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       # taz.de -- 35 Jahre Deutsche Einheit: Feierlich wieder auseinander vereinigt​
       
       > Umfragen belegen wieder wachsende Fremdheitsgefühle unter Deutschen.
       > Tiefergehende mentale Ursachen erfassen die Demoskopen dabei nicht.
       
   IMG Bild: Dresdner feiern ausgelassen und hoffnungsvoll die Deutsche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990
       
       Dresden taz | Auch der frühere Bundeskanzler Willy Brandt ahnte nicht, was
       kommen würde, als er am Tag nach dem Mauerfall im November 1989 den
       vielzitierten Satz sprach: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“.
       Immerhin ahnte Brandt einen längeren Prozess. Der Satz gilt 36 Jahre später
       immer noch, falls man einen Sinn des „Zusammenwachsens“ weiterhin
       unterstellt. Das halten [1][laut MDR-Umfrage] weiterhin drei Viertel für
       wünschenswert.
       
       Vier Tage vor dem Jahrestag des formalen Beitritts der DDR zur
       Bundesrepublik [2][schockierte das Forsa-Meinungsforschungsinstitut] mit
       einer deprimierenden Umfrage. Nur noch ein reichliches Drittel aller
       Deutschen konstatiert ein solches Zusammenwachsen zu einem Volk. Für 61
       Prozent überwiegt eher das Trennende, im Osten empfinden es sogar drei
       Viertel so.
       
       Vor allem Ältere, in der Generation U30 fühlt erwartungsgemäß fast die
       Hälfte gesamtdeutsch. Das Onlineportal „MDR fragt“ mit 25.280 Teilnehmern
       kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Für zwei Drittel hat der 3. Oktober
       keine oder nur eine geringe emotionale Bedeutung. Nach wie vor bezeichnen
       sich 55 Prozent zuerst als ostdeutsch, obschon zwei Drittel für sich
       persönlich mehr Chancen durch den Mauerfall sehen.
       
       Nach einem Zustimmungshöhepunkt 2019 wird der Stand des deutschen
       Vereinigungsprozesses tendenziell immer negativer beurteilt. Damals sah
       noch etwas mehr als die Hälfte die Einheit auf gutem Weg. Ist es Zufall,
       dass im selben Jahr der Solidarpaktes II zur Finanzierung der Einheit
       auslief?
       
       ## Saarbrücken liegt nicht im Osten
       
       Entsprechend gering ist auch 2025 sowohl das private wie das öffentliche
       Interesse an einem irgendwie erwärmenden Gedenktag. Die offizielle zentrale
       Einheitsfeier findet in diesem Jahr im polizeilich höchstgesicherten
       Saarbrücken statt, es reden die üblichen Verdächtigen. Landtage öffnen nach
       geschlossenen Feierstunden. Sonst aber gilt dieser Feiertag den
       allermeisten in erster Linie als Brückentag eines verlängerten Wochenendes.
       
       In Dresden beispielsweise lädt nur die Stiftung Frauenkirche im Schatten
       des kommerziellen Herbstmarktes vor der Kirche zu einem [3][„Markt der
       Demokratie“] ein. Dem 17. Juni, dem Gedenktag der Original-Bundesrepublik
       an den von der Sowjetunion niedergeschlagenen Aufstand in der DDR 1953,
       erging es ähnlich. Wer als hoffnungsvoller und noch ein bisschen naiver
       Ossi den 3. Oktober 1990 auf den Canstatter Wasen in Stuttgart erlebte,
       kann hinsichtlich der Einheitsbegeisterung nunmehr eine vollständige
       Ost-Westangleichung melden. Es war damals ein Rummeltag wie jeder andere,
       das Vereinigungsereignis bemerkte kaum jemand, und das Feuerwerk um
       Mitternacht wirkte künstlich aufgesetzt.
       
       Keineswegs im Widerspruch zu äußerer Passivität bleibt aber dieser deutsche
       Irgendwie-Zusammenschmeißprozess ein nervendes Thema. Belegt durch eher
       leise Selbstverständigungs- und Selbstermunterungsbemühungen Ost einerseits
       und eine Flut von Erklärungsbüchern und Interviews andererseits. „Dein
       Ossi, das unbekannte Wesen“, um es mit den Sex-Aufklärungsfilmchen Oswalt
       Kolles aus den 1960-ern zu sagen.
       
       Wolfgang Engler, Dirk Oschmann, Katja Hoyer, Ilko-Sascha Kowalczuk oder
       Steffen Mau heißen die derzeit vielleicht bekanntesten Propheten und
       Exegeten. Ihre Bücher werden massenhaft gekauft. Ein junges, gerade
       30-jähriges Schreibtalent wie der Görlitzer Lukas Rietzschel hat diese
       Rolle als gefragter Ost-Erklärer inzwischen gründlich satt und möchte am
       liebsten „das alles hinter sich lassen“.
       
       ## Oasen im Osten
       
       Nicht minder oft als empathischer Übersetzer ostdeutscher Fremdgedanken
       bemüht wird Frank Richter. Katholischer Priester an der Dresdner Hofkirche,
       Wegbereiter des friedlichen Herbstes 89, Streitschlichter beim
       polarisierten Dresdner Zerstörungsgedenken, Direktor der sächsischen
       Landeszentrale für politische Bildung, SPD-Landtagsabgeordneter und nun
       wieder im Raum Merseburg zu seinen Ursprüngen als Prediger zurückgekehrt.
       
       Am 1. Oktober stellte er in Dresden den von ihm editierten Sammelband
       „Oasen im Osten“ vor. 40 Autoren beschreiben 23 Orte der Stille, der
       Zuflucht, der Gemeinschaft, des Engagements, geschützte Räume, aus denen
       wieder Kraft wachsen kann. Offensichtlich gärt eine Sehnsucht nach solchen
       Topoi. 20 Lesungen sind bereits vereinbart, darunter einige im Westen. Wo
       man gar nicht wissen kann, dass die Oase, die Nische die hauptsächliche
       Lebensform der DDR war und ihre subkulturelle Kreativität begründete.
       
       Umfragen wie die von Forsa oder des MDR heben fast ausschließlich auf
       materialistische Aspekte der innerdeutschen Ungleichheit ab. So wie die
       „Revolutionäre“ des Herbstes 1989 zuerst nach der D-Mark riefen und weniger
       nach der Freiheit. In der Tat indizieren alle sozioökonomischen Daten ein
       anhaltendes Gefälle bei Löhnen, Renten, Vermögen, Bruttoinlandsprodukt, ja
       sogar bei den Kreditzinsen. Aber das hätten die Ossis doch ahnen können!
       Denn das auf dem Matthäusevangelium beruhende Grundgesetz des Kapitalismus
       „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“ kursierte als flotter
       Spruch auch schon in der DDR.
       
       Der Rundfunk Berlin-Brandenburg rbb schloss schon am Tag seines Berichtes
       über die deprimierende Forsa-Umfrage die Kommentarfunktion. Zu viele
       Regelverstöße, im Klartext Sudeleien. Ein indirekter Hinweis darauf, dass
       Demoskopen die tieferen Beweggründe, die emotionalen Aspekte nicht
       abfragen.
       
       Bei Buchpräsentationen wie der von Frank Richter kann man sie studieren.
       Zumindest in der Generation, die Vor- und Nachwende noch vergleichen kann,
       verständigt man sich über Codizes in einer Ostsprache.
       Trotzig-emanzipatorische Wortwahl, die die SED-Funktionäre damals auch
       nicht verstanden. Obschon kaum jemand bestreitet, dass äußerlich vieles
       toll geworden ist in 35 Jahren, schwingt dabei eine stille
       Gewinn-Verlust-Bilanz mit. Dabei wirken nicht nur die gebrochenen
       Biografien in den angeblich blühenden Landschaften nach der Währungsunion.
       
       ## Unterschätzte Brüche
       
       Die mentalen Brüche werden meist unterschätzt, meinte auch der langjährige
       Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow in der ARD-Diskussionssendung
       „Mitreden“ am Donnerstagabend. Aus Nachbarn werden Fremde, aus Kollegen
       Konkurrenten. Die perverse Grenzmauer relativiert sich, weil sie inzwischen
       gerade in der westlichen Welt als probates Mittel der Abschottung nach
       innen und außen gilt und weil längst millionenfach neue Zäune und Mäuerchen
       die Besitztümer schützen.
       
       Antiquierte Begriffe wie Lebensfreude oder Zuversicht gehören schon gar
       nicht mehr in den Duden. Ja, die Dächer sind inzwischen dicht und ein
       schnelles Auto steht vor der Tür. Aber für die renovierte Wohnung muss man
       einen immer größeren Teil seines Einkommens abzweigen, und oft war man vor
       40 Jahren mit dem Trabi schneller am Fahrziel.
       
       Zu taz-Bildungsreisen in die ostdeutschen Länder kommen die aufgeklärtesten
       und interessiertesten Westdeutschen. Demgegenüber lernt man aber auch die
       60-jährige bayerische promovierte Studienrätin kennen, die den berüchtigten
       Jugendwerkhof Torgau mit der gesamten DDR gleichsetzt und überzeugt ist,
       dass Ferienheime an der Ostsee ausschließlich Funktionären vorbehalten
       waren. Ein 20-Jähriger, der sich betont als Wessi bezeichnet, ätzt gegen
       die Theaterkritik an einem einseitigen Doku-Stück über Torgau und spricht
       dem Ostfossil die Kenntnis seines eigenen Lebensraums ab.
       
       Sowohl West-Ignoranz als auch DDR-Verklärung setzen sich erwiesenermaßen in
       der zweiten Generation fort. Sollte das von den Hallensern nur verspottete
       und 250 Millionen teure „Zukunftszentrum Deutsche Einheit“ je zu einer
       nützlichen Arbeit gelangen, müsste es sich zu radikaler Ehrlichkeit
       jenseits des Master-Narrativs durchringen.
       
       3 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/ostwest-einheit-demokratie-mdrfragt-umfrage-100.html
   DIR [2] https://www.deutschlandfunk.de/umfrage-35-prozent-der-menschen-halten-ost-und-west-fuer-zusammengewachsen-100.html
   DIR [3] https://kirche-dresden.de/news/markt-der-demokratie-am-freitag-3-oktober-2025-von-13-bis-17-uhr-auf-dem-neumarkt/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Bartsch
       
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