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       # taz.de -- Dankesrede zum Ovid-Preis 2025: Die Götter, die Stasi und das Prinzip Willkür
       
       > Der Schriftsteller Marko Martin lernte durch Zeugen Jehovas in der DDR,
       > dass es eine bunte Welt gibt. Die taz dokumentiert seine Rede zum
       > Ovid-Preis.
       
   IMG Bild: Lust und Leiden: das Gemälde „Göttermahl“ von H. van Balen
       
       Meine Damen und Herren, liebe Freunde und Freundinnen,
       
       woher kam es wohl, dass der Junge von einst Gustav Schwabs „[1][Die
       schönsten Sagen des klassischen Altertums“] – wie vermutlich auch bei
       vielen von Ihnen eine Art Erstbegegnung mit Ovids Welt – zuerst mit
       Faszination und dann durchaus mit Schrecken las? Was für ein Gewimmel an
       Gestalten, Menschen und Göttern und Dazwischen-Wesen und wie
       undurchschaubar die abrupt wechselnden Verhältnisse zwischen ihnen!
       
       Das schlug und webte und lockte und schrie und klagte und gebar und starb
       und kopulierte (Letzteres freilich eher züchtig umschrieben in jenen
       jugendfreien Versionen), dass es eben nicht nur eine Lese-Freude war,
       sondern alsbald, von Geschichte zu Geschichte, auch diese Fragen
       provozierte: Und wo blieb das Mitleid, wo der Schutz der Schwächeren, wo
       die Möglichkeit, sich all diesen Verwandlungen/Metamorphosen zu entziehen,
       die da nach den arbiträren Launen der Götter und Göttinnen pausenlos
       verfügt wurden?
       
       Gut, man könnte sagen: Der junge Leser war eben noch nicht reif für die
       Akzeptanz jener Ambivalenz, die sich jedes Mal offenbarte, wenn der
       Göttervater kindisch wurde, die Göttin der Weisheit von kleinlicher
       Rachsucht getrieben war und selbst die mit Musik und Liebe assoziierten
       himmlischen Wesen zu Furien wurden.
       
       Allerdings – und ich hoffe, dabei der überklugen Überinterpretation zu
       entgehen, beim Blick zurück auf jenen damaligen Leser – war es nicht
       irgendeine Enttäuschung über die Taten und Untaten von Zeus, Pallas Athene
       oder Hermes, welche die stärkste Empfindung provozierte. Eher die bange,
       freilich noch kaum in Worte zu fassende Entdeckung, dass all dies ja nicht
       vor Willkür zu schützen vermochte: weder heilige Haine und Tempel noch
       bukolische Landschaften, Anstand, Witz und Beliebtheit ebenso so wenig wie
       Klugheit oder Ruhm.
       
       ## Tschilpende Vögelchen
       
       Da es doch keinerlei Zwischenschaltungen, Instanzen oder
       Einspruchsmöglichkeiten gab gegen die unvorhersehbaren Götterlaunen, die
       als Belohnung oder Strafe, als Verhängnis und nicht zu hinterfragendes
       Schicksal herabsausten auf die Sterblichen – im Grunde steinern auch dann,
       wenn sie fallweise einmal gnädig zurückgenommen wurden und es den Mächtigen
       gefiel, die Ohnmächtigen stattdessen in tschilpende Vögelchen zu
       verwandeln.
       
       Eine reichlich überzogene, sauertöpfische, ja fast schon paranoide
       Betrachtungsweise? Nicht für einen, der schon als kleiner Junge wusste,
       dass der Polizist, der örtliche „Abschnittsbevollmächtigte“, der doch auf
       der Straße immer so unverfälscht freundlich grüßte, nur ein paar Jahre
       zuvor den Vater abgeholt hatte. Mit Handschellen und zu verfrachten in ein
       unscheinbar-unauffälliges Auto, das dann vom geruhsamen Kleinstädtchen
       Limbach-Oberfrohna in die nahegelegene Bezirksstadt Karl-Marx-Stadt fuhr,
       in das U-Haft-Gebäude auf dem Kaßberg.
       
       Und das, obwohl man doch im Familienhaus an der sanft abschüssigen,
       kopfsteingepflasterten und mit alten Bäumen bestandenen Reinholdstraße,
       bewohnt von den Urgroß-, Großeltern und Eltern, alles dafür tat, dass der
       Junge behütet aufwuchs und auch so wenig wie möglich mitbekam von den
       unregelmäßigen Besuchen der sogenannten „zuständigen Organe“ alias
       [2][Stasi].
       
       ## Natürlich Westradio
       
       Dazu gab es in der weiträumigen Polsterei-Werkstatt hinter dem Garten, in
       dem sein Vater und der Großvater samt einem „Geselle“ genannten Arbeiter
       einvernehmlich werkelten, geradezu verwunschene Nischen, in denen sich
       Versteck spielen ließ: der alte dämmrige „Zupfraum“ etwa mit der längst
       obsolet gewordenen gusseisernen Maschine zum Zerhäckseln von Füllmaterial
       oder die Hohlräume zwischen den Stoffballen und den Schaumgummimatten.
       
       Lag man dort in wohligem Schauer, waren die Töne in der Werkstatt, die
       Geräusche von Schere, Hammer und Kreissäge, die Gespräche der Erwachsenen
       ebenso gedämpft zu hören wie die Stimme des Nachrichtensprechers im Radio.
       Natürlich „Westradio“, entweder Bayern 3 oder Rias Berlin. Und die Stimme
       dort sprach von einem Entführten namens [3][Aldo Moro], dessen Spur sich
       verloren habe, dessen Verbleib unbekannt sei, dessen Leiche schließlich
       gefunden wurde in einer Straße in der schönen großen Stadt Rom. Und nicht
       einmal dort, im sonnigen Süden des vorerst unerreichbaren Westens, schien
       es Sicherheit zu geben und Schutz.
       
       Jene Stadt Rom, über die der Junge, aufwachsend in einer Familie von
       [4][Zeugen Jehovas], doch während des Bibelstudiums in der zweimal
       wöchentlich in wechselnden Wohnzimmern stattfindenden „Versammlung“ schon
       Folgendes erfahren hatte: [5][Der Apostel Paulus] hatte einst dort gewirkt,
       war von den Autoritäten festgesetzt worden, behielt als römischer Bürger
       jedoch gewisse Rechte.
       
       Die Illustrationen in der in den Osten hineingeschmuggelten
       Zeugen-Zeitschrift Wachturm zeigten einen attraktiven Bärtigen in weißer
       Toga, der trotz Handschellen keineswegs verzweifelt wirkte und in einem
       antiken Großbürgerhaus – im Säulen-Hintergrund Pinien und Hügel – einem
       Schreiber etwas diktierte, womöglich ja eine Verteidigungsschrift.
       
       Was ebenfalls in Erinnerung bleibt: diese Verwunderung der
       Versammlungsteilnehmer, vor allem des Vaters und der Älteren, die
       „Mitbrüder“ genannt wurden, nahezu ein jeder von ihnen mit Hafterfahrung
       wegen Kriegsdienstverweigerung, unter Honecker, unter Ulbricht. Römischer
       Bürger, verbriefte Rechte!
       
       Die Erinnerung aber macht jetzt einen winzigen Sprung innerhalb der
       Kleinstadt – von der Reinholdstraße in ein Haus nahe der Kreuzung Straße
       des Friedens/Pestalozzistraße, etwas oberhalb des damals berühmten, da noch
       privat betriebenen Café Dittrich mit seinen leckeren Brötchen, Hörnchen und
       Törtchen. Dort lebte ein inzwischen hochbetagter „Mitbruder“, von dem jeder
       wusste, dass er das KZ Buchenwald überlebt hatte.
       
       Dass er Anfang der fünfziger Jahre wegen der gleichen
       Gewissensentscheidung, den Armeedienst zu verweigern, erneut verhaftet
       worden war. Dass er dabei lediglich um die Gnade gebeten hatte, sich kurz
       umziehen zu dürfen – und dass er danach auf die Straße trat, in der alten,
       von ihm bis dahin aufbewahrten KZ-Häftlingskleidung, jene mit dem auf den
       gestreiften Drillich aufgenähten lila Winkel der Zeugen Jehovas.
       
       Und das Kind, der Junge von damals? Träumte sich ja bereits in jenen Jahren
       weg, weit weg. Und nicht etwa in die schöne „Neue Welt“, deren Nahen die
       Zeitschrift der Sekte, die sich selbst als „die Organisation“ bezeichnete,
       verkündete – und zwar seit ihrer Gründung 1879 durch einen überreizten
       amerikanischen Ex-Pastor. Zuvor aber sollte das Strafgericht von Harmagedon
       die sündige „alte Welt“ auslöschen.
       
       Wobei es dem Jungen und – vorerst noch eine vage Vermutung, die sich erst
       ein paar Jahre später bestätigen wird – vielleicht ja sogar dessen Eltern
       eigentlich doch vollauf genügen würde, dass es keine Häuser mehr gab, die
       Unschuldigen ihren Schutz verweigerten und jene Städte und Straßen
       verschwanden, in denen keinerlei wache Öffentlichkeit existierte, auf deren
       Beistand Verlass gewesen wäre.
       
       ## Klandestine Zeugen
       
       Wenn also der Junge während der Versammlungen in der kompakten,
       ledergebundenen Dünndruckausgabe der „Neue Welt-Bibelübersetzung“
       blätterte, die zuerst in Wiesbaden und späterhin in Selters im Taunus
       gedruckt und ebenfalls klandestin in den Osten gebracht wurde, direkt
       hierher auf diesen sächsischen Wohnzimmertisch, dann erwies sich beim
       Blättern zweierlei als nahezu magisch. Da war nämlich die in bunten
       Atlasfarben gezeichnete Karte auf den letzten beiden Seiten, die Orte wie
       Jerusalem und Damaskus, Paphos und Antiochia zeigte, Rhodos, Kos und Samos,
       Thessaloniki und Athen, Syrakus und Rom.
       
       Und dazu, quasi als konkrete Bestätigung, dass solche Städte nicht nur in
       biblischer Zeit und während der Missionsreisen des Paulus existierten, eine
       Seite zurück. Dort, ebenfalls auf Dünndruckpapier, das beim Berühren mit
       den Fingerkuppen ein leise zirpendes Geräusch machte, die Adresslisten der
       gegenwärtigen Orte, an denen die Zeugen Jehovas ihre Zweigbüros
       unterhielten.
       
       Was für Namen das Kind da lesen konnte! Brookylyn Heights/New York, Via
       della Bufalotta/Rom, Pensacola Street/Honolulu, Kent Road/Kowloon-Hongkong,
       Yun Ho Street/Taipei, Sukhumvit Road/Bangkok, Avenida 5, Guatemala-Stadt,
       Nahalat Binyamin/Tel Aviv, Rue du Point-du-Jour/ Boulougne-Billancourt.
       
       Und, ja – so viel stand fest –, alles würde er versuchen, um eines Tages an
       genau diesen Orten zu sein, um dort, und zwar jenseits der Sekte, Häuser
       und Menschen zu entdecken und sich in andere Biografien einwickeln zu
       lassen. Wobei, so frühreif war der Knabe dann schließlich doch nicht, die
       erotische Komponente, die aus all dem folgen würde, damals noch kaum
       imaginiert war.
       
       Fest stand damals aber vorerst nur: Der Junge sehnte sich mitnichten
       danach, später einmal die weltweit verstreuten Zweigstellen der Zeugen
       Jehovas zu besuchen. Da er jedoch unter der religiösen Rigidität auch nicht
       wirklich litt, sondern diese eher ignorierte, wurden ihm die antiken
       Lektüre-Orte der Mythen und Sagen auch keineswegs zur erträumten
       Alternative, musste er sie, anders als viele vor ihm, die geradezu
       traumatisiert waren von protestantischer Strenge und katholischen
       Obskurantismus, auch nicht forciert idealisieren als Hort eines
       vermeintlich beständig heiteren polytheistischen Treibens und Hallodris.
       
       Da der dortige Götter-Kosmos zwar von Gestalten bevölkert war, die weniger
       moralisierend wirkten als der Bibel-Gott Jehova, doch in ihren
       unvorhersehbaren Launen fast noch mehr Schrecken verbreiteten. Deshalb:
       Orte ohne das Gefühl, irgendwelchen „denen da oben“ schutzlos ausgeliefert
       zu sein, dorthin müsste man gelangen …
       
       ## Von Limbach-Oberfrohna nach Rochlitz
       
       Just solche Orte aber existierten selbst im beschaulichen
       Limbach-Oberfrohna nicht, und noch weniger gab es sie dann im Jahr 1988 in
       der sächsischen Kreisstadt Rochlitz, in welcher der zum jungen Erwachsenen
       und ebenfalls Kriegsdiensttotalverweigerer gewordene Junge vor den
       sogenannten „zuständigen Organen“ zu erscheinen hatte. Da gab es Angst und
       Zwang, doch immerhin war die Entscheidung, den DDR-Armeedienst zu
       verweigern, seine ureigene – ohne jeden Druck vonseiten der Eltern, die
       sich inzwischen ebenfalls längst aus der „Organisation“ zurückgezogen
       hatten.
       
       Blieb die Frage nach dem Verhältnis von innerer Freiheit und äußerer
       Macht-Ammaßung. Gewiss, Erstere erwies sich als reichlich robuste Hilfe –
       die Genossen der Abteilung Inneres und der Staatssicherheit, die da in
       ihren grauen Präsent-40-Anzügen und mit ihren klobigen, uringelb gerahmten
       Brillen Schicksalsgötter spielten und abwechselnd mahnten, drohten und
       brüllten, sie blieben im Auge des „Vorgeladenen“ ja ganz und gar
       lächerliche Männlein.
       
       Und dennoch. Wenn in diesen überheizten und nach Zigarettenrauch riechenden
       Räumen die Drohung fiel, nicht jede Tür hier führe wieder hinaus auf die
       Straße, dann verwandelte sich danach, obwohl ja – anscheinend und für
       dieses Mal – „alles noch gut ausgegangen“ war, auch eine solche Straße und
       erhielt eine veränderte Gestalt, ja Missgestalt; endgültig.
       
       Und Rom? Auch dort hatte ja selbst der Status als römischer Bürger Paulus
       nicht vor der Hinrichtung bewahrt; die gewährte „Gnade“ bestand allein
       daran, ihn nicht zu kreuzigen, sondern zu enthaupten. Und Ovid? Knapp sechs
       Jahrzehnte zuvor hatte ihn auf der Insel Elba die Entscheidung Kaiser
       Augustus' ereilt, dass er nicht in die Hauptstadt zurückkehren dürfe,
       sondern sich ins Zwangsexil ins abgelegene Tomi am Schwarzen Meer zu
       begeben habe. Immerhin: keine Exekution des aus bis heute ungeklärten
       Gründen plötzlich zur Unperson gewordenen Dichters.
       
       An anderen Orten zu jener Zeit wäre er gewiss sofort ums Leben gebracht
       worden. Wie auch zu anderen Zeiten in jenem Tomi, das, inzwischen unter dem
       Namen Constanta, im zwanzigsten Jahrhundert nachfolgend unter dem
       mörderischen Terror-Regiment der Antonescu-Faschisten, des
       Hardcore-Stalinisten Gheorghui-Dej sowie des nerohaft größenwahnsinnigen
       Conducator Ceaușescu stand.
       
       Und gewiss mehr als nur eine Fußnote, sondern, wie fragil und unruhig
       flackernd auch immer, Aufschein hellerer Möglichkeiten, dass sich Ovid
       später schriftlich beklagen konnte, dass seine Verbannung doch weder durch
       ein Gerichtsverfahren noch durch einen Senatsbeschluss eine rechtliche
       Grundlage erhalten hatte.
       
       Auf so eine Idee musste man erst einmal kommen, solch eine Idee musste erst
       einmal in die Welt gekommen sein. Eine Welt, aus der sie freilich immer
       wieder entschwindet – und zwar bis heute, denn natürlich werden sich die
       Opfer eines Putin und eines Xi auf keinerlei Verfassungsgesetzlichkeit
       berufen können, und selbst in den gegenwärtigen, den Trump'schen USA
       erfolgt auf derartige Ansinnen immer häufiger das höhnische So what der
       Macht.
       
       ## Via Michelangelo Caetani
       
       Der Junge von damals aber, um hiermit ein letztes Mal zu ihm
       zurückzukehren, hatte weder den Namen der römischen Straße vergessen, in
       welcher der Leichnam des ermordeten Aldo Moro schließlich aufgefunden wurde
       – Via Michelangelo Caetani –, noch jene, die Jahrtausende zuvor von
       anderen, die sich ebenfalls anheischig machten, Schicksal zu spielen, um
       ihre irdische Gestalt gebracht wurden.
       
       Dass einige von ihnen verwandelt wurden, um sie vor der Rache
       konkurrierender Götter zu schützen, unterlief dabei nicht etwa das Prinzip
       Willkür, sondern verstärkte es. Lycaon, von Jupiter in einen Wolf
       verwandelt, weil er dessen Göttlichkeit angezweifelt hatte. Minyastöchter
       zu Fledermäusen gemacht, da sie sich dem Bacchuskult verweigerten.
       
       Ocyroe als Strafe für ihre Prophezeiungen zu einer Stute transformiert,
       Callisto nach der Vergewaltigung durch Zeus von dessen Gattin Hera – die ja
       eigentlich als Göttin der Frauen fungierte – in eine Bärin verwandelt.
       Actaion, der die Göttin Diana/Artemis ungewollt beim Baden überraschte und
       sie nackt sah, von ebendieser zu einem Hirsch gemacht, den daraufhin seine
       eigenen Jagdhunde zerfleischen. Undsoweiterundsofort.
       
       Dass jedoch bereits das alte Griechenland nicht im Bann all dieser Mythen
       verharrt war, sondern Olymp, Hainen und Tempeln so etwas wie Polis und
       Agora entgegengestellt hatte, Sokrates' Insistieren auf der Notwendigkeit
       des Nachfragens, Rationalität und Skepsis, Institutionen und
       Machtbegrenzung, kurz: immens wichtige Grundelemente der Demokratie – so
       etwas konnte selbst das Geschichtslehrbuch in der DDR-Schule nicht gänzlich
       verschweigen.
       
       Und als ich dann – ein paar Jahre nach der Ausreise im Mai 1989 – in Paris
       ankam, öffnete mir André Glucksmann den Blick auf das Gegenwartsrelevante
       eines spätantiken Denkens, das lehrte, mit dem Schlimmsten immer zu
       rechnen. Nicht zufällig drehte sich dann bei unser letzten Begegnung im
       Sommer 2009 das Gespräch um jenes Buch, das Glucksmann noch vollenden
       konnte: Eine Gegenüberstellung des auf gedanklicher Klarheit und
       Flexibilität rekurrierenden Sokrates mit Martin Heidegger, dem wortreichen
       Rauner einer kruden „Eigentlichkeit“, dem völkischen Kult des Bodens und
       der „Wurzeln“.
       
       Bereits 1979 hatte mit "Le Testament de Dieu" Glucksmanns elf Jahre
       jüngerer Mitstreiter Bernard-Henri Lévy ein Buch geschrieben, das neben
       Athen auch Jerusalem in den Blick nahm als ersten Impulsgeber für den
       Menschheitskampf gegen Gewalt und Despotie.
       
       War der Gott, der sich von den Zehn Geboten quasi vertraglich fesseln ließ,
       der von Abraham vor der Zerstörung von Sodom und Gomorrha in eine Art
       Handel verstrickt wurde, der im letzten Moment der Opferung Isaaks Einhalt
       gebot, der von Hiob ob dessen grausamen Geschick just als der letztlich
       ungerechte Gott, der er war, anklagt wurde – konnte solch eine Götterfigur
       und die Gemeinschaft der an sie Glaubenden, fragte Bernard-Henri Lévy,
       nicht viel präziser in humane Pflicht genommen werden als der arbiträr
       handelnde und nur vermeintlich „heitere Götterolymp“ der Antike?
       
       War es deshalb nicht folgerichtig, und auch das wurde von ihm schon damals
       hellsichtig analysiert, dass sich eine Neue Rechte, hierbei in der
       Tradition der nazistischen Verächter eines sogenannten
       „Judäo-Christianismus“, ein militantes Neo-Heidentum auf die Fahnen
       geschrieben hatte, ein erneutes Gewusel von Herrschenden und Beherrschten,
       zusammengehalten von der Heiligsprechung eines „autochthon-authentischen
       Bodens“?
       
       Auch Franz Kafkas getreuer Freund Max Brod, einer der ganz frühen
       Mitglieder [6][unseres PEN-Zentrums], hatte über die fatale
       Anschlussfähigkeit eines solchen Heidentums für gegenwärtige
       Freiheitsfeindschaft geschrieben. „Alle hier und jetzt sich durchsetzenden
       Triebe und Kräfte werden heiliggesprochen: nur wird abwechselnd dem
       Machttrieb des Einzelnen oder dem kollektiven Machttrieb des Staates der
       Vorzug gegeben – einen prinzipiellen Unterschied begründet das nicht.
       
       Die Tugenden des Heidentums sind: kriegerischer Sinn, Aristokratismus,
       Gesundheit, Kraft, Wagemut, Überleben der Tüchtigsten, Herrenmoral. Seine
       Gemeinschaft ist auf Dienen und Gehorchen ausgerichtet, auf Heldentum und
       Gefolgschaft, auf 'Führerschaft' und 'Treue' der Untertanen.“
       
       Brod beschrieb dies als „pantheistischen Dusel“, misstraute jedoch auch dem
       Erbsünde-Denken eines Christentums, das entweder alles Heil ins
       Außerweltliche verlagerte oder sich in pathetischer „Brüderlichkeit“
       erging, die kaum je nach konkreten Machtstrukturen (und deren möglicher
       Einhegung) fragte.
       
       Sein Verständnis eines modernen Judentums und nicht zuletzt auch eines
       liberalen Zionismus war deshalb genau dieses: Wertschätzung der uns
       gegebenen Welt, Skrupel und Wehrhaftigkeit und statt dem Prinzip Schuld –
       oder lärmend selbsterklärter Schuldlosigkeit – der Versuch eines Lebens in
       Verantwortlichkeit und in einer Daseinsdankbarkeit, welche die Reflexion
       über ein „Danach“ ja keineswegs ausschließt.
       
       Max Brod hatte dies übrigens bereits 1921 veröffentlicht, mit gerade einmal
       37 Jahren und lange vor jenem Märztag 1939, als er und und seine Frau Elsa
       zusammen mit Felix Weltsch den letzten freien Flüchtlingszug erreichten,
       ehe Wehrmacht und SS in ihre Heimatstadt Prag einfielen.
       
       ## Ben-Yehuda-Straße 9
       
       Etwa sieben Jahrzehnte später entdeckte ich Max Brods zweibändiges
       "Heidentum, Christentum, Judentum. Ein Bekenntnisbuch", erschienen 1921 im
       [7][Kurt Wolff Verlag] München, ein wenig stockfleckig geworden, mit dem
       vertrauenserweckenden Geruch alten Papiers und dem fortdauernden Aroma der
       Freiheitsfreundschaft, in der legendären Buchhandlung Landsberger in Tel
       Aviv, Ben-Yehuda-Straße 9. Ganz in der Nähe, in einem noch heute fast
       idyllisch anmutenden Häuschen in der HaYarden-Straße 16, hatte Max Brod bis
       zu seinem Tod 1968 gelebt. Und seit nunmehr Jahrzehnten kein Strandgang,
       der mich nicht durch diese Straße führen würde in dieser längst zu einer
       Art Heimat gewordenen Stadt.
       
       Eine friedliche Wohnstatt, wie man sie auch dem exilierten Publius Ovidius
       Naso gewünscht hätte, dessen Tomi am Schwarzen Meer allerdings wohl nicht
       nur in [8][Christoph Ransmayrs genialem Roman "Die letzte Welt"] eine Art
       Nicht-Ort war am Rande des Imperiums, unwirtlich und bedroht von allerlei
       Formen der Barbarei.
       
       Viele Tel-Aviv-Sommer wohnte ich, ehe es zu einem teuren Boutique-Hotel
       samt üblichem sustainable-Blabla umgemodelt wurde, in einem wie
       verwunschenen Absteige-Hotel in der Nahalat Binyamin – und das
       ausgerechnet, so etwas lässt sich nur finden, nicht erfinden, vis-à-vis der
       örtlichen Zentrale der Zeugen Jehovas.
       
       Der Junge von einst, auf einem der maroden Balkonstühle balancierend,
       Duschhandtuch um die Hüften, da selbst nach Mitternacht die Temperatur kaum
       gesunken war, zerdrückt im Aschenbecher die Zigarette und grüßt mit vager
       Geste zum verdunkelten Haus gegenüber, und zwar keineswegs im Triumph, eher
       schon im ewigen Verwundertsein über das Verrinnen der Zeit und deren
       Mysterien. Die Absteige war ironischerweise nach dem eigenwilligen
       Theoretiker Max Nordau benannt, der Anfang des zwanzigsten Jahrhundert von
       der Metamorphose des sogenannten „Nervenjuden“ in einen „Muskeljuden“
       träumte.
       
       Das natürlich gerade da bezirzende Synthesen möglich sind – auch davon
       erzählt dann die Hommage mit dem bewusst mediterran-barocken Hybrid-Titel
       "Tel Aviv – Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt". Also
       schließlich auf doppelte Weise angekommen – in der seit je her erträumten
       Stadt im Süden und, was jedoch eher bedenklich wäre, auch im Selbstzitat,
       in öffentlicher Rede vorgetragenem Bezug auf das bisherige Werk?
       
       ## Innere und äußere Bedrohungen
       
       Doch gab und gibt es ausgerechnet in Tel Aviv jene nicht-strangulierende
       Sicherheit, jenen Schutz vor Willkür, den der Junge von einst in
       nordöstlicher Nicht-Heimat ebenso vermisst hatte wie bei der Lektüre von
       Ovids "Metamorphosen"? In jener 1909 aus Sanddünen entstandenen Stadt am
       Mittelmeer, an deren Strand in den siebziger Jahren mordende PLO-Kommandos
       gelandet waren und in deren Straßen, Cafés und Kindergärten in den
       Neunzigern sogleich nach dem Osloer Friedensprozess die Hamas eine Blutspur
       gezogen hatte, eine Stadt, in der quasi jeder einen der am [9][7. Oktober
       2023] im Süden des Landes Dahingeschlachteten oder Entführten kennt und in
       der bis zum heutigen Tag Drohnen der jemenitischen Huthi-Extremisten eine
       tödliche Bedrohung darstellen?
       
       Und, als wäre es nicht genug: Auch der inneren Gefahr, dem Versuch der in
       Teilen rechtsextremen Netanjahu-Regierung, Israel in eine illiberale
       Demokratie im Sinne Orbáns oder Trumps zu verwandeln, müssen die Tel
       Avivniks widerstehen – was sie im Übrigen auch tun, zu Hunderttausenden
       protestierend auf den Straßen der Stadt. Hatten, gehen wir ein letztes Mal
       so weit zurück, nicht bereits die biblischen Propheten von Jeremia und
       Jesaja bis Amos, Micha und Obadja just dieses Mindset verantwortlicher
       Erwachsener gehabt, also zuvorderst die vermeintlich „eigenen Leute“
       kritisierend, die autoritären Priester und Könige, das Unrecht intro muros?
       
       Waren sie darin nicht auch den Schriftstellern im gegenwärtigen Israel
       ähnlich, den älteren und Jüngeren, dazu den Dissidenten
       mittelosteuropäischer Herkunft, denen ich rund um die Welt und
       glücklicherweise begegnen durfte, über die Jahre und Jahrzehnte hinweg? All
       diese klugen Alten und die gewitzten Jüngeren – und was für ein Privileg,
       was für eine fortgesetzt wunderbare Herausforderung, in Erzählungen und
       Essays ein bisschen ihr Chronist sein zu dürfen!
       
       ## Nach dem 7. Oktober
       
       So harmonisch könnte es schließlich enden – und wäre doch falsch. Nicht
       zuletzt hier in Frankfurt, wo, wie auch anderswo weltweit, an der
       Universität ein aktivistisch judenfeindlicher Mob grölend in
       „Antizionismus“ macht – und dabei vom humanen Grundgedanken jenes Zionismus
       ebenso wenig weiß wie von den mannigfaltigen Ursachen der Tragödie der
       Palästinenser, für welche man doch angeblich „pro“ ist, im Israel
       eliminierenden „from the river to the sea“.
       
       Als ich letztes Jahr aus meinem Buch über die Nachwirkungen des 7. Oktober
       las, fand das statt in einem Campusgebäude am Theodor-Adorno-Platz. Jedoch
       in einem Vorlesungssaal, der zuvor öffentlich nicht genannt worden war, zu
       dem keine Plakate hinführten, vor dem – ebenfalls um Nicht-Erkennbarkeit
       bemüht – zwei Leute vom Sicherheitspersonal der Jüdischen Gemeinde standen,
       um denen, die sich zuvor online angemeldet hatten, nach Prüfung ihrer
       Personalien Einlass zu gewähren.
       
       Wie sie da alle fast in den Raum hineinschlichen, um low profile bemüht …
       Realität im Deutschland unserer Zeit, ebenso wie – an anderen, ebenfalls
       zahlreichen Orten – die zusätzliche Angst, nicht nur von Islamisten und
       deren sich als links verstehenden Kollaborateuren angegriffen zu werden,
       sondern von Nazis und deren Anhang. Dazu die schändlichen Metamorphosen des
       Diskurses: abgewiegelt und relativiert und zu „Einzelfällen“ erklärt wird
       vor allem das, was das angebliche „eigene Lager“ betrifft.
       
       Und so kann es geschehen, dass an ebendieser ehrwürdigen Frankfurter
       Universität ein Forschungszentrum zum Islamismus einfach abgewickelt wird –
       und die Kritik daran infam denunziert als „Kulturkampf-Rhetorik“.
       
       Gegenwärtige Verwandlungen, von denen gleichfalls zu reden wäre: Wann zum
       Beispiel wird ein Islamkritiker zum geifernden Rassisten – und ein
       Anti-Rassist zum Relativierer oder gar Rechtfertiger des Islamismus? Wann
       wird offener Dialog von offenem Hass gekapert – oder derart bigott
       kanalisiert, dass von der souveränen Grundintention nichts mehr übrig
       bleibt? Wann verwandelt sich gebotene Wachsamkeit in frei vagabundierendes
       Ressentiment – und legitime Besorgnis um Zivilität in schranzenhafte
       Zensurversuche?
       
       All das liegt in unseren Händen. Oder anders gesagt: im Zusammenspiel von
       Herz und Hirn. Folgt man, jenseits dieser Metaphern, den plausiblen
       Erkenntnissen der Neurowissenschaftler, wird zwar deutlich, dass auch hier
       Prägungen, Prädispositionen und dergleichen eine immens wichtige Rolle
       spielen, die unserem Selbstbild als vollkommen autonome Wesen so einige
       Dellen verabreicht.
       
       Aber auch das ist gut so: Zeigt es doch noch im Hinweis auf unsere
       Limitiertheit Wege ins Offene – [10][ohne die Pranken von Göttern und, so
       gut als möglich, ohne die Fallstricke von Eindeutigkeits-Ideologien.]
       
       ## Philemon und Baucis
       
       Bleibt jetzt am Schluss nur noch an die ohnehin größte und schönste aller
       Verwandlungen zu erinnern: an die Liebe und wie sie uns im Zusammenspiel
       mit einem geliebten Menschen partiell zu einem anderen macht. Ob später
       daraus, wie bei Philemon und Baucis, zwei ineinander verschlungene Bäume
       daraus werden, können wir nicht wissen, und eigentlich betrifft es uns auch
       nicht.
       
       Ohnehin kann davon, in Annäherungen und auf dankbar-vorsichtige Weise, um
       ja auch nur nichts zu beschreien, nur in den Büchern erzählt werden. Jedoch
       nicht in einer Rede, die hiermit nun endlich zu ihrem Ende kommt.
       
       Ich danke einer meiner geistigen Heimat, dem PEN-Zentrum deutschsprachiger
       Autoren im Ausland, für die Zuerkennung des Ovid-Preises, der mir sehr viel
       bedeutet. Ich danke dem Maler Hans-Hendrik Grimmling, der mir zum Preis
       eines seiner unverwechselbaren – auf originäre Weise inspirierenden und
       verstörenden – Bilder als Geschenk überreicht hat.
       
       Ich danke Frau Dr. Sylvia Asmus und dem Team des Exilarchivs der Deutschen
       Nationalbibliothek für ihr Engagement und die liebevolle Organisation der
       Veranstaltung. Und ich danke meinem Kollegenfreund Michael Kleeberg für die
       berührende Laudatio.
       
       23 Oct 2025
       
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