URI: 
       # taz.de -- Neues Album von Joanne Robertson: Sie bleibt lieber undurchsichtig
       
       > „Blurrr“ ist das wunderbar seltsam neue Album der britischen Künstlerin
       > Joanne Robertson. Getreu des Titels sind die Songs ein großes
       > Verschwimmen.
       
   IMG Bild: Keine Pose, nirgends. Joanne Robertson ist trotzdem Auraboss
       
       Es lohnt sich, eines ihrer Konzerte zu besuchen, um vollends zu verstehen,
       wie der Nebel entsteht, der den Sound von Joanne Robertson zu umhüllen
       scheint. Die Musikerin und Malerin aus London, die seit 2018 im
       schottischen Glasgow lebt, sitzt auf den Bühnen, zuletzt im Berliner
       „Silent Green“, mit nichts als ihrer Gitarre.
       
       Zwischen den einzelnen Songs beginnt sie oft minutenlang zu wispern und zu
       kichern. Halleffekte auf dem Mikrofon sorgen dafür, dass ihre Äußerungen
       klingen wie eine Geisterbeschwörung. Passend dazu findet Robertsons
       Berliner Konzert in einem ehemaligen Krematorium statt. Ihr unterdrücktes
       und dann doch aus ihr heraustretendes Räuspern, ihre Aufforderungen an den
       Tonmeister, die Lautstärke der Gitarre etwas zu erhöhen, obwohl sie schon
       alles überlagert, ihre geäußerte Begierde nach einem Wodka, all das
       verschwimmt und klingt dadurch seltsam entrückt.
       
       Es wird zum Teil ihrer Musik. Dann erklingt wieder die Gitarre, und die von
       ihr erzeugten Drones und Melodien füllen nach und nach den Raum. Es folgt
       Robertsons Stimme, die fordernd in den Äther dringt. Was sie da singt, ist
       kaum zu verstehen und trotzdem schön. Joanne Robertson schafft auf der
       Bühne einen Raum in einem Raum, den man als stiller Betrachter beobachten,
       den man aber nie selbst betreten können wird. Wie ein Zwiegespräch auf der
       Bühne, dessen Inhalt man niemals vollends zu greifen bekommt.
       
       ## Das große Verschwimmen
       
       Robertson spielt an diesem Abend die Songs ihres neuen Albums „Blurrr“ und
       es gibt kein Wort, da ihr Schaffen besser beschreiben könnte als dieses.
       Musik als „Blurrr“, als großes Verschwimmen. Denn Joanne Robertsons Musik
       ist eine Übung der partikularen Überlappungen, des endgültigen
       Zusammengehens von wogenden Stimmensignalen und Gitarre mit Halleffekten
       als Lösungsmittel.
       
       Manchmal, etwa beim Song „Gown“, dringt ein Cello hervor, eingespielt von
       Oliver Coates. Es lenkt den Song kurze Zeit in eine klare Richtung, bevor
       er wieder zerfasert. „Blurrr“ ist gewissermaßen die Essenz aller zuvor
       erschienenen musikalischen Projekte Robertsons, der Abschluss eines
       jahrelangen Entwicklungsprozesses. Schon während ihrer Kindheit in
       Blackpool, sagte sie, habe sie zum Spaß Musik auf Tapes aufgenommen, doch
       bis zur ersten Album-Veröffentlichung dauerte es noch eine halbe Ewigkeit.
       
       [1][Als sie nach ihrem Kunststudium in London] und Glasgow mit Ende 20
       damit begann, Musik zu veröffentlichen, war der Sound von Joanne Robertson
       noch teils naturalistischer, teils introspektiver LoFi, der sich
       leichtfüßig durch verwunschene Gärten bewegte. Auf ihrem Debütalbum „The
       Lighter“ von 2008 sind Sprache und Gesang noch klar verständlich und
       deskriptiv. Während ihrer langjährigen Zusammenarbeit [2][mit dem
       britischen Prankster Dean Blunt], die 2017 im bekanntesten Album der beiden
       mündete, „Walhalla“, abstrahierte sie diese Klarheit vom Anfang ihrer
       Karriere immer weiter hin zu einem Zustand des endgültigen Verschwimmens,
       des „Blurrr“.
       
       ## So schön klang Zufall noch nie
       
       Würde man Roland Barthes’ Konzept des Punctums auf Musik anwenden, wäre der
       Sound von Robertson ein ideales Beispiel. Die einnehmende Beiläufigkeit
       ihrer Songs, deren Struktur sich stetig verschiebt und deren Wandlung nie
       vorhersehbar ist. [3][Klänge, die immer auch eine Zufälligkeit suggerieren,
       machen den Reiz dieser irrlichternden Musik aus]. Es deckt sich mit
       Robertsons Aussage, dass ihre Songs im Zusammenhang mit ihrer Malerei
       stünden und sie in beidem sehr improvisatorisch arbeite, wie sie in einem
       Interview verriet.
       
       Auch in den Konzerten ist dieser bewusste Flow der Improvisation anzumerken
       – und in den Texten entsteht oft ein freies Assoziieren im
       Bewusstseinsstrom. Es setzt sich mit der Suche nach dem „Blurrr“, der
       Sehnsucht nach dem Verschwimmen mit einer anderen Person, einem anderen
       Körper auseinander und dem Gefühl der Einsamkeit, wenn das Verschwimmen in
       weiter Ferne liegt.
       
       Was also will uns die Künstlerin damit sagen? [4][Vielleicht, dass Klarheit
       und Deutlichkeit keine Zustände sind, die unserer Gegenwart entsprechen].
       „Blurrr“ als Zustandsbeschreibung, das Verschwimmen von Ereignissen,
       Erfahrungen, Ideologien, die öffentlich jederzeit einsehbare Parallelität
       der Dinge. Und die damit einhergehende Undurchsichtigkeit. Oder „Blurrr“
       als Modus in der Kunst. Es passt, dass „Die Holländerinnen“ von Dorothee
       Elmiger den deutschen Buchpreis gewonnen hat, ein Werk, dessen Zeitebenen,
       Erzählstränge und Gefühlswallungen ebenfalls verschwimmen.
       
       Unabhängig von solchen Deutungsversuchen ist „Blurrr“ purer musikalischer
       Genuss, der sich nicht aufdrängen will, sondern ganz behutsam zum
       Bestandteil der eigenen Wahrnehmung wird.
       
       23 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Londoner-Ausnahme-Kuenstlerin-Lolina/!5902020
   DIR [2] /Festival-Off-the-Page-in-Bristol/!5032071
   DIR [3] /Pranksterpop-von-Joanne-Robertson/!5011573
   DIR [4] /Black-Metal--Album-von-Dean-Blunt/!5029943
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Johann Voigt
       
       ## TAGS
       
   DIR Pop
   DIR Großbritannien
   DIR Neues Album
   DIR zeitgenössische Kunst
   DIR Dean Blunt
   DIR Dean Blunt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Ausstellung von Erik Schmidt: Ein durchschnittlicher Mann von Welt
       
       Bezugsrahmen eigenen Schaffens: Im Kindl-Zentrum Berlin verweist mit „The
       Rise and Fall of Erik Schmidt“ ein Künstler auf sich selbst.
       
   DIR Pranksterpop von Joanne Robertson: Das ist die reinste Alchemie
       
       Die britische Künstlerin Joanne Robertson macht auf dem Album „Black Moon
       Days“ hypnagogischen Folk. Nun kommt sie nach Deutschland.
       
   DIR „Black Metal“- Album von Dean Blunt: Der große Abwesende
       
       Pop, der sich als Scripted Reality präsentiert: der britische Künstler Dean
       Blunt und sein herausragendes neues Album „Black Metal“.