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       # taz.de -- herzensort: Ohne Fenster Neues sehen
       
       Die Augen sind meine Achillesferse. Deshalb verbringe ich viele Stunden im
       Wartezimmer der Augenärztin – einem fensterlosen Raum. Ausgestattet mit
       Proviant, Lektüre, Strickzeug schlage ich dort beim ersten Mal auf.
       
       All das hätte ich aber zu Hause lassen können. Denn im Wartezimmer der
       Ärztin stehen Bücher. Kunstbände etwa über Yoko Ono oder Botticelli,
       Klassiker wie „Schloß Gripsholm“, Sachbücher über die Zerwürfnisse in der
       Gesellschaft, DIY-Kompendien, Lexika, auch das über die Gebärdensprache.
       Einige Bücher lösen Déjà-vus aus, wie „Fragmente einer Sprache der Liebe“
       von Roland Barthes. Ich hatte es vor bald 40 Jahren oder so als Raubdruck
       gekauft und eine Zeitlang mein Herzensbuch genannt.
       
       Ein Kunstband hat es mir in dieser Wartezimmerbibliothek besonders angetan.
       Es ist über den Expressionisten Wilhelm Ohm, mir völlig unbekannt. Wie er
       die Farbe aufs Papier setzt, wie er mit schnellen Strichen das Wesentliche
       einfängt, alle Zwänge abwerfend, finde ich atemberaubend. Jedes Mal, wenn
       ich zur Ärztin gehe, freue ich mich darauf, durch das Buch zu blättern.
       Jedes Mal sehe ich Neues. Waltraud Schwab
       
       25 Oct 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Waltraud Schwab
       
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