URI: 
       # taz.de -- Vordenker der Smart City: Die Stadt in der Feedbackschleife
       
       > Weltweit arbeitet man an der Smart City. Viele Ideen wie die
       > kybernetischen Entwürfe von Nicolas Schöffer sind aus der Avantgarde des
       > 20. Jahrhunderts.
       
   IMG Bild: Die Zukunftsstadt von 2025: Durch „The Line“ in Saudi-Arabien sollte ein komplett automatisierter ÖPNV laufen
       
       Die smarte Stadt hat sich in der Stadtplanung etabliert. Weltweit fördern
       Regierungen Programme, die Städte mithilfe datenbasierter Anwendungen
       zukunftsfähig aufstellen sollen. In Deutschland werden dank
       Smart-City-Projekten städtische Waldbestände durch Drohnenflüge erfasst
       oder digitale Plattformen zur Bürger*innenbeteiligung eingerichtet.
       
       Dabei geht es auch darum, die Entwicklung hin zu einer datengetriebenen und
       nutzer*innenzentrierten Stadtentwicklung nicht allein der
       Privatwirtschaft zu überlassen. Bislang haben Tech-Unternehmen wie CISCO
       Systems oder IBM große Komplettlösungen für smarte Städte umgesetzt.
       
       So manches Megaprojekt der letzten Jahre erweist sich aber als
       Rohrkrepierer. Wie die futuristische Planstadt „The Line“, die der
       saudische Kronprinz Mohammed bin Salman als 170 Kilometer langen und 200
       Meter breiten Riegel durch die saudi-arabische Wüste bis zur Küste ziehen
       wollte. „Smart“ sollte hier etwa der KI-gesteuerte ÖPNV werden.
       
       Unter anderem waren der britische Stararchitekt Peter Cook, das
       italienische Architekturbüro Fuksas und das österreichische Büro Coop
       Himmelb(l)au an den hochfliegenden Entwürfen beteiligt – man plante, die
       500 Meter hohe Außenfassade der Zukunftsstadt komplett zu verspiegeln.
       Ökologisch, aber auch politisch ist das Projekt fragwürdig, so wurde
       Gegenwehr doch gleich als Terrorismus deklariert, Menschen wurden
       zwangsumgesiedelt.
       
       Im August berichtete die britische Sunday Times schließlich über Kürzungen
       im saudischen Public Investment Fund, der „The Line“ finanziert. Neuerdings
       heißt es, die Arbeiten an der Planstadt würden komplett eingestellt.
       
       ## Planstädte, die Machtanspruch verkörpern
       
       Solch technokratisch-autoritäre Projekte wie „The Line“ machen sich
       bisweilen alte avantgardistische Ästhetiken zu eigen. Der verspiegelte
       Riegel durch die saudische Wüste erinnert etwa an den utopischen Entwurf
       einer linearen Stadt des spanischen Planers Arturo Soria y Mata aus dem
       späten 19. Jahrhundert. Auch hallt der monolithische Linienentwurf „Il
       Monumento Continuo“ des italienischen Architekturkollektivs Superstudio aus
       den 1960er-Jahren nach.
       
       Während Planstädte [1][wie „The Line“ ästhetisch den technischen
       Fortschritt, aber ebenso einen Machtanspruch verkörpern wollen], geht es
       bei anderen städtischen Zukunftsvisionen um eine Erneuerung von
       Steuerungs-, Regierungs- und Verwaltungstechniken.
       
       Schon in der abendländischen Philosophie ist Platons idealer Staat ein
       städtisch geformtes Konstrukt. [2][Der Medientheoretiker Friedrich Kittler
       beschreibt], dass ein solcher Stadtstaat nur so groß werden sollte, dass
       Befehle zur Steuerung der Stadt von einer menschlichen Stimme noch überall
       im Stadtgebiet vernehmbar wären. Um eine Stadt oder einen Staat steuern und
       regulieren zu können, greift Platon auf das Bild des Steuermanns zurück,
       der ein Schiff lenkt.
       
       In diesem Bild liegt auch der griechische Wortstamm der Kybernetik. Sie
       wird relevant, wenn sich mit der Entwicklung der Massenkommunikation die
       Übertragungskanäle vervielfältigen und Regierungstechniken sich einem
       kommunikativ ausgedehnten Raum anpassen müssen.
       
       ## Grenze zwischen Natur und Kultur aufheben
       
       Nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert sich die Kybernetik als Denkweise, die
       eine Grenze zwischen Natur und Kultur, zwischen Human- und
       Naturwissenschaften, zwischen Mensch und Technik aufheben will. Über ein
       Netzwerk von Wissenschaftler*innen, die sich zwischen 1946 und 1953 bei den
       Macy-Konferenzen in New York zusammenfinden, fließt diese Denkweise unter
       anderem in die Kommunikationstheorie, die Psychologie, in die Soziologie
       aber auch in die Kunst, die Architektur und in die Stadtplanung ein.
       
       Der ungarisch-französische Künstler Nicolas Schöffer war von der Kybernetik
       begeistert. Besonders die Analogien Norbert Wieners, der menschliche
       Gehirne mit Computern gleichsetzt, eröffnen dem Bildhauer neue Zugänge zu
       seiner Arbeit. Seine bisher kinetischen Skulpturen will er unter diesem
       Eindruck technisch öffnen: Sie sollen eigenständig mit ihrer Umgebung
       interagieren können.
       
       So präsentiert Schöffer 1956 die kybernetische Skulptur „CYSP-1“ – eine
       Metallfigur mit Rädern und Gliedmaßen, deren Bewegungen von der
       Steuereinheit einer Waschmaschine in Gang gesetzt werden. Die Idee dabei:
       Die Skulptur nimmt über Sensoren Signale aus der Umgebung auf, sie bewegt
       sich daraufhin und nimmt wiederum Einfluss auf ihre Umgebung und die
       Wahrnehmung der Zuschauenden. Das beschreibt eine Haupttechnik der
       Kybernetik, die Feedbackschleife.
       
       ## Systeme im Gleichgewicht halten
       
       Kybernetische Anwendungen zielen darauf ab, Systeme im Gleichgewicht zu
       halten. Schöffer will dieses Prinzip auf ganze Stadträume hochskalieren. Er
       entwickelt kybernetische Türme, die als ästhetische Spektakel fungieren und
       gleichzeitig als Kontrollzentralen Informationen aus städtischen Umgebungen
       einsammeln, um zum Beispiel das Klima in unterschiedlichen Zonen einer
       Stadt regulieren zu können. Bewohner*innen könnten hierbei aber auch
       selbst aktiv werden und durch Knopfdruck an den klimatischen Verhältnissen
       ihrer direkten Umgebung drehen.
       
       Einer seiner kybernetischen Türme steht noch heute im wallonischen Liège.
       Die Stahlkonstruktion nahm einst über Sensoren Signale aus ihrer Umgebung
       auf und spielte wiederum Signale in ihr Umfeld zurück. In den 1960er-Jahren
       befasst sich Schöffer dann mit seinem unvollendeten Meisterwerk, dem „Tour
       Lumière Cybernétique“, der im damals mit gläsernen Bürotürmen neu sich in
       [3][Paris erhebenden Stadtviertel La Défense] entstehen soll.
       
       Der Turm sollte ebenfalls eine künstlerische Komponente enthalten und
       zugleich mithilfe von Computern Umgebungsdaten in Echtzeit sammeln; von der
       Agence France-Presse, von den Bahnhöfen, aus dem Straßenverkehr und darüber
       hinaus. Umgekehrt würde der Turm zu Spitzenzeiten als Verkehrsleitzentrale
       Autofahrer*innen alternative Routen vorschlagen, um Staus zu
       vermeiden.
       
       ## Neuer Industrie- und Forschungszweig der „l’informatique“
       
       Sowohl [4][Präsident Charles de Gaulle] nimmt das Projekt wohlwollend zur
       Kenntnis als auch sein Nachfolger Georges Pompidou. Der „TLC“ soll zu einem
       Prestigeprojekt werden, das eine neue industriepolitische Ausrichtung
       Frankreichs symbolisiert.
       
       Frankreich will sich von den großen US-amerikanischen Computerherstellern
       IBM unabhängig machen und etabliert im Laufe der 1960er-Jahre den neuen
       Industrie- und Forschungszweig der „l’informatique“, der unter anderem auf
       die Entwicklung einer eigenständigen Computerindustrie im Land abzielt. Die
       Ölkrise und der Tod Pompidous 1974 setzen dem geplanten Turmbau allerdings
       ein Ende.
       
       Kybernetische Städte, wie sie sich Schöffer dachte, sollten Prozesse
       computerbasiert steuern und regulieren. Gleichzeitig sollten sie die
       Stadtbevölkerung ästhetisch umerziehen. Mit seiner Staatsnähe bekommt
       dieses Vorhaben einen totalitären Anstrich und entfernt sich von den
       spielerischeren Entwürfen kybernetischer Städte, wie sie zum Beispiel mit
       der Plug-in-City beim britischen Künstler*innen- und
       Architekt*innenkollektiv Archigram zu finden sind.
       
       Die stellten sich etwa vor, Wohnmodule könnten an flexible städtische
       Infrastrukturen andocken. Oder im Fun Palace, einer Art Freizeitkomplex,
       der sich datenbasiert nach den Wünschen der Besucher*innen ausrichtet,
       erdacht von der Dramaturgin Joan Littlewood, dem Kybernetiker Gordon Pask
       und dem Architekten Cedric Price, der auch Ideengeber des London Eye war,
       dem Riesenrad an der Themse.
       
       ## Die Stadt per Knopfdruck verbessern
       
       Die Experimentierfreude der kybernetischen Kunst der 60er und 70er Jahre
       lässt sich heute bei Smart-City-Projekten wieder beobachten, unter anderem
       in der kommunalen Technik- und Innovationsabteilung im dänischen Aarhus.
       Deren Leiter, Kim Stannov Søvsø beschreibt im taz-Gespräch, [5][wie sich
       der Zugang zu Smart Cities wandelt:] „Bei meinem vorherigen Job in
       Kopenhagen fanden wir die Idee auch interessant, dass der Bürgermeister in
       einer Zentrale sitzt, einen Knopf drückt und sich damit etwas in der Stadt
       verbessert“.
       
       Allerdings habe sich die Rolle der Kommune bei der Entwicklung smarter
       Lösungen zu einer infrastrukturierenden gewandelt: „Wir bieten als Kommune
       Testfelder an, in denen Unternehmen und Forschungseinrichtungen ihre
       Lösungen ausprobieren und weiterentwickeln können.“ So können Parkplätze in
       einer Stadt als Infrastruktur für solche Systemtests dienen. Dänemark gilt
       heute als europäischer Vorreiter bezüglich smarter Städte.
       
       In Deutschland fördert der Bund derzeit 73 Smart-City-Modellprojekte in der
       integrierten Stadtentwicklung. Dieser vergleichsweise behutsame Prozess hat
       wenig gemein mit der autokratischen Brechstange bei Projekten wie „The
       Line“. Gerade die Förderung hierzulande zeigt jedoch, dass Städte und
       Kommunen als Labore der Digitalisierung wegweisend sein können für die
       Modernisierung der Verwaltung. Es bleibt abzuwarten, wie das Feedback der
       Kommunen ausfallen wird im Hinblick auf die abschmelzenden Mittel für
       smarte Städte, die im Haushalt 2025 beschlossen wurden.
       
       7 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kulturarbeit-fuer-Saudi-Arabien/!5970595
   DIR [2] /Von-Spotify-zur-Waffenschmiede/!6097149
   DIR [3] /Aus-Le-Monde-diplomatique/!5116292
   DIR [4] /Film-ueber-des-Gaulles-und-Adenauer/!6110157
   DIR [5] /Stadtsoziologin-ueber-Tech-Unternehmen/!5737117
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Ebeling
       
       ## TAGS
       
   DIR Architektur
   DIR Smart City
   DIR Stadtplanung
   DIR Zurück in die Zukunft
   DIR Kolumne Böse Musik
   DIR Saudi-Arabien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Von Spotify zur Waffenschmiede: Missbrauch von Musikgerät
       
       Der Musik-Streamingdienst Spotify ist der Musik selbst nicht zuträglich.
       Aber ordentliche Gewinne macht er, die er in fragwürdige Industrien steckt.
       
   DIR Kulturarbeit für Saudi-Arabien: Von der Wüste geblendet
       
       Aufträge und Aufmerksamkeit verspricht die Kulturpolitik Saudi-Arabiens.
       Dabei fehlt oft der Blick auf die Menschenrechte im autoritären Regime.
       
   DIR Aus "Le Monde diplomatique": Die Stadt als Mobilitätsmaschine
       
       Schon die Pariser Boulevards des 19. Jahrhunderts dienten der
       Beschleunigung von Menschen- und Warenströmen. Heute sind es die
       Shopping-Malls von Berlin bis Dubai.