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       # taz.de -- Weltklimakonferenz in Belém: Fatalismus ist keine Lösung
       
       > Kann die Menschheit noch reparieren, was sie zerstört? Die
       > Weltklimakonferenz im November in Brasilien sollte auf diese Frage eine
       > Antwort finden.
       
       An meinem ersten Tag im Amt als Präsident Kolumbiens vor etwas mehr als 15
       Jahren traf ich mich mit den Anführern von vier indigenen Völkern – den
       Kogui, Arhuaco, Wiwa und Kankuamo – in der Sierra Nevada de Santa Marta.
       Als wir gemeinsam am Fuße dieser majestätischen Bergkette in nächster Nähe
       zum karibischen Meer standen, veränderte die Lebensweisheit dieser Völker,
       die sie mit mir teilten, meine Sicht auf meine Verantwortung als Staatschef
       und auch auf meine Sichtweise hinsichtlich unserer gemeinsamen Pflichten
       als vorübergehende Bewohnerinnen und Bewohner dieses zunehmend geschundenen
       Planeten. Ich erhielt einen Holzstab – ein Symbol der Macht – der mich
       daran erinnern sollte, zwei Ziele anzustreben: Frieden unter unseren
       Bürgerinnen und Bürgern nach 50 Jahren Konflikt und Frieden mit der Natur.
       
       Die indigenen Anführer ermahnten mich, dass unsere Beziehung zur Natur
       Schaden genommen habe, dass die Natur zornig sei und dass wir die
       Konsequenzen zu tragen hätten. Zwei Wochen später wurde Kolumbien durch
       [1][La Niña] von verheerenden Überschwemmungen heimgesucht, und ich
       verbrachte die ersten zwei Jahre meiner Amtszeit damit, den Betroffenen zu
       helfen und mich auf die nächste Naturkatastrophe vorzubereiten.
       
       Heute leben wir in einer Welt, die von verheerenden Unwettern bedroht ist –
       sowohl physischen als auch ideologischen. Erst kürzlich kamen bei
       [2][Überschwemmungen in Pakistan mindestens 1.006 Menschen ums Leben], und
       2,5 Millionen Menschen mussten aus den [3][Regionen Punjab und Sindh]
       evakuiert werden, die bereits 2022 von gewaltigen Überschwemmungen
       heimgesucht worden waren. Bedenkliche Angriffe auf den Multilateralismus
       und die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen institutionellen Grundlagen
       der Menschenrechte verschlimmern die Lage zusätzlich.
       
       Unser gesamtes Wertesystem scheint unter Beschuss zu stehen. Aber wie
       [4][The Elders] – eine Gruppe ehemaliger Staats- und Regierungschefs, deren
       Vorsitz ich derzeit innehabe – kürzlich erklärten, sind Fatalismus und
       Zynismus keine Lösung, egal wie unerbittlich die Krisen auch sein mögen,
       mit denen wir konfrontiert sind. Der Multilateralismus wurde genau für
       Zeiten wie diese entwickelt – um uns ohne Ausnahme durch
       Meinungsverschiedenheiten und Katastrophen zu geleiten.
       
       Im November dieses Jahres finden zwei bedeutsame Gipfeltreffen statt, auf
       denen globale Probleme in Angriff genommen werden sollen. Zunächst ist da
       der zweite Weltgipfel für soziale Entwicklung. Die erste Veranstaltung
       dieser Art vor 30 Jahren brachte eine beispiellose Zahl von
       Führungspersönlichkeiten aus aller Welt zusammen und läutete ein neues
       Kapitel des Multilateralismus im Dienste der menschlichen Entwicklung ein.
       Das andere Gipfeltreffen im nächsten Monat, die Klimakonferenz der
       Vereinten Nationen [5][(COP30)] vom 10. bis 21. November im brasilianischen
       Belém, wird sich mit der existenziellen Krise der globalen Erwärmung
       befassen.
       
       Als Präsident Kolumbiens habe ich einst selbst erlebt, dass bei
       Katastrophen immer die Armen am stärksten betroffen sind. Deshalb haben wir
       nach den Überschwemmungen von 2010 verschiedene Institutionen zur
       Koordinierung der Hilfsmaßnahmen geschaffen. Mittlerweile ist es
       unerlässlich, dass alle Länder die Klimawarnungen ernst nehmen und ihre
       eigenen Strategien zur Stärkung der Resilienz und Anpassung ausbauen.
       
       Ein aktueller [6][Bericht von Forschenden der Universität Oxford und des
       Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen] beleuchtet dieses Thema.
       Darin wird festgestellt, dass fast 80 Prozent der insgesamt 887 Millionen
       aus 108 Entwicklungsländern multidimensional armen Menschen in Regionen
       leben, die von mindestens einer klimabedingten Gefahr wie extremer Hitze,
       Dürre, Überschwemmungen oder Luftverschmutzung betroffen sind. Diese
       Bedrohungen kommen zur ohnehin vorhandenen Benachteiligung infolge ihres
       geringen Einkommens noch hinzu. Zudem bestätigt der Bericht, dass Menschen
       in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen mit einer größeren Zahl
       sich überschneidender Klimagefahren konfrontiert sind als Menschen in
       Ländern mit niedrigem oder hohem Einkommen.
       
       Und obwohl es in Ländern mit hohem Einkommen relativ gesehen weniger arme
       Menschen gibt, ist diese Gruppe trotzdem insbesondere von Luftverschmutzung
       und Überschwemmungen betroffen. Diese Ergebnisse unterstreichen die
       Notwendigkeit einer gerechten Energiewende. Aus diesem Grund führte
       Kolumbien im Jahr 2016 die ersten CO2-Steuern Lateinamerikas ein. Jetzt, im
       Vorfeld der Weltklimakonferenz in Brasilien, fordern The Elders die
       G20-Staaten auf, ihre finanziellen Vorteile einzusetzen, um „die Umsetzung
       des [7][Pariser Klimaabkommens] und des Globalen Biodiversitätsrahmens
       voranzutreiben“.
       
       ## Finanzbedarf von 1,3 Bilionen Dollar
       
       Auf der Weltklimakonferenz im vergangenen Jahr haben sich die führenden
       Persönlichkeiten der Welt verpflichtet, 300 Milliarden Dollar für die
       Finanzierung derartiger Bemühungen bereitzustellen, obwohl der Gesamtbedarf
       eher bei 1,3 Billionen Dollar liegt. Angesichts dieser großen
       Finanzierungslücke begrüßen wir das jüngste Gutachten des
       [8][Internationalen Gerichtshofs, wonach Staaten rechtlich für Klimaschäden
       zur Verantwortung gezogen werden können], insbesondere für Schäden, die
       durch die fossile Brennstoffindustrie verursacht werden.
       
       Das erinnert mich an einen Moment im Jahr 2011, als zwei hochrangige
       Mitarbeiterinnen meiner Regierung, Paula Caballero und Patti Londoño, mit
       der Idee zu mir kamen, Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt der Entwicklung zu
       stellen. Caballero und Londoño pflanzten die Samen, aus denen schließlich
       die Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung hervorgingen.
       Ich war gerne bereit, diese Agenda nach Kräften zu unterstützen, und dank
       des vor zehn Jahren geschaffenen multilateralen Rahmens wurden die
       Nachhaltigkeitsziele von den Vereinten Nationen einstimmig verabschiedet.
       Die damals herrschende Freude wird mich mein Leben lang begleiten.
       
       ## Versauerung der Ozeane
       
       Inzwischen ist die Party jedoch vorbei. Zwar gibt es noch Hoffnungsschimmer
       – gerade in diesem Jahr haben die Länder ein historisches
       Meeresschutzabkommen verabschiedet – doch der Planet leidet mehr denn je.
       Im vergangenen Monat präsentierten die [9][Planetary Guardians] in New York
       ihren Bericht „Planetarer Gesundheitscheck 2025“. Der bestätigt, dass
       sieben der neun planetarischen Grenzen, darunter die Versauerung der
       Ozeane, bereits überschritten wurden. Zusammen bilden diese neun Grenzen
       das Betriebssystem der Erde: Die miteinander verbundenen lebenserhaltenden
       Prozesse müssen innerhalb sicherer Grenzen gehalten werden, um die
       Menschheit zu schützen und die Widerstandsfähigkeit der Natur zu erhalten.
       
       Angesichts der Warnungen im Rahmen des planetaren Gesundheitschecks vor
       einer sich beschleunigenden Verschlechterung und dem wachsenden Risiko,
       gefährliche Kipppunkte zu erreichen, gilt es nun, dringend unser
       Verständnis dafür zu verbessern, wo und in welcher Weise sowohl der Planet
       als auch seine Bewohnerinnen und Bewohner leiden. Das bedeutet, die
       Bemühungen zur Unterstützung der miteinander verknüpften Agenden des
       Klimaschutzes und der Armutsbekämpfung erneut zu intensivieren.
       
       Als ich im Jahr 2018 aus dem Präsidentenamt schied, traf ich mich erneut
       mit den indigenen Anführern, die mir ihre Hoffnungen anvertraut hatten. Ich
       wollte ihnen den Holzstab zurückgeben. Zu meiner Überraschung baten sie
       mich jedoch, ihn zu behalten, und formulierten dann einen neuen Grundsatz,
       den die internationale Gemeinschaft unbedingt berücksichtigen sollte. Sie
       sprachen von der spirituellen Verbindung zwischen Mensch und Natur: Nichts
       darf genommen werden, ohne zuvor um Erlaubnis zu bitten und etwas dafür
       zurückzugeben. Wir trennen diese Verbindung auf eigene Gefahr. Heutzutage
       sind zahlreiche Verbindungen bereits unterbrochen – zwischen Völkern sowie
       zwischen Menschen und dem Planeten. Unsere Aufgabe in den kommenden Jahren
       besteht darin, diese Beziehungen wiederherzustellen.
       
       Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier.
       
       Copyright: Project Syndicate, 2025. Das Project Syndicate mit Sitz in Prag
       ist eine Non-Profit-Organisation, die internationalen Medien Essays und
       Meinungsbeiträge von namhaften PublizistInnen und WissenschaftlerInnen
       anbietet.
       
       6 Nov 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Extremwetter-in-Argentinien-und-Uruguay/!5916622
   DIR [2] /Klimaexperte-ueber-Flut-in-Pakistan/!5874975
   DIR [3] /Erdrutsche-in-Indien/!6027269
   DIR [4] https://theelders.org/
   DIR [5] /Weltklimakonferenz-in-Brasilien/!6105598
   DIR [6] https://ophi.org.uk/global-mpi
   DIR [7] /Klima-Vierjahresprognose-der-UN/!6090827
   DIR [8] /Gutachten-zu-Klimafolgen/!6099701
   DIR [9] https://www.planetaryguardians.org/
       
       ## AUTOREN
       
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