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       # taz.de -- Tagebuch aus Georgien: Liebe in Zeiten der Revolution
       
       > Wie kann eine Beziehung halten, wenn es gerade um die Zukunft geht? In
       > Tbilisi formiert sich die Opposition – und hofft auf gute Zeiten für
       > alle.
       
   IMG Bild: Vor dem 4. Oktober: Demonstration in Tblisi gegen russischen Einfluss und für ein europäisches Georgien
       
       Jede Revolution ist mit Lärm verbunden. Mit dem Grollen der Menge, dem
       Skandieren von Parolen, dem Schlagen gegen die Tore des Parlaments. Und
       dann – seltsame Stille, plötzlich ist alles ruhig. Revolutionen werden
       gemacht, um diese Ruhe zu bringen.
       
       Aber in [1][Tbilisi] gibt es diese Ruhe nicht mehr. Seit einem Jahr nicht.
       Länger als 300 Tage schon lebt diese Stadt in Erwartung einer friedlichen
       Revolution. Ihre Parolen lauten „Nein zum russischen Regime“ und „Freiheit
       für politische Gefangene“. Diese Erwartung ist im Kalender festgehalten. Es
       ist der 4. Oktober.
       
       Für den 4. Oktober 2025 sind in [2][Georgien] Kommunalwahlen geplant. Am
       selben Tag ist in Tbilisi eine Großdemonstration mit dem Ziel eines
       „friedlichen Sturzes der Regierung“ organisiert.
       
       Und hier ist die Frage, die zu persönlich, fast egoistisch erscheint, wenn
       das Schicksal des Landes entschieden wird: Was tun, wenn man in solchen
       Tagen liebt?
       
       ## Erst Proteste, dann gemeinsame Pläne
       
       Liebe wird in Krisenzeiten zu einem gesellschaftlichen Phänomen. Sie wird
       von Protesten, staatlichem Druck und ungerechten Gerichtsverfahren
       beeinträchtigt. Vor allem, wenn man selbst Teil dieses Prozesses ist. Ich
       bin Journalistin, mein Freund Anwalt. Er verteidigt „Gewissensgefangene“.
       So werden in Georgien junge Menschen bezeichnet, die vom Regime wegen ihres
       Kampfes für eine europäische Zukunft des Landes verurteilt werden.
       
       Am Anfang haben die Proteste meinen Geliebten und mich näher
       zusammengebracht: gemeinsame Einkäufe von Ausrüstung, Masken und Vorräten
       an Kochsalzlösung. Gemeinsam sind wir zu Protesten gegangen. Gemeinsam
       haben wir Prozesse durchlebt, die schwer zu ertragen sind, die aber nach
       den unausgesprochenen Gesetzen der Geschichte zwangsläufig zum Sieg führen.
       
       In seinem Rucksack, in dem er Masken und Gasmasken aufbewahrte, trug er
       später auch einen Laptop mit den Akten seiner Mandanten mit sich. Gespräche
       über die Zukunft – über Reisen, das Zuhause, die Familie – wurden auf die
       Zeit nach der nächsten Gerichtsverhandlung, nach dem nächsten Interview,
       nach der nächsten Kundgebung verschoben.
       
       Es fiel schwer, an persönliches Glück zu denken, wenn ein ungerechtes
       Urteil nach dem anderen unschuldige 20-jährige Jungs hinter Gitter brachte.
       Seine Arbeit, in der er Menschen vor dem Gefängnis bewahrte, wurde zu
       seinem eigenen Gefängnis. Und für mich zu einem Urteil. Darin liegt der
       Zynismus des Systems: Es raubt nicht nur die Freiheit, sondern auch die
       Gefühle.
       
       ## Heiratsantrag im Gerichtssaal
       
       Es zeigt sich aber auch, dass das Privatleben selbst unter den härtesten
       Bedingungen weitergeht: Der während der Protestaktionen festgenommene
       politische Gefangene [3][Irakli Kerashvili] heiratet seine Freundin direkt
       im Gefängnis. Ein anderer politischer Gefangener, [4][Irakli Miminoishili],
       macht seiner Freundin während der Gerichtsverhandlung einen Heiratsantrag.
       Diese Beispiele zeigen: Revolutionäre Prüfungen können Beziehungen
       zerstören, aber manchmal stärken sie sie auch.
       
       Zum Ende unserer langjährigen Beziehung sagt mein Geliebter, dass er mich
       in einer anderen Wirklichkeit treffen möchte, eine Realität, in der er mich
       glücklich machen kann. Und es ist schwer, nicht wütend zu sein auf ein
       Land, das uns diese Realität genommen hat.
       
       Revolutionen zerstören alte Ordnungen, brechen gewohnte Formen auf. Sie
       zerstören auch persönliche Beziehungen. Tun sie das, damit an ihrer Stelle
       etwas Neues entstehen kann?
       
       Ich weiß nicht, wie der 4. Oktober enden wird – mit einer Revolution oder
       mit Frustration. Aber das Warten darauf ist eine gute Bewährungsprobe nicht
       nur für die Institutionen der Macht, sondern auch für persönliche
       Beziehungen.
       
       Früher oder später ebbt die Revolution ab. Politiker wechseln, Slogans
       verblassen. Was bleibt, ist nur die Hand, die du gehalten hast, als die
       Welt um dich herum zusammenbrach. Genauer gesagt, entstand eine neue und
       bessere Welt – mit genau der Realität, in der du glücklich sein kannst.
       
       [5][Khatia Khasaia] ist Journalistin beim georgischen Dienst von Radio
       Liberty in Tbilisi. Zuvor arbeitete sie für die unabhängige Medienplattform
       [6][Sova]. Sie nahm am [7][Workshop für Journalistinnen aus Osteuropa] der
       taz Panter Stiftung teil. 
       
       Aus dem Russischen [8][Tigran Petrosyan]. 
       
       Finanziert wird das Projekt von der [9][taz Panter Stiftung].
       
       3 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Tiflis/!t5028562
   DIR [2] /Georgien/!t5011778
   DIR [3] https://gmirebi.ge/en/heroes/84
   DIR [4] https://civil.ge/archives/tag/irakli-miminoshvili
   DIR [5] https://about.rferl.org/people/khatia-khasaia-georgia/
   DIR [6] https://sovanews.tv/english/
   DIR [7] /Osteuropa-Workshops/!vn6047722/
   DIR [8] /Tigran-Petrosyan/!a22524/
   DIR [9] /Panter-Stiftung/Spenden/!v=95da8ffb-144e-4a3b-9701-e9efc5512444/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Khatia Khasaia
       
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