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       # taz.de -- Internetsperre in Afghanistan: „Facebook down, Instagram down, TikTok down“
       
       > Gegen den kürzlichen Blackout gab es Proteste im Land. Jetzt wenden die
       > Taliban subtilere Methoden an, das Netz zu drosseln und zu überwachen.
       
   IMG Bild: Afghanistan kehrt ins Netz zurück, Kabul am 3. Oktober
       
       Als die Taliban 1996 zum ersten Mal in Kabul einrückten, richteten sie
       Fernsehgeräte hin, wie Reporter*innen halb angewidert, halb fasziniert
       berichteten. Fernsehen war verboten. Aber nicht für alle. Kabuler
       Fernsehmonteure erzählten, dass sie immer wieder zu hohen Taliban gerufen
       wurden, um deren Geräte zu reparieren. In beschlagnahmten Villen flimmerten
       doch indische Musikvideos und Gangsterfilme.
       
       Handys gab es damals noch nicht. Der einzige Computer mit Internetzugang
       stand im Außenministerium. Mullah Omar, der damalige Taliban-Chef, wollte
       doch wissen, was die BBC über sein Regime berichtete. Anfangs gab er sogar
       Interviews für deren Radiokanal.
       
       Längst haben die gegenwärtigen Herrscher Afghanistans umfassend die
       Segnungen des technischen Fortschritts adoptiert. Als in den frühen 2000er
       Jahren der Handy-Boom auch den Hindukusch erreichte, konnten die Taliban
       sich dem nicht länger verschließen und verwendeten die neue Technologie zu
       ihren Gunsten.
       
       Sie nutzten Handys als Auslöser für ihre gefürchteten Sprengfallen,
       bedrohten Gegner*innen per SMS und nutzen Messengerdienste, um Angriffe
       auf die sich für unbesiegbar haltende US-geführte Allianz zu koordinieren.
       IT-Studenten, die heimlich die Aufständischen unterstützen, produzierten
       und stellten Propagandavideos ins Netz, die in der zunehmend
       interventionsmüden Bevölkerung auf fruchtbaren Boden fielen.
       
       ## In Verbindung bleiben
       
       [1][Gerade für Frauen und Teenagerinnen] waren die Geräte, neben dem Radio
       in der Küche, die einzige Verbindung zur weiteren Außenwelt. So hielten sie
       Kontakt mit den Verwandten, holten sich Tipps für Haushalt und Gesundheit,
       hörten Nachrichten oder Bildungsvorträge oder nutzten, zum Schrecken der
       Eltern, Apps zum Flirten.
       
       Die Herangehensweise der Taliban ist Islamismus par excellence. Schon
       dessen Begründer, der entgegen seinem Namen wohl aus Iran stammende
       Rechtsgelehrte Dschamaluddin al-Afghani und der Ägypter Muhammad Abduh,
       ursprünglich Journalist, hatten postuliert: Die islamische Welt könne sich
       nur aus den Fängen des Kolonialismus befreien, wenn sie die
       fortschrittliche westliche Technologie übernehme, das aber im Rahmen ihres
       eigenen, religiösen Werterahmens tue.
       
       Zu diesem Ansatz gehört, dass sie eine Hauptaufgabe ihrer
       Erziehungsdiktatur darin sehen, nach Jahrzehnten sowjetischer, dann
       amerikanischer Besatzung – für die Taliban fällt beides unter den
       „gottlosen Westen“ – die Bevölkerung von dessen Einflüssen abzuschirmen und
       reinigen. Auch von denen, die über das Internet hereinkommen.
       
       Der gegenwärtige Talibanchef Hebatullah Achundsada hält das Internet
       insgesamt für Teufelszeug. Beginnend Mitte September sorgte er dafür, dass
       schrittweise Provinz für Provinz vom Netz ging. Am 29. September ging dann
       auf einen Schlag das ganze Land offline. NetBlocks, ein unabhängiger
       Internetbeobachter mit Sitz in London, verzeichnete an diesem Tag um 17.08
       Uhr eine Internetabdeckung nahe null.
       
       ## „Die Stille eines nicht verbundenen Telefons“
       
       Die Kabuler Journalistin Madina Ayar – ein Pseudonym, um sich zu schützen –
       beschrieb, wie sie den Total-Blackout erlebte: „Gegen 17.15 Uhr saß ich mit
       meinem Bruder in einem Taxi auf dem Weg nach Hause. Plötzlich fragte er
       mich: 'Funktioniert dein mobiles Internet?’ Als ich mein Handy überprüfte,
       hatten beide SIM-Karten keinen Empfang und das Internet war ausgefallen.
       Mein Herz sank mir in die Hose. Die Stille eines nicht verbundenen Telefons
       schien lauter zu sein als jedes Geräusch.“
       
       Banken und Fluggesellschaften mussten ihre Dienste einstellen. Die lokalen
       Fernseh- und Radiosender verstummten. „Zwei Reporter berichteten live über
       die landesweite Internetabschaltung, aber wenige Minuten später wurde auch
       ihre Übertragung unterbrochen“, so Ayar.
       
       Dann geschah das Unerwartete: Es gab Widerspruch aus der Öffentlichkeit,
       sogar aus den eigenen Reihen und vor allem aus der Wirtschaft. Das ist die
       Achillesferse der Taliban, und deren Einspruch konnten sie nicht
       ignorieren, denn davon hängt ein Großteil ihrer Steuereinnahmen ab und
       damit ihrer Budgets, also das Überleben ihres Regimes. Am 1. Oktober, am
       späten Nachmittag, hatten die Menschen nach 52 Stunden Blackout plötzlich
       und genauso überraschend wieder Empfang. Erleichterung machte sich breit.
       „Ich hatte das Gefühl, als hätten sich die Tore des Himmels geöffnet“,
       schrieb Ayar.
       
       Genau wie bei der Abschaltung erklärten sich die Taliban auch dann nicht
       öffentlich. Sie ließen durchsickern, Reparaturarbeiten an Kabeln hätten den
       Blackout verursacht. Dabei hörten taz-Kontakte in Afghanistan unter der
       Hand von Angestellten privater Internetanbieter, dass die Abschaltung
       offiziell angewiesen worden war. Im nordafghanischen Kundus beschlagnahmten
       Taliban-Bewaffnete sogar Ausrüstungen von Privatfirmen.
       
       ## Nach politischer Entscheidung zurückgerudert
       
       [2][Bemerkenswert ist trotzdem, dass die Taliban erstmals in einer
       zentralen Politikentscheidung] zurückruderten. Doch bald wurde klar, dass
       sie nicht aufgegeben haben, das Internet zu kontrollieren. In vielen
       Gegenden ist es langsamer als vor dem Blackout. Fotos und Videos kommen
       nicht mehr durch, nur reiner Text. [3][Am 8. Oktober postete NetBlocks eine
       Grafik mit telemetrischen Daten], die anzeigten: „Tiktok DOWN. Facebook
       DOWN. Instagram DOWN.“ Und so weiter auf insgesamt 38 Zeilen, für den
       Taliban-kontrollierten staatlichen Anbieter Afghan Telecom, der 60 Prozent
       des Marktes hält, und alle privaten Anbieter.
       
       Das Regime setzt nun Filter ein, die Webinhalte oder Apps blockieren, die,
       wie es offiziell heißt, „der Gesellschaft schaden“. Eine langjährige
       Beobachterin des Landes sagte der taz, sie gehe davon aus, dass die Taliban
       „vor sechs oder sieben Monaten“ chinesische Software gekauft haben, die
       dies ermöglicht.
       
       Mitte der Woche teilten private Internetanbieter mit, die Taliban hätten
       angeordnet, dass sie ihre Dienste nachts abschalteten. Das sind offenbar
       Teile einer Strategie, die laut dem – wohl wegen zu langsamer Umsetzung –
       inzwischen abgelösten damaligen Kommunikationsminister Nadschibullah
       Hakkani schon im April 2024 fertiggestellt worden war.
       
       Die Taliban erwiesen sich wieder einmal schnell als lernfähig. Da sie
       diesmal nicht das staatliche Glasfasernetz abschalteten, an dem
       Regierungsinstitutionen, der Finanzmarkt, Universitäten und Flughäfen
       hängen, blieben die wirtschaftlichen Folgen des ersten Blackouts aus und
       damit auch Proteste aus der Wirtschaftssphäre.
       
       ## Existenzgrundlage
       
       Viele Privathaushalte hingegen haben zu kämpfen. Besonders treffen die
       Einschränkungen auch dieses Mal Frauen und kleinere Unternehmer*innen.
       Onlinevorlesungen werden schwierig bis unmöglich, Internetvideos sind nicht
       mehr zugänglich. Ein Digitalunternehmer sagte einer lokalen
       Nachrichtenwebseite: „Ein Großteil der Werbung und der Aktivitäten kleiner
       Unternehmen findet mittlerweile in sozialen Netzwerken statt. Die Sperrung
       dieser Plattformen wäre für viele Menschen das Ende ihrer
       Existenzgrundlage.“
       
       Samira und Mohibullah aus Kabul – wie wir sie zu ihrem Schutz nennen –
       berichteten der taz allerdings, sie hätten keine Probleme. Wie viele gut
       gebildete Afghan*innen sind sie technisch versiert und nutzen
       VPN-Verbindungen, um die Filter der Taliban zu umgehen. Wer es sich leisten
       kann, kauft sich eine Starlink-Verbindung, auch wenn das illegal ist.
       Nangialai, der in einer deutschen Großstadt lebt, sagte der taz, er habe
       seiner Familie das Geld dafür geschickt. Nach 45 Jahren Krieg und
       Unterdrückungsregimen sind Kommunikationsverbindungen für die in alle Welt
       verstreuten Afghan*innen essenziell.
       
       Aus einer Provinz in Südafghanistan hörte die taz, dass die dortigen
       Taliban den Nichtregierungsorganisationen sogar Internetzugang
       bereitstellen, aber wohl nicht ganz uneigennützig. So können die NGOs
       besser kontrolliert werden. Weil viele Menschen sich noch behelfen können,
       halten sich Beschwerden über die nun subtilere Drosselung des Internets
       bisher in Grenzen.
       
       Aber das Damoklesschwert schwebt über ihnen. Die meisten Server stehen im
       Kommunikationsministerium, so Mohibullah. Die Taliban können auch die
       Privatanbieter jederzeit unter Druck setzen, weil auch sie weitgehend am
       Glasfasernetz hängen, das das Regime kontrolliert. „Wenn die Regierung
       will, ruft sie fünf Minuten vorher an und sagt: 'Schalten Sie das Netz dort
       und dort ab’“, sagt ein taz-Kontakt bei einem dieser Unternehmen. „Und dann
       führen wir das aus. Wir haben keine Wahl.“
       
       18 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Internet-Abschaltung-in-Afghanistan/!6112892
   DIR [2] /Kaempfe-zwischen-Afghanistan-und-Pakistan/!6116420
   DIR [3] https://netblocks.org/projects/observatory
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Ruttig
       
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