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       # taz.de -- Staatskrise in Frankreich: Das unausweichliche Ende des „Macronismus“
       
       > In einem letzten Kraftakt sucht Premier Lecornu im Auftrag von Präsident
       > Macron einen Weg aus der Krise. Der Macronismus ist in jedem Fall am
       > Ende.
       
   IMG Bild: Es wird einsam um ihn: den französischen Präsidenten Emmanuel Macron
       
       Paris taz | Der französische Präsident ist ein einsamer Mann geworden. Zur
       Illustration zeigten die französischen Fernsehsender immer wieder eine
       kurze Szene vom Montag: Nach einem Besuch im Panthéon, der französischen
       Ruhmeshalle, flaniert [1][Emmanuel Macron] am Seine-Ufer, begleitet nur von
       einem Leibwächter und zwei Mitarbeitern im Anstandsabstand. Wenige Stunden
       zuvor hatte er den Rücktritt seines Premierministers Sébastien Lecornu
       akzeptiert, weil der sich mit den Konservativen nicht auf eine
       Regierungszusammenarbeit einigen konnte.
       
       Die Videosequenz verdeutlicht, wie isoliert Macron heute ist. Von allen
       Seiten wird er verantwortlich gemacht für die vertrackte politische
       Situation. Selbst bisherige Vertraute kehren Macron den Rücken. Ebenfalls
       am Montag erklärte sein früherer Premierminister [2][Gabriel Attal] vor der
       Kamera, er verstehe das Vorgehen des Präsidenten schlicht nicht mehr. Zuvor
       war er schon öffentlich auf Distanz zu ihm gegangen, als Macron im Juni
       nach einer Niederlage seiner Kandidaten bei den Europawahlen kurzerhand die
       Nationalversammlung aufgelöst und Neuwahlen angeordnet hatte. Die
       Macronisten verloren in der Folge ihre absolute Mehrheit.
       
       Noch weiter ging ein anderer Ex-Premierminister, [3][Édouard Philippe]. Er
       forderte den Staatschef auf, erst dafür zu sorgen, dass der Staatshaushalt
       für 2026 kommt. Danach solle er zurücktreten und in vorzeitigen
       Präsidentschaftswahlen den Platz räumen.
       
       ## „Dégage!“
       
       Bei den [4][Demonstrationen in den letzten Monaten und Wochen] wird mit dem
       an den Arabischen Frühling erinnernden Ruf „Dégage!“ („Hau ab!“) Macrons
       Abgang gefordert. Früher spotteten die Demonstrierenden bloß über den
       selbstherrlichen „Monarchen Emmanuel I.“, jetzt wird er von ihnen als
       Problem und Hindernis beschimpft.
       
       In den Umfragen hat Macron ein Rekordtief erreicht: Auf die [5][Frage des
       Instituts Odoxa], ob sie ihn für einen guten Präsidenten halten, antworten
       22 Prozent mit Ja, 78 Prozent mit Nein. Ein Grund zum Rücktritt ist das für
       ihn nicht: Schon vor Wochen hatte Macron gesagt, er sei vom Volk für fünf
       Jahre wiedergewählt worden und werde bis zum Ende seiner regulären Amtszeit
       im Frühling 2027 im Amt bleiben, „was auch immer geschehe“.
       
       ## Von der Regierungs- zur Systemkrise
       
       Wie konnte es kommen, dass ein Staat wie Frankreich mit einem seit
       Jahrzehnten funktionierenden System und einer selbstbewussten Staatsführung
       mit weitgehenden Befugnissen [6][ins politische Chaos schlitterte]? Das
       fragt man sich, erschüttert vom tristen Spektakel der französischen
       Politik, vor allem im Ausland. In Frankreich selbst ist die Überraschung
       weit weniger groß. Denn seit gut einem Jahr, als bei den letzten Wahlen
       kein politisches Lager eine regierungsfähige Mehrheit und damit einen
       legitimen Anspruch auf die Regierungsmacht bekam, [7][gerät die Politik
       zunehmend aus den Fugen].
       
       Drei Premierminister (Michel Barnier, François Bayrou, Sébastien Lecornu)
       gaben sich die Klinke in die Hand, ohne auch nur annähernd ihre Autorität
       festigen und die drängenden Probleme des Landes angehen zu können. Ihre
       Regierungen waren der ständigen Erpressung der Oppositionsfraktionen
       ausgesetzt, die bei jeder Gelegenheit mit einem Misstrauensantrag drohten
       oder ihn wirklich einsetzten, um den Premier mit vereinten Stimmen von ganz
       links und ganz rechts zu Fall zu bringen.
       
       Mit polemischen Nadelstichen und Frontalangriffen attackierten die beiden
       Extreme der französischen Politik, die Rechtspopulisten des
       [8][Rassemblement National] (RN, früher Front National) und die Gegenseite
       La France Insoumise (LFI) des [9][selbsternannten linken Volkstribuns
       Jean-Luc Mélenchon] eine zusehends geschwächte Regierung. Der „gemeinsame
       Sockel“, wie sich die [10][fragile Allianz zwischen Macronisten und den
       konservativen Républicains] nannte, stand auf tönernen Füßen. Den Angriffen
       von links und rechts hielt sie nicht stand.
       
       ## Drei Lager gegen die Fünfte Republik
       
       Für diese politische Konstellation, bei der sich drei ähnlich starke Lager
       gegenseitig blockieren, ist die Fünfte Republik nicht gemacht. Als in einer
       vergleichbaren Krise 1958 Charles de Gaulle als Retter der Nation an die
       Macht zurückgerufen wurde, ließ er sich eine Verfassung nach Maß
       schneidern, um seine Position gegenüber den von ihm verhassten politischen
       Parteien zu festigen. Das Mehrheitswahlrecht sollte der Staatsführung eine
       stimmenstarke und folgsame parlamentarische Mehrheit geben. Der vom Volk
       direkt gewählte Staatspräsident war dank ausgedehnter Machtbefugnisse über
       alle Anfechtungen seiner Legitimität erhaben. Das war auch der Fall – bis
       zur Wahl von Präsident Macron.
       
       Sein „Macronismus“ ist ein künstliches Gebilde ohne ideologische Grundlage.
       Macrons ursprüngliches Wahlprogramm fand 2017 noch Anklang, weil er statt
       des üblichen Links-Rechts-Hickhacks eine ausgewogene Politik vorschlug,
       „sowohl links wie rechts und in der Mitte“. Viele von den etablierten
       Parteien enttäuschte Bürger konnten sich – faute de mieux – mit dem Slogan
       identifizieren. Das nahm Macron als Zustimmung zu einem zunehmend
       autoritären Regierungsstil.
       
       ## Kippt die Rentenreform?
       
       Bei den wachsenden innenpolitischen Konflikten rutschte Macron immer weiter
       nach rechts. An [11][seiner umstrittenen Rentenreform], dem wahrscheinlich
       wichtigsten politischen Projekt seiner Amtszeit, entzünden sich seit 2023
       Proteste eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses aus Gewerkschaften,
       Vereinen, Verbänden und Studenten.
       
       Mit der Ernennung Lecornus im September versuchte Macron weiter Zeit zu
       gewinnen. Konzessionen an einen Teil der Oppositionsparteien sollen nun
       einen Weg für den Haushalt vor dem Ende des Jahres freimachen. So erwog
       Lecornu, der Delegationen der Fraktionen zur letzten Unterredungen einlud
       und sich bereits am Mittwochmittag [12][vorsichtig optimistisch zeigte],
       angeblich eine zeitweilige „Suspendierung“ der Rentenreform, um Sozialisten
       und Grüne zum Einlenken zu bewegen.
       
       In einem abendlichen Fernsehauftritt bekräftigte er das Recht des
       Präsidenten, binnen 48 Stunden einen neuen Premier zu ernennen. Die
       Möglichkeit einer Auflösung der Nationalversammlung mit anschließenden
       Neuwahlen hingegen schätzte er als zunehmend unwahrscheinlich ein: „Es gibt
       eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung, die eine Auflösung
       ablehnt“, sagte Lecornu dem Sender France 2. Auch Macron hatte vorzeitige
       Wahlen mehrfach ausgeschlossen, und seinen eigenen Abgang erst recht. Aber
       bleibt ihm [13][am Ende vielleicht gar nichts anderes übrig]?
       
       8 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
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