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       # taz.de -- Neuer Roman von Thorsten Nagelschmidt: Als die Literatur das Fernsehen nicht mehr fürchtete
       
       > Der Musiker und Romancier Thorsten Nagelschmidt im Selbstversuch: Auf
       > Gran Canaria schaut er alle Folge der „Sopranos“ und schreibt drüber.
       
   IMG Bild: Thorsten Nagelschmidt, hier nicht am DVD-Player
       
       Während Tony Soprano in der Praxis von Dr. Melfi sitzt und über seine
       Panikattacken spricht, über Enten, die davonfliegen und über Depressionen,
       die nicht zu seinem Job als Mafiaboss passen, sitzt Thorsten Nagelschmidt
       in einem All-inclusive-Hotel auf Gran Canaria, hat einen DVD-Player auf
       sein Zimmer geschleppt und schaut zu, wie Tony Soprano in der Praxis von
       Dr. Melfi sitzt und über seine Panikattacken spricht. Das ist im Grunde
       genommen das, was in dem Buch „Nur für Mitglieder“ von Thorsten
       Nagelschmidt passiert.
       
       Der Ich-Erzähler des Romans will raus. Raus aus Berlin, raus aus dem
       Winter, raus aus dem Stimmungstief, das ihn seit Jahren pünktlich zu
       Weihnachten überfällt. Seit zwei Jahrzehnten meidet Nagelschmidt die
       Feiertage mit der Familie, ersetzte Kerzenschein durch Clubs, Alkohol und
       Ablenkung – allerdings ohne nennenswerten Erfolg.
       
       Also beschließt er, sich selbst zu überraschen: kein Exzess, sondern ein
       Experiment. Elf Tage auf Gran Canaria, in einem Hotel, das er nie verlässt.
       Und während draußen Pauschaltouristen am Pool dösen, absolviert er drinnen
       seinen Serienmarathon: alle sieben Staffeln der Sopranos, acht Stunden
       täglich, 86 Stunden insgesamt. Das Buch ist das Protokoll dieser
       Unternehmung – Reportage, Selbstversuch und Essay zugleich. Es folgt der
       Chronologie dieser elf Tage, beobachtet sich selbst beim Beobachten – ein
       Serien-Tagebuch über das eigene Leben.
       
       Man kann dieses Projekt für eine Schnapsidee halten. Aber „Nur für
       Mitglieder“ ist, zumindest für den deutschen Literaturbetrieb, eine kleine
       Sensation. Denn Nagelschmidt nimmt das Fernsehen nicht als Ornament, nicht
       als ironische Pop-Anspielung, sondern als Substanz. Die Serie „The
       Sopranos“ ist kein Beiwerk – sie ist das Buch.
       
       ## Abfall für alle
       
       Dabei ist das Schreiben über Fernsehen natürlich streng genommen nichts
       Neues. [1][Rainald Goetz] hat in „Abfall für alle“ das Talkshow- und
       Nachrichtenrauschen der Neunziger ins Literaturtagebuch montiert, und
       [2][Thomas Meinecke] machte in seinen Collage-Romanen Diskurse und
       Popzitate – inklusive Serien – zum Material. Doch bei all dem blieb das
       Fernsehen stets Zitat, Marker, Kulisse, war aber nie das Herzstück.
       
       US-amerikanische Schriftsteller waren da längst weiter: [3][David Foster
       Wallace] schrieb in seinem Essay „E Unibus Pluram“ über die Sitcom-Ironie
       der Neunziger und modellierte in „Infinite Jest“ eine seriell-episodische
       Struktur, die selbst wie eine gigantische Staffel wirkt. Jennifer Egan
       baute „A Visit from the Goon Squad“ wie eine Staffel mit Episoden (und gab
       „The Sopranos“ als Inspirationsquelle an). Und Don DeLillo setzte in „White
       Noise“ den Fernseher als Soundtrack der amerikanischen Psyche ein.
       
       Thorsten Nagelschmidt ist kein Theoretiker des Fernsehens. Er ist Ex-Punk,
       Musiker, Romancier, ein Sammler von Szenen. Seine Bücher waren immer näher
       an der Reportage und der Selbstreflexion als an der großen Fiktion: „Der
       Abfall der Herzen“ (2018) als Rückblick auf Jugend und Freundschaft,
       [4][„Arbeit“ (2020) als Stimmenpanorama der Berliner Nachtwirtschaft.] Er
       schreibt präzise, fast protokollarisch, mit einem Sensorium für Milieus und
       Routinen.
       
       ## Flucht vor Weihnachten
       
       In „Nur für Mitglieder“ treibt er diese Methode auf die Spitze. Das Buch
       ist kein Roman, sondern ein Tagebuchversuch: 11 Tage, 86 Stunden „The
       Sopranos“, flankiert von All-inclusive-Buffets, Bändchen-Hierarchien und
       Zigarettenpausen. „The Sopranos“ sind der Spiegel, in dem Nagelschmidt
       seine Depression, seine Weihnachtsflucht, seine familiären Abbrüche
       betrachtet. Tony Sopranos Sitzungen bei Dr. Melfi reflektieren seine
       Unfähigkeit, sich selbst zu therapieren. Livia Sopranos Giftigkeit erinnert
       ihn an die Feste, denen er zu entkommen versucht. Die Parallelen sind
       deutlich, manchmal etwas zu ausbuchstabiert, aber sie funktionieren – weil
       die Serie selbst längst auf dem Niveau des Romans operiert: als Tragödie,
       als Gesellschaftsstudie, als epische Erzählung.
       
       Als „The Sopranos“ 1999 auf HBO begann, war das Fernsehen noch ein anderes.
       Serien erzählten linear, suchten Auflösung und boten Helden. Dann kam Tony
       Soprano – ein Mafiaboss zwischen Macht und Zusammenbruch. In dieser Figur
       verschmolzen Krimi, Psychogramm und Familiengeschichte zu etwas radikal
       Neuem. Zum ersten Mal fühlte sich eine Serie an wie ein Roman, der atmet –
       mit Kapiteln, die sich Zeit nehmen, mit Nebenfiguren, die Leben entwickeln,
       mit Symbolen, die wiederkehren. „The Sopranos“ sprach nicht nur über Gewalt
       und Schuld, sondern über Erinnerung, Identität, Begehren. In ihren besten
       Momenten war diese Serie der erzählenden Literatur mindestens ebenbürtig –
       vielleicht sogar überlegen.
       
       So entstand das moderne Erzählen im Fernsehen – gebrochen, ambivalent,
       bildstark. Ohne „The Sopranos“ gäbe es kein „Mad Men“, kein „Breaking Bad“,
       kein „Succession“. Diese Serie war der Urknall des Prestige-TV, der Moment,
       in dem das Medium erwachsen wurde. Und vielleicht auch der, in dem das
       Fernsehen für einen Augenblick mehr Wahrheit über den Menschen erzählte,
       als die Literatur je konnte.
       
       Und Nagelschmidt wählt ausgerechnet dieses Werk als Spiegel – und damit
       einen Gegner, gegen den kaum ein Roman gewinnen kann. Sein Buch hat nicht
       die Ambivalenz, nicht die existenzielle Schwere, mit der „The Sopranos“
       seine Figuren umkreist. Und doch liegt in dieser Überforderung etwas
       Rührendes. Vielleicht ist das der ehrlichste Impuls des Romans – der
       Versuch, sich an einer Größe zu messen, an der man scheitern muss.
       
       ## Ein literarisches Symptom
       
       Die Schwächen sind offensichtlich: Nagelschmidt reflektiert gerne und viel,
       zitiert Bourdieu, Wallace, Diederichsen – nicht immer elegant, manchmal
       eher wie ein Seminarprotokoll. Und ja, die Beobachtung des Hotelbuffets
       trägt nicht über Seiten. „Nur für Mitglieder“ ist damit weniger
       literarisches Meisterwerk als literarisches Symptom.
       
       Es markiert den Moment, in dem ein deutscher Autor Fernsehen nicht mehr als
       Fremdkörper behandelt, sondern als strukturbildendes Element seiner
       Erzählung. Nagelschmidt ist kein Wallace, keine Egan, kein DeLillo. Aber er
       macht im deutschen Kontext etwas Seltenes: Er lässt die Literatur das
       Fernsehen nicht mehr fürchten.
       
       Und vielleicht wird man in ein paar Jahren sagen, dass damals, als ein
       deutscher Schriftsteller sich in ein Hotelzimmer einsperrte, um „The
       Sopranos“ zu gucken, die deutsche Gegenwartsliteratur begann, den
       Bildschirm nicht mehr als Konkurrenz zu begreifen – sondern als
       gleichberechtigte Kunstform, die manchmal, wie in diesem Fall, dem Roman
       heillos überlegen ist.
       
       17 Oct 2025
       
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