# taz.de -- Reformen in der Sozialpolitik: Nach unten treten, zum Glück tragen
> Nach den Beschlüssen der Koalition zum Bürgergeld gehen die Bewertungen
> von Praktiker*innen auseinander. Rechtlich sind die Pläne
> problematisch.
IMG Bild: Nach dem Koalitionsausschuss im Kanzleramt: Union und SPD einigen sich auf soziale Kälte
Helena Steinhaus kann sich nicht entscheiden. Welche der Verschärfungen,
die die schwarz-rote Koalition beim Bürgergeld plant, wird die größten
Auswirkungen haben? „Es ist insgesamt eine Katastrophe“, sagt die
Aktivistin, die [1][mit ihrem Verein Sanktionsfrei]
Bürgergeld-Empfänger*innen unterstützt – und ihnen aus einem Spendentopf
aushilft, wenn das Amt nicht zahlt.
Die Nachfrage danach könnte im nächsten Jahr steigen: In der Nacht auf
Donnerstag haben sich die Spitzen von Union und SPD auf Änderungen bei der
Grundsicherung verständigt. [2][Detailfragen sind zwar weiterhin offen.] In
der Tendenz ist aber klar: Es wird härter, nicht zuletzt bei den
Sanktionen.
Bei Regelverstößen sollen in Zukunft schneller 30 Prozent der Regelbedarfe
gestrichen werden – bei einem Erwachsenen also 169 Euro von 563 Euro.
Bislang geht es stufenweise hoch, beginnend bei 10 Prozent. Wer eine
Arbeitsstelle ablehnt, verliert in Zukunft möglicherweise auf Anhieb den
kompletten Regelsatz – so lässt es sich zumindest aus dem Beschluss des
Koalitionsausschusses herauslesen. Im Wiederholungsfall könnten auch die
Unterkunftskosten gestrichen werden – so hat es zumindest der Kanzler
gesagt. Erscheint jemand mehrmals ohne akzeptierte Entschuldigung nicht zu
Terminen, werden ebenfalls alle Leistungen eingestellt, einschließlich der
Miete. Vielleicht fallen sie komplett weg, vielleicht werden sie nur
eingefroren – auch dazu fehlen eindeutigen Angaben.
Als „super krass“ bezeichnet Helena Steinhaus die geplanten Strafen für
Terminversäumnisse. Was sagt sie zu dem verbreiteten Bauchgefühl, man könne
von Empfänger*innen staatlicher Leistungen erwarten, im Jobcenter zu
erscheinen? „Ich verstehe, dass das bei vielen der erste Gedanke ist“, sagt
sie. „In der Realität geht es aber häufig um Menschen, die aus
verschiedenen Gründen große Schwierigkeiten haben, mit ihrem Leben
zurechtzukommen. Oft sind Leute zu den vorgeschriebenen Zeiten auch
verhindert – oder in den Jobcentern gehen Absagen verloren.“ Und selbst
wenn jemand ohne guten Grund Regeln breche: „Gibt uns das das Recht, Leute
auf die Straße zu setzen? Und geht es uns dann besser?“
## Wollen keine Notlagen herbeiführen
Anders fällt die Bewertung der Pläne naturgemäß aus, wenn man auf der Seite
der Jobcenter nachfragt. Dirk Heyden ist Geschäftsführer des Jobcenters
Hamburg. Für ihn sind „alle diejenigen Änderungen hilfreich, die die
Verbindlichkeit im gegenseitigen Handeln zwischen Kundinnen und Kunden
sowie dem Jobcenter stärken“. Er begrüße auch alle Maßnahmen, „die dazu
beitragen, dass auch die Kundinnen und Kunden, die sich bisher entziehen,
wieder zur Beratung ins Jobcenter kommen“. Man habe ein „großes Portfolio
an Unterstützungsmöglichkeiten“, aber könne es nur anwenden, „wenn Menschen
mit uns zusammenarbeiten“.
Zumindest in einem Punkt ist Heyden trotzdem nicht unendlich weit weg von
Helena Steinhaus: „Es ist ganz sicher nicht in unserem Interesse, Notlagen
herbeizuführen“, sagt der Behördenleiter. Bei den offenen Fragen zu
Komplettsanktionen pocht er nicht auf maximale Härte. „Wir wünschen uns
eine pragmatische Lösung: Bei fehlender Mitwirkung sollte die Leistung
durch das Jobcenter kurzfristig pausiert werden können.“ Melde sich die
Person wieder und komme ihren Mitwirkungspflichten nach, solle die Zahlung
wieder aufgenommen werden – „auch rückwirkend“.
Dieses Detail könnte auch eine Rolle spielen, wenn irgendwann das
Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeit der Neuregelung bewertet. Schon
2019 hatte es Hürden für Sanktionen aufgestellt. Zum einen, so
Rechtswissenschaftlerin Andrea Kießling, haben die Richter*innen die
Eignung von Sanktionen angezweifelt, bei denen Obdachlosigkeit droht. „Aus
der Wohnungslosigkeit heraus wird die Vermittlung in Arbeit nicht leichter
werden. Gerade der geplante Wegfall von Leistungen für Unterkunft und
Heizung scheint mir deswegen verfassungswidrig zu sein“, sagt Kießling.
## Regierung soll Studien vorlegen
Zum anderen kippte das Gericht Kürzungen von mehr als 30 Prozent der
Regelsätze sinngemäß mit dem Argument: Studien belegen nicht, dass sich
Betroffene durch höhere Sanktionen eher Arbeit suchen. „Die Regierung
müsste jetzt also Studien zu diesen Effekten vorweisen. Diese Studien
müssten außerdem belegen, dass es keine milderen Mittel gibt, die genauso
geeignet sind“, sagt Kießling.
Wesentlich verändert hat sich die Studienlage seit 2019 aber nicht. „Ein
Kollege von mir hat erforscht, dass leichte Sanktionen und die Drohung
damit positive Effekte haben können auf die Vermittlung in den
Arbeitsmarkt“, [3][sagte Arbeitsmarktforscher Joachim Wolff diese Woche in
der taz.] „Aber zu viel Druck wirkt kontraproduktiv.“
11 Oct 2025
## LINKS
DIR [1] https://sanktionsfrei.de/
DIR [2] /Verschaerfungen-beim-Buergergeld/!6118763
DIR [3] /Forscher-zu-Buergergeld-Sanktionen/!6118590
## AUTOREN
DIR Tobias Schulze
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