# taz.de -- ICE-Abschiebungen in New York: Wie eine Jagd
> In den USA nehmen Beamte der Grenzschutzbehörde Menschen wahllos fest –
> auch ohne Urteil. Wer eine Vorladung bekommt, weiß nicht, was geschehen
> wird.
Ein Gerichtssaal in Manhattan, New York City. Auf der Besucherbank
langweilt sich ein kleines Mädchen, es pappt dem Mann neben sich einen
Oktopus-Aufkleber ins Gesicht. An einem kleinen Tisch vor der Richterbank
sitzen nervös die Eltern des Kindes. Die Richterin fragt die beiden:
„Wollen Sie freiwillig in Ihr Land zurückkehren?“ Es folgt eine kurze
Pause. Dann schütteln die Eltern den Kopf.
Draußen neben der Tür lehnen zwei ICE-Agenten an der Wand – Sturmhauben,
Sonnenbrillen, an ihren Hüften Pistolen – und scrollen auf ihren Handys.
Seit Januar, seit dem zweiten Amtsantritt von Trump, dürfen [1][Beamte der
US-Einwanderungs- und Zollbehörde] Menschen in Gerichtsgebäuden festnehmen,
um sie abzuschieben. Auch ohne gefallenes Urteil.
Das 26 Federal Plaza im Süden Manhattans wirkt mit seinen 42 Stockwerken
wie jedes andere Hochhaus in New York, jeden Morgen eilen Tausende Menschen
daran vorbei zur Arbeit. Gegenüber: Cafés, ein Brautmodengeschäft, ein
Mittagsimbiss.
Nur an bestimmten Tagen, wie in dieser Woche im Oktober, zeigt sich kurz,
dass an diesem Hochhaus etwas anders ist. Wenn ein Mann auf dem Gehweg zur
U-Bahn immer wieder schreit: „Dort drinnen verschwinden Menschen.“ Oder
wenn weiß gekleidete Demonstranten – Mitglieder einer Organisation, die
sich für die Rechte von Migranten einsetzt – das Gebäude in einer
schweigenden Prozession umrunden. Solche Aktionen weisen darauf hin, dass
im 26 Federal Plaza nicht nur die Einwanderungsbehörde ICE untergebracht
ist, sondern auch die zentrale Sicherheitsbehörde FBI und kleine
Verhandlungssäle des Einwanderungsgerichts.
## Ohne Vorwarnung
Doch es ist schwer, die Aufmerksamkeit der New Yorker zu gewinnen. An den
Protestierenden vorbei steigen Passanten hinab in die U-Bahn, zum nächsten
Termin oder nach Hause. Es herrscht vermeintlich Alltag. Dabei ist in New
York, genauso wie im Rest des Landes, seit einiger Zeit nichts mehr
alltäglich. An keinem Ort werden so viele Menschen ohne Papiere
festgenommen wie hier. Oft auch in den Einwanderungsgerichten – das sind
Verwaltungsgerichte innerhalb des US-Justizministeriums, an denen über
mögliche Abschiebungen entschieden wird. Die Richter sind Mitarbeiter des
Justizministeriums, Teil der Exekutive also und nicht der unabhängigen
Judikative. Wenn ihre Anerkennungsquote zu hoch ist, können sie entlassen
werden. Die Urteile scheinen aber ohnehin nur noch wenig Einfluss darauf zu
haben, wer von den ICE-Beamten festgenommen wird.
Oft ohne Vorwarnung greift ICE sich Menschen in den fensterlosen Gängen des
Einwanderungsgerichts, in denen sich das Neonlicht auf dem Steinboden
spiegelt. Gerade standen sie noch vor einem Richter oder einer Richterin,
die ihre nächste Anhörung auf ein Jahr oder drei Jahre verlegte, dann folgt
ein Handgriff und die Menschen verschwinden in den 10. Stock des Gebäudes,
von wo aus sie in Haftzentren im ganzen Land verteilt werden. Bis Juli
geschah das in New York Medienberichten zufolge mit rund 460 Menschen –
mehr als in jedem anderen Bundesstaat.
Schlagzeilen allein aus der letzten Septemberwoche:
26. September, CNN: „ICE-Beamter, der eine Mutter in einem
Einwanderungsgericht zu Boden gestoßen hat, wird laut Behörde ‚von seinen
derzeitigen Aufgaben entbunden‘.“
29. September, CBS News: „ICE-Beamter, der dabei gefilmt wurde, wie er eine
Frau zu Boden stößt, hat seinen Dienst wieder aufgenommen.“
30. September, New York Times: „Journalist bei chaotischer Szene im New
Yorker Einwanderungsgericht verletzt.“
Wer mehrere Tage im Hochhaus 26 Federal Plaza verbringt, erlebt einen
ständigen Wechsel von Warten, Anspannung, Panik und Ohnmacht. Die meiste
Zeit hört man, wie die Tastatur des Richtersekretärs klackert und dabei die
Daten für den nächsten Gerichtstermin festgehalten werden. Oder man hört
das Rutschen von Kinderfüßen auf den Holzbänken vor der Richterbank.
Doch dann, ganz plötzlich, kippt die Ruhe. Etwa, wenn die ICE-Agenten eine
Frau zu Boden werfen, die ihren Mann festhält, als sie ihn vor der Tür des
Gerichtssaals festnehmen wollen. Gerade hatte die Richterin den nächsten
Gerichtstermin für ihn in einem halben Jahr festgesetzt. Es ist einer
dieser Orte, an dem eine Handbewegung reicht, um alle Menschen, die in
diesen Gängen herumstehen, in sich zusammenfallen zu lassen.
Die Künstlerin Isabelle Brourman hält solche Momente seit Monaten in ihren
Zeichnungen fest. An einem Dienstag Anfang Oktober steht Brourman hinter
einer Gruppe von Fotografen im 14. Stockwerk. Sie trägt einen lila
Jeansanzug, ihr großes Klemmbrett hält sie auf den Hüften abgestützt. An
den schmucklosen Wänden der Gänge, die zu den Gerichtsräumen führen, sind
neben den Türen auch die Namen der Menschen angeschlagen, die an diesem Tag
zum Gericht erscheinen sollen. An diesem Vormittag haben die ICE-Agenten
das erste Mal den Weg zu einem der Gerichtssäle versperrt, in dem gerade
eine Familie auf ihr Urteil wartet.
Wohl damit die Presse nicht sehen kann, was im Wartezimmer davor passiert.
„Ist das jetzt eine neue Taktik, damit wir die Festnahmen nicht sehen?“,
fragt einer der Fotojournalisten. Keiner der Agenten reagiert auf den
Protest der Journalisten. Die Künstlerin Brourman zeichnet die Sturmhaube
eines der Agenten, wechselt die Farben von lila zu schwarz.
Auf einmal geht die Tür des Wartezimmers auf, die Fotografen heben ihre
Kameras über die Köpfe der ICE-Agenten, in der Hoffnung, trotz der Sperre
dokumentieren zu können, was gleich passiert. Zwei Agenten greifen einen
Mann am Arm, führen ihn ab – weg von Brourman und der Presse. Aus dem Saal
kommt leises Schluchzen. Die Tür geht zu, dann wieder auf. Kurze Zeit
später tritt eine Frau mit ihren beiden Kindern tränenüberströmt auf den
Gang. Die Agenten geben den Weg frei. Sie bahnt sich einen Weg durch die
Fotografen und bittet, dass keine Fotos gemacht werden. Brourman folgt ihr
und zeichnet und zeichnet. Ihre Filzstifte folgen der hektischen Bewegung
der kleinen Familie, die sich, ihre Gesichter abgeschirmt vor der
Öffentlichkeit, in den Aufzug schiebt.
Die Künstlerin war schon bei Donald Trumps Schweigegeldprozess dabei. Ihre
Arbeit im Einwanderungsgericht, sagt Brourman, fühle sich an, als würde sie
weiterhin an einem Porträt von Donald Trump arbeiten.
## Eine Strategie der Angst
Die USA verfügen schon länger über das weltweit größte System zur
Inhaftierung von eingewanderten Menschen. Seit dem 20. Januar aber, teilte
das Heimatschutzministerium kürzlich mit, wären rund zwei Millionen
Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus entweder aus den USA abgeschoben
worden oder hätten das Land freiwillig verlassen.
Es ist eine der größten Abschiebekampagnen der vergangenen Jahrzehnte. Seit
Wochen gehen die Bilder und Videos von maskierten und bewaffneten
ICE-Agenten im ganzen Land durch die Medien, die Menschen auf dem Weg zur
Kirche in Chelsea, Massachusetts, aus dem Auto ziehen und bäuchlings auf
der Straße liegend festnehmen; die mit einem Helikopter über ein
Appartement in Chicago fliegen und mitten in der Nacht 37 Menschen
mitnehmen und Kinder von ihren Eltern trennen; die Autofenster einschlagen
und verängstigte Fahrer vor ihren Kindern aus dem Auto zerren.
Es ist eine Strategie der Angst, die Tom Homan, der designierte
US-Grenzschutzbeauftragte, schon vor Langem als „Shock and Awe“ bezeichnete
– Schrecken und Ehrfurcht. Der Ausdruck wurde 2003 im Irakkrieg als
Militärstrategie bekannt. Damals meinte er schnelle, intensive Luftangriffe
gegen die Hauptstadt Bagdad.
Nicht nur im Gerichtsgebäude, auch in den Nachbarschaften selbst soll sich
die Angst ausbreiten. An einem spätsommerlichen Oktoberabend in der
südlichen Bronx drängen sich Schulkinder neben Bauarbeitern und
Geschäftsfrauen die U-Bahn-Treppe hinauf. Der Geruch von frittierten
Teigtaschen weht über die Straße. Es ist voll, Rushhour nach der Arbeit.
Kaum zu glauben, dass, wie Marco Castillo sagt, viele Menschen seit Wochen
nicht mehr draußen gewesen seien. Aus Angst, danach nicht mehr wieder zu
kommen. Castillo schließt die Tür zum Gebäude seiner Organisation auf,
darauf steht: „I. C. E. Off My Property. Get a Warrant.“
Am 4. November sind in New York Bürgermeisterwahlen. Der Trump-Kontrahent
[2][Zohran Mamdani] hat versprochen, im Falle seines Wahlsiegs die
Zusammenarbeit mit ICE zu stoppen. Wenn er denn gewinnt. „Wenn hier die
Nationalgarde einläuft, wie in Washington, dann erleben wir eine zweite
Pandemie,“ sagt Castillo. „Dann bleiben hier in der Bronx alle Geschäfte zu
und die Menschen verstecken sich noch mehr in ihren Wohnungen.“ In der
Bronx leben laut dem Migration Policy Institute 115.000 Menschen ohne
Papiere, die meisten aus Mexiko, Zentralamerika und der Karibik. Viele
haben schon Enkelkinder hier und sind als Jugendliche gekommen.
## Das System ist blockiert
Seit Jahrzehnten ist das US-Einwanderungssystem politisch blockiert. Bis
heute gibt es laut dem American Immigration Council keine klare Lösung für
rund 14 Millionen Menschen, die zum Teil seit Jahrzehnten im Land leben und
arbeiten, aber kaum eine Möglichkeit haben, ihren Status zu legalisieren.
Doch während politisch lautstark von Grenzschließungen und
Migrationskontrolle die Rede ist, wird die Realität auf der anderen Seite
stillschweigend hingenommen: Die US-Wirtschaft ist auf günstige
Arbeitskräfte in Gastronomie, Hotellerie und Landwirtschaft angewiesen –
eine Schattenwirtschaft, auf der die Wirtschaft der USA aufbaut. Menschen
ohne Papiere arbeiten unter Bedingungen, die sie rechtlich kaum absichern,
zahlen dennoch Steuern und Sozialabgaben, ohne dabei jedoch Rechte von
US-Bürgern in Anspruch nehmen zu können.
Bis heute stecken viele von ihnen in Asylverfahren fest, die nicht
bearbeitet werden. Manche Menschen warten fünf bis zehn Jahre auf eine
Anhörung. Der Rückstau unbearbeiteter Einwanderungsfälle ist in den
vergangenen zehn Jahren um 64 Prozent gestiegen.
Viele der Menschen, die jetzt eine Anhörung haben, erscheinen heute nicht
mehr vor Gericht, aus Angst, auf einer Art Liste der Einwanderungsbehörde
zu stehen, die sie – trotz anderer Entscheidungen der Richter – abschieben
kann. Doch nicht nur in den Gerichtsgebäuden, auch in den Nachbarschaften,
vor Schulen, in Restaurants, kommen immer wieder Agenten vorbei, [3][die
Menschen festnehmen]. Castillos Organisation hilft den Menschen dabei, in
einem solchen Moment informiert reagieren zu können.
Castillo stellt einen Stuhl zurecht und legt im Sitzen eine rote, kleine
Karte auf den Tisch. „Das hier können Menschen vorzeigen, wenn ICE bei
ihnen vor der Tür steht.“ Auf der kleinen Karte stehen Verweise zur
Amerikanischen Verfassung, die es Agenten beispielsweise nur mit
Durchsuchungsbefehl erlaubt, ein Haus zu durchsuchen. „Die Menschen müssen
wissen, welche Rechte sie haben.“ Das sei ein erster Schritt. Er dreht sein
blinkendes Telefon um. Seit Wochen steht es kaum still. Viele Menschen aus
der Community in der Bronx sind verunsichert, wissen nicht, ob sie noch zur
Arbeit gehen, ihre Kinder zur Schule schicken können, und suchen Rat,
erzählt Castillo. Immer wieder versuchen aktivistische Gruppen auch,
[4][Menschen zu informieren, wenn ICE-Gruppen in der Nähe sind].
Etwa eine Zugstunde von der Bronx entfernt, auf Long Island, nimmt Yanira
Lopez-Chacon spät am Abend ihr Telefon ab. „Wir sind alle am Limit“, sagt
Lopez-Chacon. „Menschen gehen zur Einwanderungsbehörde und wissen nicht, ob
sie zurückkommen.“ In ihrer Nachbarschaft sind schon Agenten aufgetaucht,
die Menschen festnehmen. Immer wieder war sie mit dabei, als Familien
voneinander getrennt wurden, erzählt sie. In vielen Fällen bricht danach
für die Familien ihre Existenz zusammen. „Wir brauchen Stand-by-Betreuer,
falls Eltern von einem Tag auf den anderen nicht mehr da sind.“
## „Helfen Sie mir!“
Seit zwanzig Jahren arbeitet Lopez-Chacon auf Long Island, unterstützt
Einwanderer aus Honduras, El Salvador, Venezuela und Mexiko. In ihrer
katholischen Kirchengemeinde ist sie eine feste Anlaufstelle: Seelsorgerin,
Übersetzerin, manchmal auch letzte Hoffnung, um am Abend etwas in der
Mikrowelle aufwärmen zu können. Viele sind seit Monaten nicht mehr aus dem
Haus gegangen – aus Angst, von ICE-Agenten auf der Straße mitgenommen zu
werden, erzählt Lopez-Chacon am Telefon.
„Früher haben wir nur kranken Menschen Essen vorbeigebracht. Heute
verteilen wir es, weil alle Angst haben, vor die Tür zu gehen.“ Dabei haben
einige Familien keinen Zugang zu einer Küche, sagt Lopez-Chacon, denn die
Wohnungskrise rund um Long Island wird immer schlimmer. Manche haben nur
einen kleinen Kühlschrank vor der Tür und keinen Zugang zu einem Herd.
Eine Frau mit drei Kindern, deren Mann von ICE mitgenommen wurde, entschied
sich, wieder zurückzugehen, erzählt Lopez-Chacon. „Die Menschen müssen
heute Entscheidungen treffen, von denen sie nie dachten, dass sie sie
einmal treffen müssten“, sagt sie. Für viele allerdings sei es schlichtweg
nicht möglich, zurückzukehren, aus Angst vor Verfolgung etwa.
An einem Donnerstag Anfang Oktober kommt eine Frau im 14. Stockwerk aus
einem Gerichtssaal am 26 Federal Plaza. Ihr nächster Anhörungstermin wurde
auf ein Jahr später festgelegt. Kurz nachdem sie das Kind in den
Kinderwagen gelegt hat, geht alles sehr schnell. Eine maskierte Agentin
tritt zwischen das Paar, während ein zweiter Agent die Frau gegen die Wand
des Flurs drängt und sie vom Kinderwagen und ihrem Ehemann trennt. Immer
wieder ruft die Frau panisch: „Helfen Sie mir!“
Um sie herum beugen sich Fotografen, um zwischen den Armen der Agenten ein
Foto zu machen. Die Männer führen die Frau an der Wand entlang den Gang
hinunter. „Lassen Sie sich verabschieden!“, ruft jemand aus der Gruppe.
Doch da ist sie bereits aus dem Sichtfeld der Öffentlichkeit verschwunden.
1 Nov 2025
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