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       # taz.de -- Konversionsbehandlungen in Deutschland: Gewalt im Namen Gottes
       
       > Queere Menschen suchen Schutz – und erleben Zwang. In kirchlicher Obhut
       > oder Therapie sollen sie vermeintlich geheilt werden. Der Glaube daran
       > lebt bis heute fort.
       
   IMG Bild: Symbol der Selbstbestimmung: die Transflagge. Viele trans und nicht-binäre Menschen erleben Diskriminierung und Gewalt
       
       Zuerst musste Kari das Handy abgeben. Dann hat eine Mitarbeiterin beide
       Taschen durchwühlt. Sie nahm Kari die Hormone weg und die Medikamente. Und
       alle Gegenstände, die laut der Mitarbeiterin nicht geeignet seien für eine
       Frau. Übergriffig genug – selbst wenn Kari eine Frau wäre. Kari ist trans
       und nicht binär. Und Kari hat in einer Situation Gewalt erlebt, in der Kari
       Schutz versprochen wurde. Dass Menschen unter dem Deckmantel von Hilfe oder
       Beratung queerfeindliche Gewalt angetan wird, ist ein Phänomen, das kaum
       erfasst ist. Es hat eine lange Geschichte, die bis in die Gegenwart von
       Unterdrückung und Maskierung handelt, von missbrauchter Wissenschaft, aber
       auch von Widerstand und Selbstbehauptung.
       
       Bei Kari kam das so: Kari hat jahrelang in Gewalt gelebt. Weil die
       Täter*innen Kari nach einer Flucht suchen würden, brauchte Kari eine
       geschützte Unterkunft. Kari hat deshalb mehrfach bei Beratungsstellen
       angerufen, doch die verwehrten den Schutz. Die Absage war immer dieselbe:
       Die Zimmer stünden nur cis Frauen zur Verfügung. Das war vor ungefähr fünf
       Jahren. Da war Kari gerade Anfang 20.
       
       Ein kleiner christlicher Träger nahm Kari schließlich auf. Was dann
       geschah, erzählt Kari an einem Nachmittag im September – in einem ruhigen
       Zimmer an einem Ort, der nicht genannt werden darf. Die Gefahr, auf Karis
       Aufenthalt hinzuweisen, ist zu groß. Die Hormone und die Medikamente
       verhinderten die Beziehung mit Gott, hätten die Mitarbeiter*innen der
       Unterkunft gesagt. Und Gott sei Bedingung, um zu heilen. [1][Sie verstanden
       unter „Heilung“ allerdings etwas anderes als Kari.]
       
       Der erste Schritt sei „zuzugeben“, eine Frau zu sein. Kari müsse außerdem
       heterosexuell werden und in jeder Hinsicht der geforderten
       Geschlechterrolle entsprechen. Kleider tragen, Nagellack, Schminke. Dürfe
       nicht mit zu tiefer Stimme singen oder Fahrräder reparieren. Nur dann würde
       Kari von der „Sünde“ befreit, dann würden die chronischen Erkrankungen
       verschwinden, die Traumata. Dann würde Kari keine weitere Gewalt erleben.
       Erst mit Hilfe einer anderen Beratungsstelle für Gewaltbetroffene konnte
       Kari nach zwei Jahren in verschiedenen Wohnungen kleiner christlicher
       Träger an einen Ort umziehen, an dem das Ziel tatsächlich war, Kari in
       Sicherheit zu bringen. An dem es nicht mehr darum gehen sollte, Kari
       anzugreifen.
       
       ## Konversionsversuche sind schwer zu erkennen
       
       Kari heißt eigentlich anders, viele Details dieser Geschichte bleiben
       unveröffentlicht. Der Redaktion der taz liegen Unterlagen vor, die die
       Eckpunkte von Karis Geschichte belegen. Die Mitarbeiterin der
       Beratungsstelle für Gewaltbetroffene, die Kari half, den christlichen
       Trägerorganisationen zu entkommen, hat Karis Erfahrungen bestätigt.
       Einzelne Aussagen lassen sich nicht überprüfen, doch was Kari erzählt,
       gleicht anderen [2][Berichten von Überlebenden] sogenannter
       Konversionsbehandlungen.
       
       Darunter werden Praktiken gefasst, die die geschlechtliche Identität oder
       die sexuelle Orientierung einer Person ändern oder unterdrücken sollen.
       Betroffene erleben Konversionsversuche in der Schule, der Familie, in
       Kliniken, in der Psychotherapie oder in christlichen Gemeinschaften. Sie
       reichen von psychischen wie physischen bis hin zu rituellen Methoden. Doch
       sie sind meist schwer zu erkennen.
       
       Darüber informiert die Beratungsstelle [3][„Liebesleben“].
       Konversionsversuche verbergen sich hinter anderen Bezeichnungen, heißen
       etwa „reintegrative“ oder „reparative“ Therapie, sind [4][als Hilfsangebote
       getarnt.] „Meistens geht es am Anfang gar nicht um die Geschlechtsidentität
       oder die sexuelle Orientierung, sondern darum, wie man glücklich werden
       kann“, schreibt eine Sprecherin des Bundesinstitut für Öffentliche
       Gesundheit, das die Beratungsstelle verantwortet, auf Anfrage der taz. „Im
       Laufe von Gesprächen wird dann aber vermittelt, dass [5][Homosexualität],
       [6][Asexualität], [7][Bi- und Pansexualität], aber auch [8][Trans*]-,
       [9][Nicht-binär*]- und [10][Inter*]-Sein falsch sind – und dass man nur als
       [11][heterosexuelle] oder [12][cis*] Person glücklich ist“.
       
       [13][In Deutschland sind Konversionsbehandlungen seit 2020 verboten], wenn
       sie an Minderjährigen oder gegen den Willen der Betroffenen stattfinden.
       Doch wie belegt man Zwang, wenn er sich als Hilfe tarnt? Gut nachweisbar
       sind dagegen die gefährlichen Folgen von Konversionsversuchen. Sie können
       [14][Auslöser für Depression] und Suizid sein – und sie schüren
       Diskriminierung. Bei der Beratungsstelle „Liebesleben“ gingen allein im
       Jahr 2024 681 Anfragen ein. Das verzeichne eine deutliche Erhöhung seit
       Beginn der Beratung im Jahr 2021, schreibt die Sprecherin.
       
       Die Mitarbeiter*innen der Einrichtungen bedrängten Kari mit religiösen
       Riten. Kari ist nicht christlich. Und Kari ist stur. „Ich habe konsequent
       gesagt, ich glaube nicht an den Heiligen Geist“, sagt Kari. Da hätten die
       Mitarbeitenden ihre Taktik geändert, versucht, Karis Identität mit
       pseudo-therapeutischen Methoden zu ändern, mit Meditation und
       Körperübungen. „So etwa“, sagt Kari, kreuzt die Handgelenke vor dem
       Oberkörper und trommelt sich mit den Fingerspitzen auf den Brustkorb: „Das
       sollte mir den Teufel austreiben“.
       
       Doch offenbar war es nicht genug, Gott anzurufen. Die Übergriffe seien auch
       körperlich gewesen, sagt Kari. Die Mitarbeiter*innen hätten dafür
       Flashbacks ausgenutzt. Wenn Schmerzen und Krämpfe Kari lähmten, legten sie
       ihre Hände zum Gebet auf Karis Körper. Die Mitarbeitenden hätten Kari
       gedrängt, einen Chirurgen aufzusuchen.
       
       Der sollte geschlechtsangleichende Maßnahmen, die Kari früher vorgenommen
       hatte, operativ rückgängig machen. Das habe Kari verweigert. Kari war die
       ganze Zeit über klar: Hier ging es nicht um Hilfe. „Die haben versucht,
       mich zu ändern. Die haben einfach nicht an mein Geschlecht geglaubt.“
       Trotzdem ist es selbst im Rückblick nicht leicht, eine Sprache zu finden
       für das, was Kari erlebt hat. Zu subtil waren manche Eingriffe in Karis
       Selbstbestimmung, zu absurd andere.
       
       ## Kari zweifelte nicht an der eigenen Identität
       
       Eine Anzeige bei der Polizei? Kommt aus vielen Gründen nicht in Frage. Zum
       einen fehlt Kari die Gewissheit, dass Polizist*innen und – sollte eine
       Anzeige vor Gericht führen – Richter*innen gegenüber queerfeindlicher
       Gewalt sensibel sind. Kari befürchtet, vor der Justiz misgendert zu werden
       und transfeindlichen Stereotypen ausgesetzt zu sein. Eine zusätzliche
       Belastung in einer Situation, die ohnehin eine harte – und öffentliche –
       Konfrontation verlangt. Und selbst, wenn Kari vor Gericht gewinnen würde,
       stünde für die Einrichtung gerade mal eine Geldstrafe an. Würde das
       wirklich etwas ändern? Würde das den Träger die Betriebserlaubnis kosten?
       Kari glaubt nicht an Bestrafung. „Sie würden das eher als einen Angriff des
       Teufels verstehen, als ihre Arbeitsweise zu überdenken“, sagt Kari.
       
       Was für Karis Überleben letztlich entscheidend war: Kari zweifelte nicht an
       der eigenen Identität. „Ich wusste ja, dass ich anders fühlen kann“, sagt
       Kari. „Es war mir wichtiger, ehrlich zu leben, auch wenn das negative
       Konsequenzen hatte, als etwas zu spielen, was ich nicht bin“. Auch wenn es
       Kraft gekostet hat: Mit Minuten des Widerstandes schaffte Kari es hin und
       wieder, den Mitarbeitenden etwas von ihrer Macht zu nehmen.
       
       Solcher Widerstand konnte sein: zum öffentlichen Bücherschrank gehen und
       dort heimlich Bibeln aus der Unterkunft gegen weltliche Literatur
       eintauschen; beim Kleiderkauf mit den Mitarbeiter*innen im
       Einkaufszentrum über das Geschlecht von Stoff diskutieren; während der
       Gebetsrunden vermeintlich heidnische Lieder singen; statt des „Amen“ am
       Ende des Gebets laut „Gaymen“ sagen. Im Kopf lief dabei der Refrain von
       „Take me to church“ von Hozier – ein Lied über Liebe und kirchliche
       Heuchelei.
       
       Was Kari erlebt hat, ist kein Einzelfall – und keine neue Erfindung. Die
       Behauptung, queere Menschen „heilen“ zu können, hat eine lange Geschichte.
       Schon Ende des 19. Jahrhunderts entwarf die Medizin die Idee, die
       geschlechtliche Identität oder sexuelle Orientierung von Menschen zu
       ändern. Sie knüpfte damit an christliche Stigmatisierung und rechtliche
       Bestrafung an. Der Medizinhistoriker Rainer Herrn forscht zum Umgang mit
       geschlechtlicher und sexueller Diversität. „Die Medizin trat gewissermaßen
       in die Fußstapfen der Religion, das Phänomen wurde von der Sünde über das
       Delikt zur Krankheit“, sagt er im Gespräch mit der taz.
       
       Unter „konträres Sexualempfinden“ fielen damals alle Sexualitäten und
       Geschlechter, die nicht der heterosexuellen Zwei-Geschlechter-Norm
       entsprachen. Forscher stritten, ob ihr Ursprung angeboren sei oder
       erworben. Am Ende wurden beide Annahmen gegen die Betroffenen eingesetzt.
       Ob mit Hypnose, Hormonen oder Kastration: Das Interesse war politisch. Die
       medizinische Forschung diente als Steigbügelhalter, sagt Herrn. „Medizin,
       Polizei und Justiz sind hier gleichermaßen ordnungsstaatliche Helfer“.
       
       In ihrer Zeit fortschrittlich denkende Wissenschaftler wie Magnus
       Hirschfeld vertraten die „Angeborenen“-These. Im Kampf gegen die
       Kriminalisierung von Homosexualität lieferte er Belege dafür, dass sie
       weder therapierbar noch strafwürdig ist.
       
       Die Nationalsozialisten instrumentalisierten diese Logik zur Waffe: Queeres
       Leben erklärten sie zur „Volksgefahr“, und legitimierten damit
       Konversionsversuche, Verfolgung und Vernichtung. Die Geschlechterordnung
       blieb staatliche Priorität: Ab 1936 wurden in der polizeilichen
       Dienststelle „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der
       Abtreibung“ die berüchtigten „Rosa Listen“ erstellt, Register, die gezielte
       Verfolgung ermöglichten. Zwischen 1933 und 1945 wurden rund 63.000 Menschen
       nach Paragraf 175 des Reichsstrafgesetzbuches als schwule Männer
       verurteilt. An vielen von ihnen wurden in Konzentrationslagern Experimente
       durchgeführt.
       
       ## In Buchenwald fanden Versuche von „Umpolung“ statt
       
       Wie der Nationalsozialismus die Wissenschaft als Vorwand für medizinische
       Gewalt missbrauchte, daran erinnert heute in der Gedenkstätte Buchenwald
       der ehemalige „Block 50“. Sein Fundament ist mit roten Ziegeln nachgezogen,
       es hebt sich etwas zwischen den anderen Baracken-Resten auf der Kuppel des
       Ettenberges ab. Ein scharfer Wind zieht über das Gelände, wie oft um diese
       Jahreszeit, Ende September. Zur Zeit des Konzentrationslagers waren hier
       die Büros von Wissenschaftlern, sie stellten Impfstoffe her, etwa gegen
       Typhus.
       
       Michael Löffelsender leitet die historische Abteilung der Gedenkstätte. Bei
       einem Rundgang erklärt er: Hier fanden zwischen 1941 und 1945 medizinische
       Experimente an Gefangenen statt, 1944 auch Versuche von operativer
       „Umpolung“. Für Löffelsender steht „Block 50“ symbolisch für die
       Kooperation der Medizin mit dem Nationalsozialismus: „Das Lager hat Leute
       angelockt, die bereit waren, an Menschen zu experimentieren“.
       
       Homo- und Transfeindlichkeit waren keine Besonderheit der Nazi-Herrschaft.
       Doch sie stellte die „Verfügungsmasse Mensch“ bereit, sagt Löffelsender. Im
       „Block 46“, der Krankenstation, testeten sie die Impfstoffe an Menschen,
       hier fanden wohl auch die Versuche des dänischen Arztes Carl Vaernet statt.
       Er, schon damals umstritten, behauptete, Homosexualität „behandeln“ zu
       können. Bis zu zwanzig Gefangenen implantierte er Testosterondrüsen in die
       Leiste; mehrere überlebten den Eingriff nicht.
       
       Mit Ende des Krieges war die Verfolgung nicht vorbei. Nach der Befreiung
       bemühte sich die Regierung der neuen Bundesrepublik nicht um Anerkennung
       queeren Lebens, im Gegenteil. Bis 1969 verurteilte die Justiz rund 50.000
       Personen nach dem unverändert gültigen Paragraf 175, gegen viele mehr wurde
       ermittelt. Die „Rosa Listen“ bestanden fort, erst 1994 wurde der Paragraf
       gestrichen. Die Bundesrepublik, [15][schreibt der Verband] Queere Vielfalt
       (LSVD), „suchte bewusst in christlicher Moral Heilung von den Schrecken des
       Nationalsozialismus“. Für die Verfolgten bedeutete das: Die Unterdrückung
       ging weiter – nun im christlich-nationalistischen Gewand.
       
       Einer der Verurteilten war Klaus Schirdewahn. Er war 17 Jahre alt, als er
       auf einer öffentlichen Toilette von der Polizei mit einem anderen Mann
       „erwischt“ wurde. Das war 1964. Der heute 78-Jährige erzählt der taz in
       einem Videogespräch davon. Weil er zum Zeitpunkt seiner Verurteilung
       minderjährig war, bot ihm das Gericht an, statt einer Haftstrafe
       „freiwillig“ eine „Verhaltenstherapie“ zu machen. „Als ich gehört hab, dass
       der andere ins Gefängnis muss, ist mir mein Herz ganz schwer in die
       Hosentasche gerutscht“, sagt er. Bis heute weiß er nicht, was aus dem
       Anderen geworden ist. Er hält kurz inne: „Trotzdem war ich froh, dass es
       für mich bloß geheißen hatte: Therapie.“ Seine Eltern waren streng
       christlich, aus ihrer Sicht hatte ihr Sohn eine Todsünde begangen. Er wurde
       gezwungen mit niemandem darüber zu sprechen.
       
       ## Nur freundschaftliche Gefühle zu anderen Männern
       
       Der Therapeut sagte ihm: „Jeder junge Mann macht diese Phase durch.“ Und
       das vergehe, sobald die „richtige Frau kommt“. Ein „richtiger Mann“ dürfe
       nur freundschaftliche Gefühle zu anderen Männern haben. Schirdewahn solle
       sich von einschlägigen Lokalen fernhalten und nicht mehr ins Schwimmbad
       gehen, wo er, das hatte er gestanden, romantische Treffen erlebte.
       Begründet habe der Therapeut die Behandlung mit der „Volksgesundheit“: Eine
       „normale“ Familie sei wichtig, seine Sexualität dagegen verboten, eine
       Krankheit, die man „heilen“ könne.
       
       In der Behandlung sollte Schirdewahn Bilder malen. „Ich fand das lustig“,
       sagt er. Also malte er Bäume, Waldwege, den Himmel. Er musste den
       sogenannten Rorschach-Test machen, bei dem Patient*innen Tintenkleckse
       interpretieren sollen. „Den fand ich besonders schlau, weil ich manchmal
       Sachen gesehen hab, die hätte ich lieber nicht gesehen“, sagt Schirdwahn.
       Er grinst, zieht die Schultern hoch. „Das waren dann natürlich Zeichen,
       dass ich noch nicht auf dem richtigen Weg bin.“
       
       Um die Sitzungen zu überstehen, habe er geflunkert, sagt er. Etwa, wenn der
       Therapeut ihn gefragt habe, wann er zuletzt an einen Jungen gedacht habe,
       oder ob er sich mit einem getroffen habe. „Das habe ich verschwiegen“, sagt
       Schirdewahn. Sein Begehren änderte sich nie. Trotzdem glaubte Schirdewahn
       nach zwei Jahren, geheilt zu sein. Der damals 19-Jährige lernte in der
       Jugendgruppe seiner evangelischen Gemeinde eine Frau kennen. Mit ihr konnte
       er sprechen – zum ersten Mal auch über seine Gefühle, seine Verurteilung
       und die Therapie. Sie hatten eine Liebesbeziehung, sagt Schirdewahn, wenn
       er daran zurückdenkt. Nur eben eine ohne Sexualität. Das war vor der Ehe
       für beide ohnehin keine Option.
       
       Ende 1966 verlobten sie sich. „Das habe ich dem Doktor erzählt. Dann hat er
       sich gefreut, dass seine Therapie angeschlagen hat. Und ich war glücklich,
       dass das Urteil abgeschlossen ist.“ Heute sagt Schirdwahn: „Geheilt“ war er
       nicht. Heute benutzt er einen anderen Namen dafür: Gehirnwäsche.
       
       Die Wirkung hielt nicht lange. Nach ein paar Wochen hatte Schirdewahn einen
       „Rückfall“ – so nennt er sein erstes Treffen mit einem Mann nach der
       Therapie noch heute. Dass er seinen Gefühlen folgte, bereut er nicht.
       Damals aber hatte er einen Nervenzusammenbruch: „Der kam so knallig, kein
       Doktor wusste, was mit mir los war. Ich hatte drei Wochen Fieber, war fix
       und fertig.“ Wahrscheinlich waren es Schuldgefühle – ein Nachhall der
       Gehirnwäsche.
       
       Schuld empfindet er inzwischen nur noch gegenüber seiner damaligen Frau und
       der gemeinsamen Tochter. 1980 verließ er sie und zog mit seinem Partner
       zusammen. Doch erst Jahrzehnte später sprach er erstmals öffentlich über
       seine Verurteilung und die „Therapie“, zuerst 2015 bei einer Ausstellung,
       2018 im Bundestag. Ein Jahr zuvor war sein Schuldspruch nach Paragraf 175
       aufgehoben worden. Schirdewahn bekam 3.000 Euro Entschädigung – für 53
       Jahre Kriminalisierung.
       
       Heute ist Schirdewahn in einer Gruppe für schwule Senioren aktiv. Viele von
       ihnen haben Konversionsversuche erlebt. Darüber sprechen will kaum jemand.
       „Das Verstecken, das ist so verinnerlicht, das kriegt man nicht mehr raus“,
       sagt Schirdewahn. In den vergangenen Monaten [16][habe die Angst vor
       öffentlicher Ächtung] in seinem Umfeld wieder zugenommen. Das liegt zum
       Beispiel an der Umverteilung der öffentlichen Mittel auf Bundes- und
       Länderebene, die vor allem das Geld für Demokratieförderung und politische
       Bildung beschneiden. „Viele von uns Älteren haben Angst, dass so die
       Verdrängung wieder losgeht“, sagt Schirdewahn. Queere Initiaiven und
       Hilfsangebote sind davon [17][besonders betroffen], wie die Aids-Hilfe, die
       Berliner Schwulenberatung oder das Jugendnetzwerk Lambda.
       
       „So fängt es an“, habe er gedacht, als die Bundestagspräsidentin Julia
       Klöckner (CDU) entschied, die Regenbogenflagge zum Pridemonth nicht am
       Reichstag zu hissen. „Das Grausen“ habe er gekriegt, als der
       Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) ankündigte, im Melderegister
       trans- und nicht binäre Personen mit [18][zusätzlichen Informationen zu
       markieren], wenn sie ihren Personenstand nach dem Selbstbestimmungsgesetz
       an ihr Geschlecht anpassen. Schirdewahn sagt, in seinem Umfeld fühlten sich
       viele an die „Rosa Listen“ erinnert.
       
       Dass es einen Namen gibt für das, was ihm in der Therapie widerfahren ist,
       lernte Schirdewahn erst 2020, mit Inkrafttreten des Gesetzes zum Schutz vor
       Konversionsbehandlungen. Die Gewalt zu benennen hilft, sagt er. Was noch
       hilft: darüber zu sprechen, und von anderen zu lesen, am liebsten
       Biografien. Als nächstes möchte er seine Lebensgeschichte aufschreiben.
       Doch es wird nicht nur eine Leidensgeschichte sein. Auch Schwimmbäder
       werden darin eine Rolle spielen.
       
       Diese Recherche wurde [19][mit Unterstützung von N-Ost] umgesetzt;
       finanziert von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft sowie dem
       Ministerium für Finanzen als Teil der Bildungsagenda NS-Unrecht.
       
       14 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Christliche-Konversionstherapie/!5976680
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   DIR [8] https://www.liebesleben.de/fuer-alle/geschlechtsidentitaet/trans/
   DIR [9] https://www.liebesleben.de/fuer-alle/geschlechtsidentitaet/nicht-binaer/
   DIR [10] https://www.liebesleben.de/fuer-alle/geschlechtsidentitaet/inter/
   DIR [11] https://www.liebesleben.de/fuer-alle/sexuelle-orientierung/heterosexualitaet/
   DIR [12] https://www.liebesleben.de/fuer-alle/geschlechtsidentitaet/cis/
   DIR [13] /Mehr-Schutz-fuer-Queers/!5999797
   DIR [14] https://mh-stiftung.de/wp-content/uploads/Gutachten-Prof.-Dr.-med.-Peer-Briken.pdf
   DIR [15] https://www.lsvd.de/de/ct/1022-Paragraph-175-StGB-Verbot-von-Homosexualitaet-in-Deutschland#kontinuitaet
   DIR [16] /Pride-Verbot-in-Ungarn/!6073244
   DIR [17] https://www.tagesschau.de/inland/regional/berlin/rbb-traeger-befuerchten-aus-fuer-queere-bildungsangebote-wegen-haushaltskuerzungen-100.html
   DIR [18] /Aenderung-beim-Selbstbestimmungsgesetz-/!6106418
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