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       # taz.de -- Mit dem Trauma leben: Was Heilung kostet – und wie sie gelingen kann
       
       > Katastrophen zu überstehen heißt auch, keine Ruhe mehr zu finden in der
       > Welt. Ein Beispiel dafür war die Holocaust-Überlebende Dita Kraus.
       
   IMG Bild: Dita Kraus während der Gedenkfeier zum 79. Jahrestag der Befreiung des KZ Neuengamme, am 3.5.2024
       
       Healing begins with support.“ Ich las diesen Satz auf einem Werbebild der
       [1][Internationalen Organisation für Migration (IOM)] und blieb daran
       hängen. Ein schöner Satz, dachte ich, fast tröstlich. Aber auch einer, der
       in diesen Tagen falsch klingt. Denn was, wenn die Wunde gar nicht aufhört
       zu schmerzen? Was, wenn die Gewalt weitergeht, während mancher schon von
       Heilung spricht?
       
       Ich hing diesen Gedanken nach, an einem Morgen, nachdem ukrainische Städte
       massive russische Angriffe erlebt hatten. Wieder. In einem Bericht
       schilderte das IOM das Schicksal des 88-jährigen Yuri, der vor dem Krieg in
       der Ukraine nach Moldau geflohen war und seitdem seine Tage im Zentrum für
       psychische Gesundheit in Chișinău verbringt. Er spricht von Einsamkeit,
       davon, bis heute keine Freunde gefunden zu haben.
       
       Ich musste an [2][Dita Kraus] denken, die Shoah-Überlebende aus Prag, die
       vergangenes Wochenende mit 96 Jahren in Israel gestorben ist. Auf sie wurde
       ich aufmerksam, weil ich mich während meines Studiums intensiv mit
       Literatur aus und über das Ghetto Theresienstadt beschäftigt hatte – Bücher
       von Ruth Klüger, Petr Ginz, Josef Bor, Eva Mändl Roubíčková. Jahre später
       stieß ich auf Kraus’ Memoiren [3][„Ein aufgeschobenes Leben“], und ihre
       Geschichte habe ich seitdem behalten.
       
       Kraus stammte aus einer jüdischen Familie in Prag. 1942 wurde sie nach
       Theresienstadt deportiert, überlebte das Vernichtungslager
       Auschwitz-Birkenau, die Außenlager des KZ Neuengamme, bis sie aus dem KZ
       Bergen-Belsen befreit wurde.
       
       ## Keinen weiteren Krieg erleben
       
       Über ihre Erlebnisse zu sprechen, fiel ihr lange Zeit schwer. Später fühlte
       sie sich verpflichtet, Zeugnis abzulegen. „Die, die erzählen können, müssen
       weitermachen, solange es geht“, sagte sie einmal. Sie pflegte engen Kontakt
       zur Gedenkstätte Neuengamme, sprach vor Jugendlichen, gab Interviews. Wie
       herausfordernd das für sie gewesen sein muss, lässt sich nur erahnen. In
       ihren Memoiren schrieb sie: „Es ist, als könnte ich immer nur die
       Randerscheinungen erzählen, nie die Wunde selbst.“
       
       Nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 verlegte sie ihren
       Lebensmittelpunkt von Israel nach Prag, weil sie die Ereignisse nicht
       ertrug, keinen weiteren Krieg mehr erleben wollte.
       
       Es liegt mir fern, die Shoah mit den heutigen Kriegen zu vergleichen. Doch
       schieben sich diese Ereignisse für Betroffene manchmal übereinander; lassen
       sich Gedanken formulieren, Schlüsse ziehen: aus den Erfahrungen derjenigen,
       die Extremes erlebt und überlebt haben. Überleben kann heißen, keine Ruhe
       zu finden, Einsamkeit zu spüren und zu erkennen, dass die Welt oft so
       weiterläuft, als ob das eigene Trauma beliebig wäre. Heilung braucht Zeit,
       Ruhe und Stabilität. Bedingungen, die inmitten von Krieg selten sind.
       
       Die geopolitische Realität zeigt das deutlich. Das geplante Treffen
       zwischen US-Präsident Donald Trump und Russlands Machthaber Wladimir Putin
       in Budapest fällt aus, und manche Medien nennen es eine „geplatzte Hoffnung
       auf Frieden“. Dabei war abzusehen, dass dieses Treffen keinen Frieden
       bringen würde: Putin spielt weiter auf Zeit, Trump sieht den Konflikt eher
       als lästig. Die Ukraine muss auf sich selbst und auf Europa setzen. Und
       dennoch: Ohne die USA geht es nicht.
       
       Wenn man also von Heilung sprechen will, braucht es einen Moment des
       Stillstands, ein Ende, damit ein Danach möglich ist. So erlebte es Israel,
       als gerade die letzten Geiseln nach Hause kamen. Doch auch für sie wird das
       Leben nicht einfach. Auch sie sind Überlebende.
       
       Heilung, wenn man sie ernst nimmt, bedeutet Arbeit, und auszuhalten, dass
       das Böse, Teil dieser Welt ist. Heilung durch Unterstützung kann auch
       heißen, Waffen zu liefern, die ein Überleben überhaupt erst möglich machen.
       Eine Aufgabe, die fortbesteht, solange die Welt Gewalt kennt.
       
       25 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://germany.iom.int/de
   DIR [2] https://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/nachrichten/news/dita-kraus/
   DIR [3] https://www.wallstein-verlag.de/9783835336506-ein-aufgeschobenes-leben.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Erica Zingher
       
       ## TAGS
       
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