# taz.de -- Aktivismus, Kunst und Selbstinszenierung: Milo-Rau-Dämmerung in Wien
> Prominente Künstler und Intellektuelle wie Elfriede Jelinek widersprechen
> dem Leiter der Wiener Festwochen. Der rief dazu auf, für Gaza zu
> „brennen“.
IMG Bild: Milo Rau, geb. 1977 in Bern, Chef der Wiener Festwochen, hier auf dem Schwarzenbergplatz in Wien
Milo Rau hat kurz vor dem Waffenstillstand im Gazastreifen einen offenen
„Brief an meine Freund:innen“ nachgereicht. Darin ortet der Intendant der
Wiener Festwochen ein „beredtes Schweigen“ der Kulturinstitutionen zum
Gazakrieg und spricht über „linguistische Spielereien“ um den
Genozidbegriff. Nun trifft sein Aufruf zum „Widerstand“ allerdings auf
anhaltenden Widerspruch – nicht nur in Wien
„Wir müssen unsere Aufmerksamkeit auf das lenken, was draußen geschieht in
der Welt. Und wir müssen aufhören, darüber zu schweigen,“ so formulierte
Rau, als Waffenstillstand, Befreiung der Geiseln und ein Ende des Krieges
bereits absehbar waren. Der Intendant der Wiener Festwochen veröffentlichte
den „Brief an meine Freund:innen“ [1][auf der Website des Festivals].
Ein „Genozid“ in Gaza ist dem Schweizer Theatermacher selbstverständliche
Tatsache. Also kein Tatvorwurf, der von unabhängigen internationalen
Gerichten erst noch zu prüfen wäre, sondern Fakt. Denen, die seinem Urteil
widersprechen, wirft er vor, lediglich Zeit zu vergeuden – „linguistische
Spielereien“.
## Neu-Testamentarisch
In einer Sprache, deren Duktus bisweilen an christlich-pietistische
Erweckungspredigten samt Zitaten aus dem Neuen Testament erinnert,
appelliert Rau in apokalyptischer Dringlichkeit an die Akteur:innen im
kulturellen Feld nicht zu „Mitschuldigen“ zu werden: „Seid ein Beispiel,
seid frei. Zu reden und nicht zu schweigen bedeutet, keine Angst zu haben.“
Was vermittelt Rau die Wahrnehmung eines impliziten Schweigegebots? Zeigt
sich doch mit Boykottaufrufen gegen israelische oder jüdische Künstler,
Wissenschaftler oder auch nur Gastronomen, permanenten Demonstrationen,
Ausladungen von Gastspielen, Angriffen auf jüdische oder israelische
Menschen und Einrichtungen in Europa vielfach ein ganz anderes Bild.
Sein in vielen Sprachen publizierter Brief fand im deutschsprachigen Raum
kein Medium, das bereit war, ihn zu veröffentlichen. Während sein Brief im
Kontext seines internationalen Netzwerks als „zu wenig und zu spät“
wahrgenommen wurde, so Rau, stößt er im Deutschsprachigen auf scharfe
Kritik.
## Klassischer Faschismus?
„Wir sind die drei Nationen des klassischen Faschismus“, schreibt er. Wobei
der Schweizer Rau sein „Wir“ hier auf Deutschland, Italien und Österreich
bezieht und die Eidgenossenschaft darunter subsumiert. Und weiter: „Wir
haben vor nicht langer Zeit einen Völkermord geplant und ausgeführt, den
Genozid an den europäischen Juden*Jüdinnen, den schrecklichsten Völkermord
aller Zeiten.“
Die Geschichte der Täternation erfordere nicht allein eine besondere
Wachsamkeit gegenüber alten wie neuen Formen des Antisemitismus. Er
überträgt sie in wenigen flinken Sätzen auch auf andere Konflikte. Vom
Holocaust zum Gazakrieg, die klassische Täter-Opfer-Umkehrung.
Über die Erfahrung des historischen Versagens der Täternationen im
Holocaust erhebt Rau so den Anspruch, auf eine Observanz gegenüber dem
Judenstaat, um diesen seinerseits davor zu bewahren, genozidale Verbrechen
zu begehen.
## Raus Begründung
Dazu befragt, warum er das tut, sagt Rau, er habe „ganz bewusst auf die
tiefenhistorische Ursache dieses Grauens hingewiesen, auf jenen Genozid
nämlich, den Deutschland und Österreich mit all ihren Kollaborateuren an
den europäischen Juden begangen haben.“ Denn dies habe „zu den andauernden
Folgekonflikten in Israel und Palästina geführt.“
Auch wenn es nicht die Intention Raus sein mag, sind solche Äußerungen als
Delegitimierung Israels im Nahen Osten zu verstehen, da sie die Angriffe
auf Israel lediglich als „Folgekonflikt“ europäischer Verbrechen
darstellen.
Rau kritisiert die Taten der Hamas zwar ebenso wie die Kriegsführung der
israelischen Streitkräfte, sieht sich gar an der Seite der „liberalen
israelischen Zivilgesellschaft“. Doch scheint dies eher das Resultat
skrupulöser Abwägungsversuche, um beim antizionistischen juste millieu
seiner internationalen Kontakte sowie dem lokalen Diskurs anschlussfähig zu
bleiben. Er stößt damit jedoch auf massiven Widerspruch. Und der kommt
diesmal nicht aus dem notorisch rechten Lager, sondern aus der kritischen
Kunst- und Kulturszene.
## Jelinek, Rabinovici, Gaus und Schindel
[2][Eine „Absage“ an Raus Brief], erstveröffentlicht von so prominenten
Autoren wie Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, Doron Rabinovici,
Olga Flor, Karl Markus Gauß, Monika Helfer, Michael Köhlmeier, Martin
Prinz, Robert Schindel und Vladimir Vertlib, haben mittlerweile [3][über
150 Persönlichkeiten aus dem kulturellen Feld] unterschrieben.
In ihrem Gegenbrief rufen Jelinek und Co. dazu auf, sich den „antijüdischen
Boykotten in der Kulturszene“, „Judenhass und Israelhetze“
entgegenzustellen. Rau störe „nicht das Schweigen über die antisemitischen
Attacken und Attentate in vielen Ländern. Zu leise noch findet er jene, die
gegen den Judenstaat hetzen.“
Denn von einem solchen Schweigen wüssten die jüdischen Menschen in Europa
nichts. „Sie hören das Gebrüll jener hunderten Manifestationen in denen die
Vernichtung Israels gefordert wird.“ Die Unterzeichnenden weisen einseitige
Schuldzuweisungen im Nahen Osten zurück.
Und werfen Rau vor, er spekuliere lediglich mit dem Skandal. Es gehe ihm
weniger um die Menschen in Gaza und Israel, sondern „er will Aufmerksamkeit
und Quoten – und zwar auf Kosten des jüdischen Lebens in Österreich.“
## Bedauern Jelineks
Besonders schmerzlich für Rau dürfte die Unterschrift von Elfriede Jelinek
sein, die ihrerseits die Entwicklung bedauert. Jelinek verweist auf die
Ambiguität in Raus Texten und sagt: „Man kann nur falsch liegen, weil jede
Äußerung einen zwingt, totalitär zu argumentieren, und ich finde Milo Rau
da einfach zu oberflächlich. Er schreibt von diesem Einerseits und
Andrerseits, diese Begriffe werden geradezu formelhaft beschworen, ständig,
aber was ich derzeit, gerade von Kulturschaffenden, aber auch von der
Linken höre, ist nur dieses einzige Andrerseits.“
Wo man „derzeit eher von Frieden und Versöhnung sprechen müsste“, höre sie,
so Jelinek, „von Seiten des Kulturbetriebs und der Linken dieses aggressiv
aufgeladene ‚Völkermord‘-Geschrei“.
Alexander Karschnia, Mitbegründer der Gruppe andcompany&Co [4][und
gelegentlicher Autor der taz], kritisiert in einem gesonderten Schreiben an
Rau eine „weaponization“ des Genozidbegriffs. „Wer von ‚Genozid‘ spricht,
spricht nicht von einem Krieg, der beendet werden könnte, sondern gestoppt
werden muss ‚by any means necessary‘. Mit den Folgen, dass „der Terror der
Hamas nicht nur nicht länger erwähnt wird, sondern dass er dort, wo er
erwähnt wird, oft relativiert und verharmlost bis begrüßt und gefeiert
wird“.
In Raus Text bleibt zudem die Frage offen, wer sich hinter dem „Wir“
verbirgt, das darin genau 32 Mal vorkommt. Der Künstler? Das Festival? Die
versammelte Szene?
## Alle gleich bedroht?
Der in Berlin lebende Regisseur und Kostümbildner Amit Epstein bestreitet
in einem weiteren offenen Brief an Rau, „dass wir alle auf dem gleichen
Boden stehen, im gleichen Licht, in der gleichen moralischen Entfernung von
der Gefahr.“
Rau behaupte, wir seien hier nicht bedroht. „Einige von uns sind es“, so
Epstein. Jede Konversation am Theater beginne derzeit mit einem
„loyality-check“. Er müsse dabei ständig beweisen, dass seine Trauer nicht
„zionistisch“ sei, seine Furcht nicht „reaktionär“.
In seiner [5][sechs Seiten langen Erwiderung „Komplexität aushalten“]
versucht Rau nun seine Kritiker regelrecht zu umarmen: „Wenn Milo Rau das
wirklich so geschrieben und gesagt hätte, wie hier unterstellt wird, dann
würde ich diesen Brief sofort selbst unterschreiben.“
Doch sein Versuch, [6][alle Menschen guten Willens] wie üblich im
abstrakten Kampf „gegen rechts“ zu einen, scheitert nun. [7][Milo Rau führt
die Kunst als moralische Instanz an ihre Grenzen].
Bei Emile Zolas „J’accuse“ in der Dreyfuss-Affäre oder Jean-Paul Sartres
Anklage gegen die Gräuel der Kolonialmacht Frankreich in Algerien galt
moralische Selbstermächtigung als letztes Mittel – und nicht als
fortdauerndes Geschäftsprinzip.
[Transparenzhinweis: Der Autor dieses Gastbeitrages unterstützt den von
Elfriede Jelinek und 15 anderen erstveröffentlichten „Absage“-Brief an Milo
Rau und hat ihn deswegen nachträglich ebenfalls unterzeichnet.]
25 Oct 2025
## LINKS
DIR [1] https://www.festwochen.at/brief-milo-rau
DIR [2] https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20251010_OTS0124/absage-an-einen-aufruf-von-milo-rau
DIR [3] https://www.repclub.at/netzwerk
DIR [4] /Debatte-um-Antideutsche/!6115105
DIR [5] https://www.festwochen.at/komplexitaet-aushalten
DIR [6] /Kulturfestival-in-Wien/!6088408
DIR [7] /Interview-mit-Regisseur-Milo-Rau/!5750394
## AUTOREN
DIR Uwe Mattheiß
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