URI: 
       # taz.de -- Uraufführung am Schauspiel Frankfurt: Zerstörung und Erneuerung
       
       > Die Dramatikerin Anja Hilling startet in „Spiel des Schwebens“ ein
       > pädagogisches Experiment. Der Ausgang ist ungewiss und verwirrend.
       
   IMG Bild: Alles so gewellt hier. Die Bühne des „Spiel des Schwebens“ am Schauspiel Frankfurt
       
       Alles ist kurvig: die schwarzen Wände in den Kammerspielen, die über der
       Bühne hängenden Traversen und auch die Hauptfigur Emilia, genannt Miko. Sie
       trägt Hosen in Wellenform, in den schrägen Dingern wirkt sie wie eine
       Zeichentrickfigur in zu großen Umrissen. Tanja Merlin Graf spielt diese
       Frau und das Kind, das sie einst war, wie eine zartbesaitete Außerirdische.
       Miriam Draxl hat sie silberfarben eingekleidet, fischartig, selbst ihre
       Wimpern glitzern silbrig.
       
       Bei Tanja Merlin Graf, die in der Vergangenheit schon ihr außerordentliches
       Talent für übermenschliche Figurendarstellungen bewies, ist Miko jemand,
       der sich in keine Kategorie fügt. Sie ist eine Art Versuchskaninchen und
       das Produkt einer entpsychologisierten Erziehung, eines Aufwachsens ohne
       den ganzen Ballast, den Eltern gemeinhin abwerfen.
       
       Vater Nils (Stefan Graf) und Mutter Vesna (Manja Kuhl) haben sich dafür
       eine nichtmenschliche Assistentin engagiert, die auf den Namen Kali hört.
       Kali wie KI und Kali wie die hinduistische Göttin der Zerstörung und
       Erneuerung. Rokhi Müller verkörpert sie dezent am Rande stehend; ganz in
       Schwarz gekleidet, spricht sie ihren Text in ein Mikrofon. Ihre Stimme
       allein hätte womöglich gereicht, um ihre Absicht, den Status Herkunft mit
       dem Status Schweben zu tauschen, wahrzumachen.
       
       Die deutsche [1][Theaterautorin Anja Hilling] hat sich das dystopisch
       utopische Spiel ausgedacht, die österreichische Regisseurin [2][Christina
       Tscharyiski] es nun am Schauspiel Frankfurt uraufgeführt. Der Titel
       verballhornt das beliebte „Spiel des Lebens“, in dem kleine Plastiknippel
       Menschen darstellen und das ganze Leben eine Frage von Würfelglück ist. In
       der Zukunftsvision des Stücks spielt das keine Rolle mehr, weder erben die
       Kinder Geld noch die Psychoscheiße ihrer Eltern. Alles so schön gleich
       hier.
       
       ## Erzählung in drei Teilen
       
       Hilling erzählt davon in drei Teilen, die Vater, Mutter und Kind zu
       unterschiedlichen Zeiten auflauern. Die brillante Bühnenbildnerin Marlene
       Lockemann arrangiert dafür drei verschiedene Universen, die womöglich das
       Diesseits, das Jenseits und den Raum dazwischen ausloten. Als sich der
       rote, hier auch wellenförmig schwingende Vorhang öffnet, erscheint eine
       düstere Mondlandschaft, zwei schwarze Hügel, dessen Luken Zugang nach sonst
       wohin gewähren.
       
       In einem der seltenen komischen Momente hängt Miko ihr Bein in eine Luke
       hinein, und am anderen Ende der Bühne schlängelt sich ihr Fuß scheinbar aus
       der anderen Luke wieder hinaus. Zeiten, Maßstäbe, Realitäten purzeln in dem
       mit vielen Zeitsprüngen operierenden Stück durcheinander.
       
       Man kann es als Plädoyer für die Fehlerhaftigkeit der Welt lesen. So ganz
       klar ist das allerdings an diesem Abend nicht. In einem Text zum Stück
       schreibt Hilling, sie traue dem „Moment auf der Bühne zu, etwas zu
       verwirren, um es zu erhalten“. Ein schöner Gedanke. Diese Art der
       Verwirrung ist ihr Text durchaus in der Lage zu stiften. Doch sie erweist
       sich als wenig nachhaltig, was in diesem Fall auch der Inszenierung
       anzukreiden ist, die es nicht vermag, ihr Anliegen über die Rampe zu
       bringen.
       
       Vielmehr hat man den Eindruck, dabei zuzusehen, wie Leute nach tragfähigen
       Ideen suchen, um dem Stücktext szenisch beizukommen. Die grandiose Bühne
       und die ebenso tollen Kostüme helfen sehr dabei, den schwebenden Charakter
       der ganzen Unternehmung zu stützen. Das Ensemble indes wirkt in seinen
       Verzweiflungsgesten seltsam allein gelassen, was wiederum gut die
       Verlorenheit der Figuren spiegelt.
       
       ## Wir sind alle längst Cyborgs geworden
       
       Sie erweisen sich hier nämlich als die wahren Nichtmenschen; passend dazu
       stellt die [3][österreichische Philosophin Lisz Hirn] im Programmheft fest,
       wir seien alle längst Cyborgs geworden: „Hybride aus Maschine und
       Organismus“. So erklärt sich wahrscheinlich auch das menschliche Antlitz
       der KI in der Inszenierung.
       
       Das letzte Drittel des Abends zeigt die alten Eltern bei einer
       Wiederbegegnung im Hospiz, das auch der Himmel sein könnte oder der Raum
       hinter der Stirn ihrer Tochter. Hinter einer Leinwand agieren die Eltern in
       absurden Größenverhältnissen, mal kauert der Vater als Schatten wie ein
       Männchen vor der Mutter, mal überwölbt er sie riesenhaft und überzeichnet.
       
       Ein Spiel, das die Tochter wortlos staunend verfolgt, so wie man Filme und
       Fotos von Eltern anschaut, um sich von ihrer einstigen Existenz zu
       überzeugen. In diesen gespenstischen Minuten finden Stück und Inszenierung,
       wie sonst nie an diesem Abend, auf geradezu wahnhafte Weise zueinander.
       
       14 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Politisches-Theater/!5263125
   DIR [2] /Sargnagel-am-Rabenhoftheater-in-Wien/!6068733
   DIR [3] /Figur-aus-Fleisch/!5979729&s=Lisz+Hirn&SuchRahmen=Print/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Shirin Sojitrawalla
       
       ## TAGS
       
   DIR Theater
   DIR Schauspiel
   DIR Frankfurt/Main
   DIR Feuilleton
   DIR Schwerpunkt Künstliche Intelligenz
   DIR Psychologie
   DIR Bühne
   DIR Influencer
   DIR Coming-of-Age-Film
   DIR Pop
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Theater über Digital-Nerds: Blass im Bildschirmlicht
       
       „Sieben Wege, Kylie Jenner zu töten“ gelingt es in Wilhelmshaven nicht,
       Spannung aufzubauen. Das Stück braucht woanders eine zweite Chance.
       
   DIR Fatih Akins neuer Spielfilm „Amrum“: Eine deutsche Kindheit
       
       Basierend auf Erinnerungen von Hark Bohm hat Fatih Akin einen berührenden
       Film gedreht. „Amrum“ spielt in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs.
       
   DIR Neues Album von Múm: Pflaster auf das Unheil kleben
       
       Die isländische Softindieambientrockband Múm ist zurück. Was sagt ihr neues
       Album „History of Silence“ zur Gegenwart?