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       # taz.de -- „Der Absturz“ von Édouard Louis: Teuer bezahlt
       
       > Édouard Louis hat mit seinem Werk unser Denken auf links gedreht. Warum
       > er trotzdem länger brauchte für seine persönliche Gretchenfrage.
       
   IMG Bild: Als Ausnahme war der soziale Aufstieg für Édouard Louis möglich – aber nur zu hohen Kosten
       
       „Nie wieder werde ich das Wort Familie schreiben“: So kündigte Édouard
       Louis das Ende von dem an, was ihn berühmt gemacht hat. Ein letztes Mal, so
       schrieb er auf Instagram, könne man von seiner Familie in dem eben
       erschienenen Roman „Der Absturz“ lesen. Damit enden zehn Jahre
       Weltliteraturgeschichte.
       
       Frühjahr 2015: Deutschland ist amtierender Weltmeister und ein griechischer
       Finanzminister zeigt der Bundesrepublik den Mittelfinger. Mit anderen
       Worten: Die Welt war noch in Ordnung, als Édouard Louis’ Debüt „Das Ende
       von Eddy“ auf Deutsch erschien. Ein junger homosexueller Mann berichtet
       dort von einer alkohol- und gewaltgetränkten Kindheit in einer
       Arbeiterfamilie in der nordfranzösischen Provinz. Er flieht schließlich vor
       deren Homophobie.
       
       Die Kritik war begeistert, vor allem aber überrascht ob dieser
       schrecklichen Kindheit, die zudem auch noch auf wahren Begebenheiten
       beruhen soll – es handelt sich um des Autors eigene Geschichte. Es fiel
       schwer zu glauben, dass im 21. Jahrhundert mitten in Frankreich ein solches
       Elend herrscht: Während sich die Rücken der arbeitenden Väter vor Schmerzen
       biegen, verfaulen die Zähne im Mund ihrer Kinder. Louis schrieb zwar über
       sich selbst, porträtierte dabei aber die Lebensrealität einer ganzen
       Klasse.
       
       „Klasse?“, rieb man sich im Jahr 2015 verdutzt die Augen. Dieses Wort war
       nur noch eingefleischten Lesern des „Kapitals“ ein Begriff. In einer
       Gesellschaft, die religiös an sozialen Aufstieg glaubte, ergab ein Konzept
       aus dem 19. Jahrhundert keinen Sinn mehr. Dank Louis fand dieses Wort
       wieder Eingang in den Sprachgebrauch – seine Romane zeigten, dass im Zuge
       von Deindustrialisierung und Sozialstaatsabbau Arbeiter zunehmend Gefangene
       ihrer Klasse wurden.
       
       ## Aufstiegsversprechen gebrochen
       
       Rückblickend lesen sich diese Schilderungen einer abgehängten
       Arbeiterklasse wie eine Erklärung für alles, was kurze Zeit später folgen
       sollte: Brexit, Trump und die AfD. Die liberale Gesellschaft hatte
       einseitig ihr Aufstiegs- und Fortschrittsversprechen gebrochen, im Gegenzug
       kündigten die Zurückgelassenen mit ihrem Wahlverhalten die Zugehörigkeit zu
       demokratischen Werten auf.
       
       „Das Ende von Eddy“ läutete ein Jahrzehnt ein, in dem das Nachdenken über
       soziale Strukturmerkmale – Klasse, Geschlecht, ethnische Herkunft und
       sexuelle Identität – zentral war. Louis war Wegbereiter meisterhafter
       Romane wie [1][Ocean Vuongs „Auf Erden sind wir kurz grandios“] und
       [2][Douglas Stuarts „Shuggie Bain“.] 
       
       Erfunden hat das Genre der autofiktionalen Herkunftserzählung zwar Annie
       Ernaux in den 1980er-Jahren, aber ihre Wiederentdeckung für den deutschen
       Markt begann erst 2017 – Louis hat die Rezeption seiner eigenen
       Lehrmeisterin mitermöglicht.
       
       Bis dato war mit der Form der Autofiktion vor allem [3][der Norweger Karl
       Ove Knausgård] in Erscheinung getreten, der in seiner Selbstbeschreibung
       die Leiden des modernen Mannes ausbreitete. Louis politisierte die
       Autofiktion hingegen – auf seine eigene subtile Art. Sein Programm:
       Nüchterner Realismus, mit dem er jede einzelne herabwürdigende Erfahrung
       seiner Kindheit anfasste. Form und Inhalt griffen radikal ineinander: Seine
       kurzen Sätze entbehren sprachlicher Schönheit und spiegeln so die karge
       soziale Realität wider. Im Schreiben erkämpfte Louis sich eine
       Handlungsmacht, die ihn bis in die höchsten Pariser Kreise trug.
       
       ## Opfer ihrer Verhältnisse
       
       Damit war aber auch eine Herausforderung verbunden, die nach dem Debüt zum
       zentralen Widerspruch in Louis’ Werk werden sollte. Wie kann das, was er
       schreibt – Prekarität und Aussichtslosigkeit –, stimmen, wenn er selbst den
       Aufstieg geschafft hat? Um Zweifel an der Situation der Arbeiterklasse zu
       zerstreuen, schrieb er drei weitere Bücher über seine Familie.
       
       Vater und Mutter spricht er dort jegliche Form von Handlungsmacht ab – sie
       sind eindimensionale Opfer ihrer Verhältnisse. Damit entzieht er seinen
       Figuren – und damit der Arbeiterklasse insgesamt – die Verantwortung für
       ihr eigenes Handeln, etwa für rechtsradikales Wahlverhalten.
       
       Ein populistisches Moment in seinem Schreiben, das auch als Reaktion auf
       das Zeitgeschehen zu verstehen ist. Als 2019 „Wer hat meinen Vater
       umgebracht“ erschien, begehrten die Gilets Jaunes gegen die Pariser Elite
       auf und Marine Le Pen stand an der Schwelle zum Élysée. Der omnipräsente
       Erfolg des Rechtspopulismus und die Abkehr der Arbeiterklasse von linken
       Parteien in der westlichen Hemisphäre ließen Linke und Progressive ratlos
       zurück.
       
       Aufklärerische Ansätze scheiterten, prallten machtlos an Fake News und
       Hetze ab, also flüchtete man sich in diesen linken Populismus: „Es ist der
       Kapitalismus, die Elite, die Klassengesellschaft – und nicht die
       Ausländer“, rief man den eigenen Leuten zu. Obwohl diese Analyse stimmen
       mag, ist sie politisch bis heute leider wirkungslos geblieben – literarisch
       auch. Louis’ politischer Rechtfertigungsdrang stand seiner Literatur im
       Weg, es kostete sie zwischenzeitlich ihre soziologische Brillanz.
       
       ## Applaus vom bürgerlichen Theaterpublikum
       
       Der deutschen Rezeption ist diese programmatische Delle in der Mitte seines
       Werkes hingegen verborgen geblieben. Glücklich darüber, [4][wieder einen
       französischen Intellektuellen anbeten zu können,] erstarrte man in
       Bewunderung. Abzulesen etwa an einer Inszenierung von „Wer hat meinen Vater
       umgebracht“ an der Berliner Schaubühne, in der Louis sich in einem
       Einpersonenstück trotz mangelnder schauspielerischer Fähigkeiten selbst
       spielen durfte und begeistert vom bürgerlichen Theaterpublikum für seinen
       Vulgärmarxismus beklatscht wurde.
       
       Mit der 2022 erschienenen [5][„Anleitung, ein anderer zu werden“] befreite
       er sich dankenswerterweise aus dieser Verklärung. Endlich stellte er sich
       der Frage seiner Handlungsmacht. Man erfährt, was nach der Flucht aus dem
       Kaff seiner Eltern folgte: Über die nächstgrößere Stadt Amiens landete
       Louis schließlich in Paris, wo er zwar an der Eliteuniversität ENS
       studierte, aber sich gleichzeitig von Sugardaddys aushalten ließ, um sich
       der Marker seiner Herkunft zu entledigen: Mit chirurgischen Eingriffen
       korrigiert er die Deformationen seiner Zähne und formte sich buchstäblich
       zu einem neuen Menschen.
       
       Er widersteht dem Bedürfnis, seiner eigenen Person Recht zu verschaffen,
       und legt offen, wie er eine Freundin aus gutem Haus für seinen Aufstieg
       nutzt, um sie schließlich fallen zu lassen. In dieser Getriebenheit wirkt
       er wunderbar unsympathisch und liefert damit die Antwort auf seinen
       sozialen Aufstieg: Prekäre Klassenverhältnisse und individuelle
       Handlungsmacht müssen sich nicht ausschließen. Als Ausnahme war der soziale
       Aufstieg für Louis möglich – aber nur zu sehr hohen Kosten.
       
       Diese Kosten stehen auch im Mittelpunkt des gelungenen Abschlusses seines
       sagenhaften Jahrzehnts, das er mit der Entfremdung von seiner Familie
       bezahlte. In „Der Absturz“ probt Louis die Wiederannäherung an selbige.
       Schon mit dem ersten Satz setzt er den Ton für dieses schwierige
       Unterfangen: „Als ich vom Tod meines Bruders erfuhr, fühlte ich nichts.“ Am
       Ende steuert der Bestsellerautor nur 500 Euro zu den Kosten der Beerdigung
       des Bruders bei, die das Budget seiner Familie um einen vierstelligen
       Betrag übersteigt. Man verzeiht ihm seinen Geiz – der Dienst, den er der
       Weltliteratur geleistet hat, ist ohnehin unbezahlbar.
       
       2 Nov 2025
       
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