       Beim nächsten Flohmarkt müssen Eichhörnchen und Ho-Chi-Minh-Sandalen
       unbedingt wieder mit dabei sein.
       
       11 Oct 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Hartmann
       
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