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       # taz.de -- Pop und Beton: Musikalische Variationen über einen Baustoff
       
       > So formschön, so brutal: Der Sampler „Beton-Pop“ versammelt
       > deutschsprachige Songs über Beton. Dabei geht es auch um Plattenbau und
       > Industriestädte.
       
   IMG Bild: Ausschnitt aus einem Gemälde der Chemnitzer Künstlerin Beate Düber, eine Trabantenstadt
       
       Pop und Beton – ein nur auf den ersten Blick gegensätzliches Begriffspaar:
       Denn Bausünden als thematischer Bezugsrahmen von Popsongs sind bei genauer
       Betrachtung fast so alt wie Pop selbst. Bereits 1978 sehnten sich die
       Solinger Punkpioniere [1][S.Y.P.H. im gleichnamigen Song „Zurück zum
       Beton“] – nur dort sei „der Mensch noch Mensch“, wie sie damals nicht frei
       von Ironie sangen.
       
       In eine stilistisch andere Kerbe schlug knapp 40 Jahre später der
       ostdeutsche Rapper Trettmann mit seinem melancholischen Hit „Grauer Beton“.
       Darin verarbeitete der noch in Karl-Marx-Stadt geborene und aufgewachsene
       Künstler seine von der Nachwende-Tristesse geprägte Jugend im Chemnitz der
       frühen 1990er. Nun, neun Jahre nach seiner Veröffentlichung, ist er
       Ausgangspunkt einer grundsätzlichen Auseinandersetzung des komplexen
       Verhältnisses zwischen Musik und Baustoff.
       
       Angestoßen wurde sie vom Leipziger Autor Alexander Pehlemann, der in
       Kooperation mit dem Institut für Ostmoderne eine Compilation mit dem
       schlichten Titel „Beton-Pop“ vorgelegt hat. Auftraggeber dafür ist das
       [2][Europäische Kulturhauptstadtjahr in Chemnitz] – unter besonderem
       Verweis auf das dortige Fritz-Heckert-Viertel, der bekanntesten
       Plattenbausiedlung in der sächsischen Industriestadt.
       
       Für den Sampler hat Pehlemann 20 Songs so illustrer Künstler*innen wie
       Das Kinn, Power Plush, Felix Kubin und Herbst in Peking aus Ost und West
       versammelt. Das stilistische Spektrum ist dabei denkbar groß und reicht von
       Punk, Postpunk und Indie über Dub bis hin zum elektronischen Dancefloor.
       
       ## Postpunk im Fleischwolf
       
       Als roter Faden dient dabei der thematische Bezug zum harten Material. Er
       erweist sich – neben der Tatsache, dass es sich ausschließlich um
       Neubearbeitungen in Form von Coverversionen und Remixen handelt – als einer
       der wenigen gemeinsamen Nenner der versammelten Beiträge.
       
       Die meisten Songs stammen dabei im Original aus den 1980er Jahren. Was
       wenig verwundert – gilt Pehlemann doch seit Langem als Experte des frühen
       Postpunk sowie der Subkulturen des ehemaligen Ostblocks. S.Y.P.H.s rotzige
       Punkhymne etwa hat besondere Beachtung gefunden und wird auf dem Sampler
       gleich zwei Mal durch den klanglichen Fleischwolf gedreht: Weitaus
       hektischer als im Original ertönt der Song in der Version des Hamburger DJs
       und Elektronikproduzenten [3][Istari Lasterfahrer] (alias Felix Karl
       Raeithel), der mit seinem Remix eine bedrohlich anmutende Breakcore-Version
       mit zwischenzeitlichen Dub-Versatzstücken angerührt hat. Raeithel nennt
       sein Label passenderweise auch „sozialistischer Plattenbau“.
       
       [4][Der inzwischen in Tokio lebende Autor und DJ Hans Nieswandt] zementiert
       seine Fassung hingegen zum eindringlichen Techno-Bolzen, der mit dem
       Original nur noch eine Gemeinsamkeit aufweist: Eine so kühle wie
       schonungslose Atmosphäre. Die titelgebende Zeile „Zurück zum Beton“ wird in
       Nieswandts Version dabei in Endlosschleife wiederholt, sodass sich ihre
       inhaltliche Dimension im Sound-Gewimmel schließlich transformiert und
       selbst zum Beat wird.
       
       Parallel zur Veröffentlichung erscheint ein von ihm verfasstes Essay namens
       „Mit der Betonung auf Beton“, in dem Nieswandt unter Bezugnahme
       autobiografischer Versatzstücke auf pointierte Weise danach fragt, wie das
       gemeinhin als „hässlich und schlecht“ wahrgenommene Material zur
       ästhetischen Kulisse der gegenwärtigen Popkultur avancieren konnte.
       
       Das Essay verdeutlicht dabei einmal mehr, was die musikalischen Beiträge
       als metaphorische Kernaussage bereits in sich tragen: Popkultur ist in
       ihren gelungenen Momenten nicht bloß Unterhaltung, sondern auch diskursiver
       Spielplatz der strategischen Verunklarung, auf dem Geschichte reflektiert,
       weitergeschrieben und umkodiert werden kann. Wie genau? Eine Ahnung davon
       liefert in Chemnitz ein grau-buntes Begleitprogramm mit Kunst und Konzert,
       das die Veröffentlichung des Albums perfekt rahmt.
       
       10 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Werkschau-der-Solinger-Band-SYPH/!6055723
   DIR [2] /Chemnitzer-Arbeitsbiografien/!6112241
   DIR [3] https://istari.sozialistischer-plattenbau.org/
   DIR [4] /Soloalbum-von-Hans-Nieswandt/!5919856
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Luca Glenzer
       
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