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       # taz.de -- Verschärfungen beim Bürgergeld: Irgendwie mehr Härte
       
       > SPD und Union haben sich auf Grundzüge der Bürgergeldreform geeinigt.
       > Entscheidende Details sind noch unklar. Sicher ist: Arme bekommen mehr
       > Probleme.
       
   IMG Bild: Bärbel Bas klingt mittlerweile wie Gerhard Schröder, als der die Agenda 2010 verteidigte
       
       Berlin taz | Die Gesichter waren grau, und die Schatten unter den Augen
       tief. Als die Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD am Donnerstagmorgen
       im Kanzleramt den Vertreter*innen der Medien die Ergebnisse des
       Koalitionsausschusses referierten, sah man ihnen die durchwachte Nacht an.
       Bis kurz nach zwei Uhr hatte man zusammengesessen und über Rente,
       Verkehrsmilliarden und das Bürgergeld diskutiert.
       
       Was Friedrich Merz (CDU) und Bärbel Bas (SPD) als politische Einigung zum
       Bürgergeld vorstellen, dürfte vielen Betroffenen in Zukunft ebenfalls
       schlaflose Nächte bereiten: Vor allem sollen die Jobcenter in Zukunft
       wieder [1][schnellere und härtere Sanktionen] verhängen. Es werde eine neue
       „Grundsicherung“ geben, „das Thema Bürgergeld wird damit der Vergangenheit
       angehören“, so der Kanzler. Es abzuschaffen, war eine zentrale
       Wahlkampfforderung der Union gewesen.
       
       „Wir fördern Arbeit statt Arbeitslosigkeit“, sekundierte Arbeitsministerin
       Bärbel Bas und klang dabei ähnlich wie einst SPD-Kanzler Gerhard Schröder,
       als der vor 22 Jahren zur Agenda-Rede ansetzte. Das Paradoxe: Die
       [2][Hartz-Reformen] entfremdeten viele Wähler:innen der SPD. Mit dem
       Bürgergeld wollte man Hartz IV und die Agenda-Politik endgültig hinter sich
       lassen. Stattdessen verfing bei vielen SPD-Wähler*innen die von der Union
       vorangetriebene Kritik am „bedingungslosen Grundeinkommen“, einige sehen
       das Bürgergeld inzwischen als den zentralen Grund für den Verlust des
       Kanzleramts.
       
       Nun also die Rolle rückwärts.
       
       Dabei ist trotz der nächtlichen Verhandlungen nicht alles klar. Das
       Beschlusspapier der Koalitionsspitzen lässt entscheidende Details offen.
       Manche Aussagen von Merz und Bas widersprechen sich entweder – oder dem,
       was sie eigentlich schwarz auf weiß vereinbart haben. Auch Nachfragen der
       taz bei mehreren Beteiligten im Laufe des Tages blieben ohne klare
       Antworten.
       
       Empfänger*innen von Bürgergeld werden künftig härter behandelt – aber
       wie hart es genau wird, klärt sich erst, wenn in den nächsten Wochen die
       Gesetzesänderungen konkret ausformuliert werden. Einzelne Regelungen
       könnten später auch noch gerichtlich überprüft und zurückgenommen werden –
       denn das [3][Bundesverfassungsgericht hat für Sanktionen schon vor Jahren
       enge Grenzen gesetzt].
       
       Fest steht – und das lässt auch das Grundgesetz zu: Wer gegen Regeln
       verstößt, wird in Zukunft schon bei der ersten Sanktion 30 Prozent seines
       Regelbedarfs verlieren. Statt 563 Euro, die einem Erwachsenen derzeit
       zustehen, gibt es dann vorübergehend nur noch 394 Euro im Monat. Im
       Hartz-IV-System fielen die Einstiegssanktionen schon einmal so hoch aus.
       Die Ampel führte mit dem Bürgergeld dagegen ein Stufenmodell ein, indem
       erst 10, dann 20 und erst danach 30 Prozent wegfallen. Diese
       Zwischenschritte will Schwarz-Rot definitiv streichen.
       
       In bestimmten Fällen soll es auch über die 30 Prozent hinausgehen. Zum
       einen bei Menschen, die unentschuldigt nicht zu Terminen im Jobcenter
       erscheinen. Erscheint jemand dreimal hintereinander nicht, so das Papier,
       werden „die Geldleistungen komplett eingestellt“. Beim vierten Mal wird
       sogar die Übernahme der Wohnkosten „reduziert“ (so Bas) beziehungsweise
       „komplett eingestellt“ (Beschluss). Im Zweifel also: Kein Geld mehr für
       Essen und Miete.
       
       Aus der Praxis ist bekannt, dass häufig psychisch Kranke ihre Termine
       verpassen. Nicht zwingend, weil sie nicht wollen, sondern weil sie nicht
       können. Eine Härtefallregelung soll laut Koalition solche „Gründe für das
       Nichterscheinen“ berücksichtigen. Zur genauen Ausgestaltung gibt es aber
       noch keine Angaben. Auch nicht dazu, ob die gekürzten Leistungen für die
       Betroffenen definitiv verloren sind – oder ob nachgezahlt wird, sobald doch
       noch ein Termin zustande kommt.
       
       Zum anderen sind 100-Prozent-Sanktionen geplant, sofern „der
       Leistungsberechtigte die Arbeitsaufnahme verweigert“. Schon die Ampel hatte
       diese Möglichkeit eingeführt, wegen der Vorgaben des Verfassungsgerichts
       aber nur im Wiederholungsfall und unter weiteren strengen Bedingungen. In
       der Praxis kommt es bislang extrem selten vor, dass der Regelsatz komplett
       gestrichen wird, weil der Betroffene eine Stelle ablehnt.
       
       In der schwarz-roten Einigung ist nun nicht mehr von Wiederholungsfällen
       die Rede. Möglicherweise fällt der Regelsatz künftig also schon weg, wenn
       ein einziges Arbeitsangebot ausgeschlagen wird, obwohl das Jobcenter es als
       zumutbar einstuft. Merz zufolge sollen bei „dauerhafter Verweigerung“ auch
       hier die Unterkunftskosten gestrichen werden. Im Beschlusspapier ist an der
       Stelle hingegen nur davon die Rede, dass die Miete direkt an die Vermieter
       umgeleitet wird.
       
       Weitere geplante Änderungen: Wie früher schon bei Hartz IV soll in Zukunft
       der sogenannte Vermittlungsvorrang gelten. Die Jobcenter sollen Menschen
       also lieber schnell in irgendeine Arbeit vermitteln, statt ihnen die
       Gelegenheit zur Weiterbildung (und damit die Chance zu besseren Jobs) zu
       geben. Allerdings wird es Ausnahmen geben. „Insbesondere bei den unter
       30-Jährigen sollte eine Qualifizierung Vorrang haben“, heißt es im Papier.
       Wie großzügig diese Ausnahmen werden: offen.
       
       Definitiv wegfallen wird die Karenzzeit, in der Personen ein Vermögen von
       40.000 Euro behalten und trotzdem Bürgergeld erhalten dürfen. Diese
       Regelung war erst in der Coronazeit eingeführt worden. In der Praxis
       betrifft das laut Studien aber verhältnismäßig wenige Menschen. Zum Teil
       will Schwarz-Rot auch die Karenzzeit bei den Wohnkosten streichen: Bislang
       wird zu Beginn des Bürgergeldbezugs gar nicht geprüft, ob sie angemessen
       sind. Nun soll eine gewisse Grenze eingezogen werden. Details: auch hier
       unklar.
       
       Neben all den Streichungen und Verschärfungen hält sich die SPD zugute,
       dass nicht alles schlechter werde. So stellte Bas am Vormittag heraus, dass
       weiterhin zu Beginn des Bürgergeldbezugs ein Kooperationsvertrag zwischen
       dem Jobcenter und dem Bedürftigen geschlossen wird – nach wie vor „auf
       Augenhöhe“, wie es die Ministerin ausdrückt.
       
       Es sind solche Punkte, derentwegen es am Donnerstag auch aus dem linken
       Flügel der SPD Zustimmung zur Einigung gibt. „Das Gespräch mit den
       Jobcentern bleibt auf Augenhöhe“, sagte etwa Fraktionsvize Dagmar Schmidt.
       „Die Sanktionsregelungen werden zwar verschärft, aber wir achten darauf,
       dass sie gerecht angewendet werden und nicht die Falschen treffen.“
       
       Teils vernichtende Kritik kommt dagegen von anderer Stelle. „Das ist
       menschlich hart und kalt“, sagte Grünen-Fraktionschef Katharina Dröge zu
       den Sanktionsplänen. Als „absolut menschenunwürdig“ kritisiert die
       Fraktionsvorsitzende der Linken, Heidi Reichinnek, gegenüber der taz „die
       Zerschlagung“ des Bürgergelds, die zudem wenig brächte: „Es ist
       wissenschaftlich erwiesen, dass dieser Druck, der durch die Verschärfung
       der Sanktionen aufgebaut wird, Menschen nicht in gute Arbeit bringt.“
       
       Verdi-Chef Frank Werneke sprach von „falschen Signalen“ durch
       „Sanktionsverschärfungen, bis an die Grenzen dessen, was
       verfassungsrechtlich zulässig“ ist. Der Kinderschutzbund warnte davor, dass
       von Sanktionen gegen Eltern immer auch deren Kinder betroffen seien, obwohl
       diese keine Schuld an Regelverstößen trügen. „Die Pläne der
       Bundesregierung, Sanktionen bis zur Streichung der Unterstützung zur
       Unterkunft möglich zu machen, sind eine Katastrophe für diese Kinder und
       Jugendlichen“, sagte Geschäftsführer Daniel Grein.
       
       9 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Forscher-zu-Buergergeld-Sanktionen/!6118590
   DIR [2] /Angriff-auf-den-Sozialstaat/!6108938
   DIR [3] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2019/bvg19-074.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Schulze
   DIR Anna Lehmann
       
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