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       # taz.de -- „Pathemata“ von Maggie Nelson: Im überwältigenden Blutfluss der Worte
       
       > Essay zwischen Wissenschaft und Poesie: Maggie Nelson und das Schreiben
       > in der Krise.
       
   IMG Bild: Eine Kieferfehlstellung verleitet Maggie Nelson zu Reflexionen über Schreiben und Schmerz
       
       Die Altsprachler kennen womöglich Herodots Diktum „Pathemata Mathemata“ –
       „Leiden sind Lehren“. Eben darum geht es in Maggie Nelsons neuer
       Prosa-Collage, die in enger Verwandtschaft [1][zu „Bluets“ steht, mit dem
       sie hierzulande bekannt geworden ist.] Auch „Bluets“ ist ein
       Schmerzensbuch. Von ihrem Liebhaber verlassen, transzendiert sie ihren
       Blues zu einer poetischen, aphoristischen Kulturgeschichte der Farbe Blau.
       
       „Pathemata. Die Geschichte meines Mundes“ hat seinen Ursprung ebenfalls in
       einer Leidenserfahrung. Eine Kieferfehlstellung, die Nelson schon als Kind
       Probleme bereitet hat, sie spricht undeutlich, ihre Zunge stößt gegen die
       Zähne und sorgt dabei für unschöne Zischlaute, verursacht seit einiger Zeit
       enorme körperliche Beschwerden. Jeden Morgen wacht sie auf mit dem Gefühl,
       „als habe mein Mund einen Krieg überlebt – er hat aufbegehrt, er hat sich
       versteckt, er hat gelitten“.
       
       Sie unternimmt eine Odyssee durch die Praxen diverser Spezialisten und
       stenografiert ihre Leidensgeschichte mit. Das ist aber nur der
       Ausgangspunkt für weitere Abschweifungen und Reflexionen, Traumreferate und
       Alltagsilluminationen. Sie schreibt dieses Buch der Schmerzen, wohl nicht
       ganz grundlos in einer emotionalen Ausnahmesituation – während der
       Coronapandemie.
       
       Existenzielle Unsicherheit und soziale Isolation machen ihr zu schaffen,
       verschärfend hinzu kommt die Abwesenheit ihres Mannes, der offenbar einen
       helfenden, systemrelevanten Beruf ausübt und insofern ständig außer Haus
       ist. Und nicht zuletzt der plötzliche Krebstod einer geliebten Lehrerin und
       Freundin C. Nach der Diagnose bleiben C gerade mal zwei Wochen, und wie so
       viele in dieser Zeit – infolge des grausam rigiden Hygiene-Regimes der
       Krankenhäuser – kann sie sich nicht angemessen von Familie und Freunden
       verabschieden.
       
       ## Verlust der Magie
       
       Doch Maggie Nelsons kranker Mund ist nicht nur der vermeintliche
       Schreibanlass, er hat auch eine ästhetische Funktion. Er steht als Symbol
       für das, was den Schriftsteller ausmacht – die Sprache. Und so ist dieses
       Buch auch eins über das Schreiben in der Krise. Sie bemerkt nämlich im
       Verlauf der Pandemie den Verlust der „Magie“ in ihrem Leben – und versucht
       dem schreibend etwas entgegenzusetzen.
       
       „Ich führe Selbstgespräche, ein fraktales Innenleben. Ich versuche mich für
       andere Innenleben zu interessieren, wie das der Spülmaschine. Ich
       untersuche die Eierschale, die im kreisenden Sprüharm festhängt, der
       unergründlichen silbernen Scheibe, die über dem Nabel der Maschine schwebt.
       Ich frage mich, ob ich allein kraft meiner ganzen Aufmerksamkeit die
       Spülmaschine zu etwas Interessantem machen könnte. Vielleicht könnte ich
       ein Prosagedicht oder eine Reihe von Prosagedichten darüber schreiben wie
       Ponge.“
       
       In Ermangelung sozialer Kontakte die Dinge zum Sprechen zu bringen, in der
       Tradition Francis Ponges, ist eine nachvollziehbare literarische Strategie.
       Sie erzählt einem befreundeten Schriftsteller davon und der lacht sie aus.
       Sie wolle ihm erzählen, dass es in ihrem nächsten Buch um ihre Spülmaschine
       gehe? Ein Missverständnis.
       
       Natürlich liegt „die Magie nicht in der Spülmaschine“, sondern „im
       überwältigenden Blutfluss der Worte“, die davon künden. „Es ist wie bei
       Freuds Traumtheorie – es geht nicht um den Traum, sondern um das Erzählen
       des Traums – um die Worte, die man wählt, und die Risiken, die man eingeht,
       wenn man sein Innerstes nach außen kehrt.“
       
       ## Poetik gleich mitgeliefert
       
       Damit hat Nelson, wie eigentlich immer in ihren zwischen Wissenschaft und
       Poesie changierenden Essays, ihre Poetik gleich mitgeliefert. „Die Frage
       ist nicht, was du betrachtest, sondern wie du betrachtest & ob du siehst“,
       zitiert sie Thoreau aus seinen Tagebüchern von 1851. Sie sieht einiges.
       
       Zu den schönsten Passagen gehören ihre Annäherungen an die krebskranke
       Freundin. „Ich höre die ganze Zeit Cs Stimme, wie sie sagt: ‚Maggie, meine
       liebe Maggie.‘ Niemand wird meinen Namen je wieder so sagen – keine
       Liebhaberin, kein Elternteil, kein Ehemann, keine Freundin. Die Art und
       Weise, wie C mich kannte, ist mit ihr gestorben; ich werde von jetzt an
       weniger geliebt sein, weniger gekannt.“
       
       Doch nicht immer gelingt es ihr, die „Magie“ im Profanen mit Worten zu
       heben. Das Buch besitzt nicht ganz die poetische Strahlkraft der „Bluets“,
       vor allem fehlt ihren Prosastücken bisweilen die zwingende Kohärenz. Maggie
       Nelsons Prosa nähert sich dann einem dieser konventionellen
       Corona-Tagebücher.
       
       Auch ihre Träume, in denen sich doch auffällig oft Deformationen im
       Dentalbereich manifestieren, sind als Grundlage einer Psychoanalyse sicher
       von großer Relevanz, aber nicht unbedingt literarisch. Stattdessen hätte
       man gern etwas mehr erfahren über ihre Ehekrise unter Pandemie-Bedingungen
       oder über ihren Sohn, den sie nun zu Hause beschulen muss und der als
       Person im Buch kein wirkliches Profil entwickelt. Da scheut sie offenbar
       ein paar Risiken.
       
       17 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Maggie-Nelsons-Buch-ueber-die-Farbe-Blau/!5523691
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Frank Schäfer
       
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