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       # taz.de -- Über den Machtwechsel in Bolivien: „Die Frage ist, ob die Linke sich neu erfinden kann“
       
       > Nach zwei Jahrzehnten linker Regierung stehen sich bei Boliviens
       > Stichwahl zwei Rechte gegenüber. Die Schriftstellerin Quya Reyna über die
       > Gründe.
       
   IMG Bild: Die Schriftstellerin Quya Reyna, eine literarische Stimme der jungen Generation in Bolivien
       
       taz: In der [1][Stichwahl am Sonntag] stehen sich zwei rechte Kandidaten
       gegenüber. Droht Bolivien damit eine Rückkehr in die neoliberalen 1990er
       Jahre? 
       
       Quya Reyna: Beide Kandidaten kommen aus der Rechten. Dennoch scheint es
       erneut eine Polarisierung zwischen links und rechts zu geben. Jorge Quiroga
       wirft seinem Kontrahenten Rodrigo Paz von der Christdemokratischen Partei
       (PDC) vor, Sozialismus und eine Art neuer, verkleideter MAS zu
       repräsentieren. Das ist natürlich Blödsinn. Die PDC ist eine rechte Partei
       mit einem rechten Diskurs. In der Stichwahl gibt es keine linke Option.
       Dennoch unterscheiden sich die beiden Kandidaten voneinander.
       
       taz: Inwiefern? 
       
       Reyna: Quiroga ist tatsächlich ein klassischer Neoliberaler aus der
       traditionellen Elite. Er propagiert Konzepte der 1990er Jahre wie
       Privatisierungen, den Rückzug des Staates oder die Steigerung
       agroindustrieller Sojaproduktion. Nicht mehr der Staat soll die Rohstoffe
       verwalten, sondern alle Bolivianer:innen sollen zu Aktionären der
       Rohstoffunternehmen werden. Es ist natürlich ein Irrweg zu glauben, dass
       die Bevölkerung als Ganze davon profitieren würde. Aber so will Quiroga
       Privatisierungen legitimieren.
       
       taz: Und Rodrigo Paz? 
       
       Reyna: [2][Rodrigo Paz] ist nicht gegen den Kapitalismus. Aber er betont,
       dass nicht nur die traditionelle Elite davon profitieren soll. Das spricht
       vor allem die ehemalige Anhängerschaft der MAS an, die dank eines linken
       Transformationsprozesses heute zur Mittelschicht gehört. Dort kommt das
       Versprechen eines „Kapitalismus für alle“ gut an. Es liegt auf der Hand,
       dass in einem kapitalistischen System immer einige mehr profitieren als
       andere. Viele Menschen haben aber das Gefühl, mit Paz für Wohlstand zu
       votieren, ohne sich an der kleinen weißen Oberschicht orientieren zu
       müssen, die Qiroga repräsentiert. In der Mittelschicht und auch in ärmeren
       Gegenden hat Paz damit mehr Rückhalt als Quiroga mit seinem rein
       neoliberalen Diskurs.
       
       taz: Wie konnte es dazu kommen, dass die MAS, die 20 Jahre lang weitgehend
       die Politik Boliviens dominierte, keine Rolle mehr spielt? 
       
       Reyna: Ein wichtiger Grund liegt in der [3][Spaltung der Partei] in drei
       Blöcke. Da sind zunächst der aktuelle Präsident Luis Arce auf der einen und
       [4][Ex-Präsident Evo Morales] auf der anderen Seite. Ein dritter Block hat
       sich später um Andrónico Rodríguez formiert, der lange Zeit als
       aussichtsreicher Kandidat aus dem Spektrum der MAS galt und bei der Wahl
       mit 8,5 Prozent auf dem vierten Platz landete. Es gibt aber auch andere
       Faktoren.
       
       taz: Welche sind das? 
       
       Reyna: Über die Jahre hat die MAS vor allem über die Stärkung indigener
       Identität Hegemonie herstellen können. Dazu gehörte, in einem
       plurinationalen Staat die Indigenen als politische Subjekte anzuerkennen
       und indigene, kommunitäre Produktionsweisen zu stärken. In den vergangenen
       Jahren haben die MAS und Evo Morales aber kein gutes Bild mehr abgegeben.
       Es gab Korruptionsfälle, machistische Verhaltensweisen und das
       Wirtschaftsmodell geriet in die Krise. Die Wirtschaftskrise ist der
       Hauptgrund, warum die Kandidaten der Linken so schwach abgeschnitten haben.
       
       taz: Evo Morales leitete in Bolivien einen tief greifenden
       Transformationsprozess ein, der sich an indigenen Wertvorstellungen
       orientierte. Stellt die Wirtschaftskrise den ganzen Prozess des Wandels in
       Frage? 
       
       Reyna: Das politische und wirtschaftliche Transformationsprojekt hatte
       enorme soziale Auswirkungen. Ein beträchtlicher Teil der verarmten, häufig
       indigenen Unterschicht aus dem ländlichen Raum konnte zwischen 2006 und
       2019 in die Mittelschicht aufsteigen. Das lag vor allem an der
       Umverteilungspolitik, die auf der Nationalisierung der Erdöl- und
       Gasindustrie 2006 basierte. Die staatlichen Einnahmen aus dem Verkauf der
       fossilen Energieträger gab die Regierung in Form von Sozialprogrammen,
       Bonuszahlungen, Lohnerhöhungen und günstigen Krediten an die Bevölkerung
       weiter. Die Menschen fühlen sich von der MAS aber nicht mehr repräsentiert.
       
       taz: Wie kommt es zu dieser Entfremdung von der MAS? 
       
       Reyna: Zum einen hat die MAS es weder geschafft, ihr politisches Modell zu
       erneuern, noch einen Generationswechsel einzuleiten. Evo Morales ist immer
       noch der mit Abstand populärste linke Politiker. Zum anderen richtet sich
       das Angebot der MAS nach wie vor an das politische Subjekt von Anfang der
       2000er Jahre, den Indigenen im ländlichen Raum. Diese forderten damals
       Reformen und eine grundlegend andere Politik. Sie waren es, die der
       Regierung Morales durch massive Straßenproteste gegen die neoliberale
       Politik den Weg ebneten. Heute steht die einstige Anhängerschaft des
       Transformationsprozesses aber als direktes Ergebnis der MAS-Politik
       wirtschaftlich besser da. Das verändert die politischen Rahmenbedingungen
       grundlegend.
       
       taz: Was meinen Sie damit? 
       
       Reyna: Wer sozial aufgestiegen ist, will nicht wieder arm werden. In der
       unteren oder sogar oberen Mittelschicht angekommen, streben viele einen
       weiteren sozialen Aufstieg an. Und den trauen sie unter den derzeitigen
       Bedingungen eher einem rechten als einem linken Kandidaten zu, obwohl sie
       früher selbstverständlich die MAS gewählt haben. Das heißt nicht, dass die
       sozial aufgestiegenen Indigen heute rechts sind. Aber sie waren in vielen
       Fällen eben auch nie links im Sinne des sozialistischen
       Regierungsdiskurses. Die Leute wollen einfach wirtschaftliche
       Verbesserungen.
       
       taz: Sie gelten literarisch auch als Stimme der jüngeren Generation. Wie
       blicken denn die Jüngeren auf die politische Lage im Land? 
       
       Reyna: Die jüngeren Menschen sind mit Evo Morales an der Macht aufgewachsen
       und definieren ihr Verhältnis zum Staat über dessen politische Führung.
       Indigene Identität spielt auch nicht mehr eine so große Rolle. Die „Kinder
       des Transformationsprozesses“ sind heute verärgert über den Staat, sie
       nehmen ihn nicht als ausgleichend und gerecht wahr. Etwas Ähnliches ist in
       Argentinien passiert, wo Javier Milei vor allem bei jungen Menschen beliebt
       ist. In den sozialen Medien, wo sich die Jüngeren maßgeblich politisch
       betätigen, spielt die MAS keine große Rolle. Antistaatliche Diskurse haben
       hier viel mehr Rückhalt. Und gerade weil die jüngeren Leute fast nur die
       MAS an der Macht kennen, wirken die rechten Kandidaten interessant auf sie.
       Einfach, weil sie für etwas anderes stehen.
       
       taz: Welche Perspektiven ergeben sich angesichts des zu erwartenden
       Rechtsrucks für linke, indigene und kleinbäuerliche Bewegungen? 
       
       Reyna: Da die MAS und andere Linke im Parlament kaum Sitze gewinnen
       konnten, spielen sie auf institutioneller Ebene in den nächsten Jahren
       praktisch keine Rolle. Es gibt aber indigene und linke Sektoren, die
       weiterhin über eine hohe Mobilisierungsfähigkeit verfügen, um mit
       Straßenblockaden und Protesten Einfluss auf die Politik zu nehmen. Dazu
       zählt zweifellos auch Evo Morales. Die nächsten fünf Jahre könnten also zu
       verschärften Konflikten führen. Die Frage ist, ob die Linke sich neu
       erfinden kann. Kurzfristig ist eher davon auszugehen, dass Morales über
       eine Parteineugründung nochmal versucht, an die Regierung zurückzukehren.
       Aber der heutige Morales repräsentiert auch nicht mehr die klassische
       Linke. Vielmehr versucht er sich als „jenseits von Links und Liberal“
       darzustellen. Neue Führungsfiguren in der Linken werden sich vermutlich
       erst in den nächsten fünf bis zehn Jahren herausbilden.
       
       19 Oct 2025
       
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   DIR Tobias Lambert
       
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