# taz.de -- Jackpot
> In Fatma Aydemirs Kurzgeschichte setzen zwei Baristas ihr gemeinsam
> verdientes Geld aufs Spiel. Verlieren sie alles, gibt es kein Abendessen.
> Für ihre Kunden gelten da andere Regeln
Kurzgeschichte Es ist ein Spiel. Sie kommen durch die Glastür herein, und
wir beginnen zu raten, was sie nehmen werden. Am Gang, am Blick, an der Au
ra lesen wir es ab. Wir werden immer besser darin, liegen absurd oft
richtig. Jeder von ihnen ist ein ganz bestimmter Typ, auch wenn sie stets
bemüht sind, sich möglichst uniform zu geben. Sie tragen: Anzüge, schlicht,
manche mit Schlips, manche ohne, marine, schwarz, anthrazit, Hemden, weiß,
gestreift, babyblau, gestärkte Kragen, nüchterne Brillen, Hornbrillen,
seidene Einstecktücher, gegelte Haare, Eheringe, Designerschuhe, frische
Rasuren, Blackberries in den Händen, am Ohr, Samsungs, Nokias, HTCs,
neuerdings Apples.
Noch bevor sie zu sprechen beginnen, wissen wir, was sie trinken werden,
und wir wissen, wie sie den Pappbecher neben der Kasse werden klimpern
lassen, in dem Moment, in dem wir uns zur Maschine umdrehen. Die Nervösen,
die sich zu wichtig nehmen, um in unsere ungeschminkten Gesichter zu
blicken: Espresso, plopp (20 Cent). Die Gemütlichen, die fast freundlich
grüßen, manchmal sogar Smalltalk wagen, etwa unsere neuen Haarfarben
kommentieren (lila … mutig!): Cappuccino, klimmklimm (30 Cent). Die
Junkies, die zur Mittagspause schon zu viel intus haben, aber nicht
aufhören können, an den Plastikdeckelöffnungen ihrer Kaffeebecher zu
nuckeln: Americano, decaf, pimm (10 Cent). Das Arschloch, das sich
vordrängelt und den aggressivsten Tonfall wählt, um genaue Anweisungen zu
geben: Ristretto, in eine Tasse, die vorher mit kochendem Wasser erwärmt
wird (0 Cent). Und dann gibt es noch die Ruhigen, die stillen Wasser, die
leicht Gekrümmten, die, die größere Verantwortung tragen oder zumindest
verspüren, und zum Mittag manchmal kein Lunch geschafft haben: Latte
macchiato mit Extrashot, to go, Mandelgebäck auf die Hand,
klirimmklimmklimm (50 Cent aufwärts).
Die Typen, die wir nicht kennen oder seltener sehen, kommen von der Börse.
Die Stammkunden, die zwei bis drei Mal am Tag reinspazieren, kommen von
oben. Ein Stockwerk über dem Café befindet sich eine etwas sonderbare Bank,
die weder Automaten, noch Werbetafeln hat. Nur ein schlichtes Logo:
Irgendwas Brothers.
Wir finden den Namen witzig, denn sie sind wirklich alle ausschließlich
Männer, und so unterschiedlich ihre Gesichtszüge und Körperformen auch
aussehen, so einheitlich sind sie eingekleidet und erzogen, wie von ein und
derselben Mutter.
Sie fühlen sich stark, sie sind Teil einer Gang. Ab 12 Uhr fluten sie die
Gassen der westlichen Innenstadt auf der Suche nach Befriedigung. Sie
bleiben unter sich, in Trauben von drei, vier, fünf Bankern. Auch wir
bleiben unter uns und tragen Uniformen, was es ihnen leichter macht, uns
nicht weiter zu beachten. Wir stören ihren Tagesablauf nicht. Wir klauen
ihnen keine Zeit. Wir sind flink und sachlich, wir wurden geschult. Wir
machen den Kaffee alle auf exakt dieselbe Art, er schmeckt immer gleich,
egal, bei wem man ihn bestellt. Die Bohnen nicht zu dünn mahlen. Die
Frischmilch nur bis knapp unter 70 Grad erhitzen, den Schaum in der Kanne
mit kreisenden Bewegungen binden und mit ein, zwei Klopfern auf die
Arbeitsfläche verfestigen. Wir wissen, was sie wollen, und wir geben es
ihnen pflichtbewusst.
Wir sind nicht einfach junge, ausländisch aussehende Frauen und sie nicht
bloß mittelalte deutsche Männer, nein. Wir sind Schürzen, sie sind
Hemdchen, wir sind Ernährer, sie sind Hungrige, sie begehren die Duftnoten
der Heißgetränke, die unsere von Brandblasen gezeichneten und wegen
Sehnenscheidenentzündungen bandagierten Hände für sie zubereiten. Wir
begehren ihr Kleingeld.
Halb drei, Schichtende. Wir werden abgelöst, sitzen rauchend auf der
Terrasse, von deren Tischen und Stühlen wir am frühen Morgen noch die
Taubenkacke abgekratzt haben. Sie sind schon wieder vollgeschissen. Nicht
mehr unser Problem. Zieht eure Arbeitskleidung aus, heißt es manchmal, wie
sieht das aus, wenn ihr so auf der Terrasse herumsitzt. Wir zucken mit den
Schultern, essen Croissants und trinken unsere riesigen Caramel macchiatos,
während wir zwischen Krümeln und Tierkot unser Trinkgeld zählen und teilen.
Wollen wir nach Hause? Nö, lass bisschen spazieren, ich hab zu viel Koffein
im Blut. Unsere müden Füße marschieren weiter durch die Stadt, bevor wir
den Regio in das Dorf nehmen, das dreißig Minuten außerhalb, südlich des
Flughafens liegt, wo wir uns zu zweit eine Einzimmerbude teilen. Wenn man
einmal zu Hause ist, kann man nicht mehr raus, nicht in diesem Zustand.
Dann ist der Tag gelaufen. Dann wird ein großes Tütchen gebaut und „Sturm
der Liebe“ geballert, „Sailor Moon“, „Quiz Taxi“, bis der Magen knurrt und
wir ein Schlemmer-Filet in den Ofen schieben, an besseren Tagen einen
Nudelauflauf mit zwei Tetrapack Sahne, Hähnchenbrustfiletstreifen und
extraviel Vegeta.
Lass aber Richtung Bahnhof, dann haben wir’s nachher nicht so weit.
Wir passieren die Luxusläden, die Dekoshops, das riesige Eurozeichen,
drängen uns an Touristengruppen vorbei, an Shopperinnen, an noch mehr
Anzugträgern, an Obdachlosen, an alten Damen, an Lieferanten, an
Taugenichtsen in zu engen Hosen. Irgendwann stehen wir mitten im
Rotlichtviertel zwischen afghanischen Supermärkten, Sexshops und
Spielhallen. Unsere neugierigen Blicke verfolgen aufwendig geschminkte
Frauen mit schimmernden Haarextensions und strassbesetzten
Veloursjogginghosen. Wir halten uns gerne dort auf, vielleicht, weil wir
glauben, dort nicht hinzugehören, zwei Dorfkinder, zwei gut erzogene
Töchter, zwei Weggezogene, die nun in einem neuen Dorf wohnen und die
zweite Monatshälfte nur noch von Trinkgeld und Flaschenpfand leben.
Wir bleiben erschöpft vor einer Spielhalle stehen.
Ich hätte Bock auf’ne Fanta.
Warst du schon mal im Casino?
Nö.
Man kriegt da Getränke aufs Haus, wenn man spielt.
Wir haben kein Geld.
Wir haben je dreizehn Euro Trinkgeld, zusammen sechsundzwanzig. Ich war mal
mit meinem Ex da, hab aus fünf Euro Hundertzwanzig gemacht. Anfängerglück.
Du bist doch Anfängerin?
Ja, stimmt.
Man darf da drin rauchen.
Okay.
Dicke Nebelschwaden hängen im dunklen Raum. Bunte Farben blinken von allen
Seiten, kein Tageslicht, nur rollende Weintrauben, Wassermelonen, Orangen,
Pharaonen, und von überall lachen uns kleine und große Sonnen an. Seite an
Seite laufen wir vorsichtig durch den Raum, lauschen den überlappenden
Melodien, die klimpern wie Tausende von Trinkgeldbechern. Überall hocken
Männerrücken in unförmigen Jacken, gebückt, untrainiert, ungeliebt. Wir
drehen eine Runde, setzen uns an einen freien Automaten in Ausgangsnähe,
eine Kellnerin mit tief hängenden Tränensäcken bringt uns zwei abgestandene
Fanta aufs Haus. Wir spielen Book of Ra. Das kenne ich. Rot, Schwarz, Rot.
Geh auf Risiko, sonst bleiben die Gewinne klein. Vier Euro werden zu null.
Schmeiß noch mal vier rein. Schwarz, Schwarz, Rot. Vier Euro werden zu
acht. Ich sag’s dir, heute ist unser Tag, ich hab’s im Gefühl. Weißt du,
dass mein Onkel früher ganze Monatslöhne da reingeschmissen hat? So ein
Loser. Schwarz, Schwarz, Rot. Acht Euro werden zu zehn. Wollen wir heute
Döner essen, statt zu kochen? Schwarz, Schwarz, Rot. Bleib dabei, wir haben
eine Glückssträhne. Zehn Euro werden zu dreizehn. Bis meine Tante ihn
rausgeschmissen hat, wozu braucht sie den, wenn sie drei hungrige Kinder zu
Hause sitzen hat und er nicht mal ein Brot mit nach Hause bringen kann.
Mach den Einsatz höher, der Automat ist bis zum Rand voll, das spürt man.
Können wir noch eine Fanta? Ich mag’s hier irgendwie, keiner macht uns an.
Ja, weil alle beschäftigt sind, die bemerken uns gar nicht. Dreizehn Euro
fallen auf acht. Komm schon, das wird wieder. Was würdest du machen, wenn
jetzt der Jackpot käme? Wie viel wären das? Sagen wir, ein Haufen Geld.
Sagen wir: fünfhundert Euro! Fünfhundert Euro? Wir würden uns zwei
Zugtickets nach Amsterdam kaufen, uns ein schönes Wochenende machen.
Diesmal sogar im richtigen Hotel. Ich mochte auch den Campingplatz, mir
macht das nichts aus. Schwarz, Schwarz, Rot. Acht Euro fallen auf null. Wir
haben noch achtzehn Euro übrig. Komm, wir ballern acht rein, der Rest ist
für Abendessen. Aber ich glaube, wir werden heute noch gewinnen, ich hab’s
im Gefühl. Du klingst wie ein richtiger Zocker, weißt du? Ich sag doch,
mein Onkel, vielleicht hab ich das im Blut. Wir schmeißen ja nicht unser
ganzes Geld rein. Wir müssen ja nicht eine Familie ernähren. Zum Glück.
Vielleicht kaufe ich ein Auto. Wovon? Von dem Jackpot. Ein kleines
Gebrauchtes. Ja, da kriegt man sicher was für fünfhundert. Oder weißt du
was? Wir legen das zur Seite für unsere Kaution, wenn wir endlich eine
Wohnung finden mit einem zweiten Zimmer, dann müssen wir doch Kaution
zahlen. Ich denke, ich kann meine Eltern anpumpen. Tja, mein Vater wird mir
nichts geben, das weiß ich schon. Hat er deinem Onkel damals geholfen?
Wann? Als er seine Ersparnisse verzockt hat. Ich weiß nicht. Hat er
bestimmt, er ist doch sein Bruder. Tja, ich bin nicht sein Bruder. Aber ich
bin dein Bruder, ich sag dir, ich leere heute diesen Automaten und dann …
Schau mal, wir sind bei sechzehn Euro. Ja, ich sag’s doch! Lass uns das
Geld nehmen. Was? Das ist genau das, was wir reingeschmissen haben. Nein,
wir haben acht Euro reingeschmissen. Und vorher auch schon zweimal vier.
Aber das zählt nicht, das war noch im anderen Spiel. Komm wir nehmen das,
dann haben wir wenigstens nichts verloren. Aber ich dachte, wir wollen den
Jackpot? Glaubst du wirklich daran? Was meinst du? Dass wir hier reich
werden? Ich glaube, wir können noch ein bisschen abräumen. Die Bank gewinnt
immer, sagt man ja nicht umsonst so. Ist doch ein Glücksspiel, manchmal hat
man Glück. Wir nicht. Kannst du nicht wissen, wenn wir einfach so aufgeben.
Ich bin müde. Aber macht doch Spaß. Irgendwie habe ich die Lust verloren,
meine Füße killen mich. Du willst echt mit nichts hier rausgehen? Ich hab
meine Fanta aufs Haus bekommen, das ist doch auch was.
Wir schleppen unsere matten Körper zum Bahnhof und schmeißen sie in den
Regio, er fährt nicht los. Irgendwas ist mit den Gleisen. Wir schauen aus
dem Fenster aufs leere Gleis, ein bisschen müde, ein bisschen geknickt. Den
Döner haben wir doch nicht gekauft. Zu Hause liegt noch ein Schlemmerfilet
im Kühlfach, das wegmuss. Eine ältere Frau geht langsam durch den stehenden
Zug, streckt uns ihre schmutzigen Finger entgegen. Sie fragt nach
Kleingeld. Wir schauen an ihr vorbei, schauen durch sie hindurch, doch ihr
Geruch prägt sich in unser Gedächtnis ein, wie die Geschichte vom Onkel.
Der Zug fährt nach zwanzig Minuten endlich los, wir schweigen die ganze
Fahrt über.
Pünktlich zu „Quiz Taxi“ schaffen wir es nach Hause. Die Sendung beginnt
mit einer Fahrt in unserer Stadt, in der Stadt, in der wir arbeiten. Das
Taxi fährt sogar an unserem Café vorbei. Wir sehen es nur eine Sekunde
lang, doch das Bild putscht uns wieder auf. Wie heißt die Hauptstadt von
Lettland? In welcher Einheit bemisst sich die Stromstärke einer Steckdose?
Ein allgemein bekanntes Sprichwort besagt: „Lieber den Spatz in der Hand
als …“? Wir wissen alle Antworten, zum ersten Mal kennen wir sie wirklich
alle, bis auf eine. Hätten wir einen Passantenjoker genommen und einen der
Anzugträger gefragt, hätte er es gewusst, hätten wir 1250 Euro gewonnen.
Einfach so. Zwei Autos. Eine ganze Kaution. 277,77 Döner. Wir müssen ab und
zu Taxi fahren, nehmen wir uns vor. Von der Arbeit zum Bahnhof vielleicht.
Mit dem Kleingeld aus dem Pappbecher. Wir bauen uns zwei große Tütchen und
rauchen uns in den Schlaf, am nächsten Morgen um vier Uhr fünfzig wird der
erste Wecker klingeln, dann im Sieben-Minuten-Takt noch fünf weitere
Wecker. So tricksen wir unsere Körper aus, damit sie denken, sie hätten
ausgeschlafen. Damit sie sich fünf Mal ausruhen können, bevor es wieder zum
Bahnhof geht.
Als wir am nächsten Morgen die Taubenkacke von den Terrassenmöbeln
abgekratzt, die Brötchen belegt und die Croissants aufgebacken haben,
schließen wir den Laden auf. Doch es bleibt still. Keine Brüder, kein
Klimpern. Eine Mitarbeiterin aus dem Schuhladen nebenan kommt, um sich
einen Café Latte zu bestellen. Die da oben sind weg, sagt sie. Pleite. Wir
verstehen nicht. Sie streckt die Hand aus. Unser Blick folgt ihrem Finger.
Sie deutet auf den Flachbildfernseher in der Ecke, der den ganzen Tag graue
Menschen in grauen Anzügen zeigt, unter denen unaufhörlich ein Band mit
unverständlichen Zahlen durchläuft. Wir sehen die Außenfassade unseres
Cafés im Fernsehen, wie gestern bei Quiztaxi, nur eine andere Perspektive.
Eine Aufregung durchfährt unsere Rücken. Zoom auf den Schriftzug der
Brüderbank. Es wird noch zwei Monate dauern, bis sie die Leuchtreklame
abnehmen werden. Und einen weiteren, bis wir uns einen neuen Job suchen
müssen.
Fatma Aydemir, Schriftstellerin und Mitherausgeberin des Literaturmagazins
„Delfi“, war elf Jahre lang bei der taz, erst Redakteurin im Ressort
taz2/Medien, dann Kolumnistin. 2019 gab sie mit Hengameh Yaghoobifarah die
Anthologie „Eure Heimat ist unser Albtraum“ heraus. Ihr Roman „Dschinns“
stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.
17 Oct 2025
## AUTOREN
DIR Fatma Aydemir
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